Die im Zyklus 1724/25
komponierten Kantaten
BWV 20
O Ewigkeit, du Donnerwort
1. Sonntag nach Trinitatis, 11. Juni 1724, Nikolaikirche
Liedautor: Johann Rist 1642
ERSTER TEIL
1. Oboe I–III, Streicher, Zugtrompete mit Sopran
O Ewigkeit, du Donnerwort,
O Schwert, das durch die Seele bohrt,
O Anfang sonder Ende!
O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,
Ich weiß vor großer Traurigkeit
Nicht, wo ich mich hinwende.
Mein ganz erschrocken Herz erbebt,
Dass mir die Zung am Gaumen klebt.
2. Rezitativ Tenor
Kein Unglück ist in aller Welt zu finden,
Das ewig dauernd sei:
Es muss doch endlich mit der Zeit
einmal verschwinden.
Ach! aber ach! die Pein der Ewigkeit
hat nur kein Ziel;
Sie treibet fort und fort ihr Marterspiel,
Ja, wie selbst Jesus spricht,
Aus ihr ist kein Erlösung nicht.
3. Arie Tenor Streicher
Ewigkeit, du machst mir bange,
Ewig, ewig ist zu lange!
Ach, hier gilt fürwahr kein Scherz.
Flammen, die auf ewig brennen,
Ist kein Feuer gleich zu nennen;
Es erschrickt und bebt mein Herz,
Wenn ich diese Pein bedenke
Und den Sinn zur Höllen lenke.
4. Rezitativ Bass
Gesetzt, es dau’rte der Verdammten Qual
So viele Jahr, als an der Zahl
Auf Erden Gras,
am Himmel Sterne wären;
Gesetzt, es sei die Pein
so weit hinausgestellt,
Als Menschen in der Welt
Von Anbeginn gewesen,
So wäre doch zuletzt
Derselben Ziel und Maß gesetzt:
Sie müßte doch einmal aufhören.
Nun aber, wenn du die Gefahr,
Verdammter! tausend Millionen Jahr
Mit allen Teufeln ausgestanden,
So ist doch nie
der Schluss vorhanden;
Die Zeit, so niemand zählen kann,
Fängt jeden Augenblick
Zu deiner Seelen ewgem Ungelück
Sich stets von neuem an.
5. Arie Bass Oboe I–III
Gott ist gerecht in seinen Werken:
Auf kurze Sünden dieser Welt
Hat er so lange Pein bestellt;
Ach wollte doch
die Welt dies merken!
Kurz ist die Zeit,
der Tod geschwind,
Bedenke dies,
o Menschenkind!
6. Arie Alt Streicher
O Mensch, errette deine Seele,
Entfliehe Satans Sklaverei
Und mache dich von Sünden frei,
Damit in jener Schwefelhöhle
Der Tod, so die Verdammten plagt,
Nicht deine Seele ewig nagt.
O Mensch, errette deine Seele!
7. Choral
Solang ein Gott im Himmel lebt
Und über alle Wolken schwebt,
Wird solche Marter währen:
Es wird sie plagen Kält und Hitz,
Angst, Hunger, Schrecken,
Feu’r und Blitz
Und sie doch nicht verzehren.
Denn wird sich enden diese Pein,
Wenn Gott nicht mehr
wird ewig sein.
ZWEITER TEIL
8. Arie Bass Trompete,
Oboe I–III mit Streichern
Wacht auf, wacht auf, verlorne Schafe,
Ermuntert euch vom Sündenschlafe
Und bessert euer Leben bald!
Wacht auf, eh die Posaune schallt,
Die euch mit Schrecken aus der Gruft
Zum Richter aller Welt
vor das Gerichte ruft!
9. Rezitativ Alt
Verlass, o Mensch,
die Wollust dieser Welt,
Pracht, Hoffart, Reichtum,
Ehr und Geld;
Bedenke doch
In dieser Zeit annoch,
Da dir der Baum des Lebens grünet,
Was dir zu deinem Frieden dienet!
Vielleicht ist dies der letzte Tag,
Kein Mensch weiß,
wenn er sterben mag.
Wie leicht, wie bald
Ist mancher tot und kalt!
Man kann noch diese Nacht
Den Sarg vor deine Türe bringen.
Drum sei vor allen Dingen
Auf deiner Seelen Heil bedacht!
10. Arie Duett Alt/Tenor Continuo
O Menschenkind,
Hör auf geschwind,
Die Sünd und Welt zu lieben,
Dass nicht die Pein,
Wo Heulen und Zähnklappen sein,
Dich ewig mag betrüben!
Ach spiegle dich am reichen Mann,
Der in der Qual
Auch nicht einmal
Ein Tröpflein Wasser haben kann!
11. Choral
O Ewigkeit, du Donnerwort,
O Schwert, das durch die Seele bohrt,
O Anfang sonder Ende!
O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,
Ich weiß vor großer Traurigkeit
Nicht, wo ich mich hinwende.
Nimm du mich, wenn es dir gefällt,
Herr Jesu, in dein Freudenzelt!
Ein Überaschungseffekt war das sicherlich, wie im Morgengottesdienst der Leipziger Nikolaikirche an jenem Juni-Sonntag »die Music« einsetzte. Zu Beginn der Kantate war eine Ouverture zu vernehmen, die Eröffnungsmusik für herrschaftliche Anlässe. Es war aber kein Christusfest zu feiern, auch kein 1. Advent (wozu im Vorjahr die Ouverture von BWV 61 erklang), sondern gewöhnlicher erster Sonntag nach Trinitatis. Mit der Ouverture signalisierte Bach zunächst formell: Heute beginnt mein neues Leipziger Kantatenjahr. Inhaltlich aber erschloss sich im Verlauf des Satzes ein tiefer Sinn der Ouverturenform. Der typische scharf punktierte Rhythmus der langsamen Rahmenteile, welcher sonst die Ehrfurcht gegenüber der Majestät des Herrschers zur Geltung bringt, markiert hier das Erschrecken vor der für alle Menschen bedrohlichen Ewigkeit Gottes. Anders als bei einer erhebenden Festouverture wird hier Furcht hervorgerufen. Und die übliche Fuge im schnellen Mittelteil gerät zum Symbol für das Davonfliehenwollen angesichts der ewigen Pein. Der nicht eindeutig auflösbare, verminderte Septakkord am Fugenende zeigt die Orientierungslosigkeit des Sünders. Mein ganz erschrocken Herz erbebt bringt diese Musik zum Ausdruck. Als Ouverture verwehrt sie den üblichen Huldigungsjubel, zeigt vielmehr die Kehrseite aller menschlichen Begegnung mit absoluter Macht auf.
An diesem Sonntag ist bitterer Ernst angesagt mit dem Gleichnis vom unüberwindbaren Graben zwischen dem in der Hölle schmorenden Reichen und dem in Abrahams Schoß ruhenden armen Lazarus als Evangelium (Lukas 16,19 - 31). »Ernstliche Betrachtung der unendlichen Ewigkeit« hat J. Rist, norddeutscher Jahrgangsgenosse von Paul Gerhardt, sein mit 16 Strophen publiziertes Lied überschrieben. In einer meist 12-strophigen Fassung wird es in Gesangbüchern häufig diesem Sonntag zugewiesen. Schonungslos reflektiert es die Unabänderlichkeit der ewigen Verdammnis mit der Intention, die Menschen beizeiten zur Umkehr zu bewegen. Der Kantatentext bringt die Strophen 1, 8 und 12 wörtlich, folgt ansonsten ziemlich exakt den einzelnen Strophen, übernimmt zahlreiche Formulierungen daraus und spinnt sie verschärfend weiter. Jeder Liedstrophe entspricht ein Kantatensatz, nur die »Wenn/Nun aber«-Argumentation...