1. TEIL: HERMENEUTIKEN DER OSTERTEXTE DER EVANGELIEN 1 HERMANN SAMUEL REIMARUS (1694–1768) – ANFRAGEN DER »GESUNDEN VERNUNFT« AN DIE BERICHTE DER AUFERSTEHUNG
»Ist dieses wahr, so muß jenes falsch seyn«73
Eine bis in die heutige Zeit wirkmächtige Weichenstellung in der Frage nach der Auferstehung Jesu zeigt sich bei Reimarus. Er richtet seinen Fokus ganz und gar auf die »Retrospektive«. Die Frage danach, ob es historisch so gewesen sein kann, wird für ihn zum entscheidenden Wahrheitskriterium. Im sog. »Fragment über die Auferstehungsgeschichte« legt Reimarus die Widersprüche der vier Evangelien im Bezug auf die Auferstehungserzählungen dar, interpretiert sie als unterschiedliche »Zeugenaussagen« und sieht dadurch das Vertrauen in die biblischen Schriften erschüttert. Er erweist sich damit als Vertreter einer »Hermeneutik des Verdachts« in Bezug auf die Historizität der Erzählungen. Der Terminus »Hermeneutik des Verdachts« ist geprägt durch die feministische Bibellektüre von Elisabeth Schüssler-Fiorenza.74 Später wird der Terminus von Lüdemann gebraucht, der damit seine eigene – von der Psychoanalyse inspirierte – Hermeneutik charakterisiert, die das Ziel hat, die Texte »gegen den Strich« zu lesen.75 Für Stegemann ist die »Hermeneutik des Verdachts« dadurch charakterisiert, dass sie mit der Unterscheidung zwischen der »Intention« der Erzähler und dem, was aus den Evangelien gegen ihre Intention an Wissen zu erlangen ist, arbeitet.76 Von Anfang hatte das Interesse am »historischen Jesus« mit der Frage, wie es »wirklich« war, eine Stoßrichtung gegen die kirchliche Deutung und war von der Vorstellung geleitet, dass sich der »wirkliche« Jesus und die »wahre Geschichte« hinter den Texten befinden.77 In diesem Sinne kann der Begriff auch auf Reimarus’ Lesart der biblischen Texte angewandt werden.
Der Schlusssatz des Fragments lässt sich als Motto der aufklärerischen Bemühungen Reimarus’ verstehen: »Es ist Thorheit, über den Unglauben der Menschen [zu] klagen und seufzen, wenn man ihnen die Ueberführung nicht geben kann, welche die Sache selbst, nach gesunder Vernunft, nothwendig erheischt.«78 Die erschütternde Wirkung seiner Thesen war besonders stark, da Reimarus sich als profunder Kenner der Heiligen Schrift zeigt und seine Thesen dem genauen Studium der Evangelien, insbesondere des Matthäusevangeliums, entspringen. Zusätzlich dürfte die Bekanntgabe der Autorschaft für Erstaunen und Bestürzung unter den Lesern gesorgt haben, nachdem das Geheimnis um den »Wolffenbüttelschen Ungenannten« gelüftet worden war und der im öffentlichen Leben angesehene Hamburger Gelehrte mit den brisanten Thesen in Verbindung gebracht wurde. Das Einschlagende an den Thesen war also, dass sie nicht mehr wie in der Antike von Gegnern des Christentums wie z. B. Celsus79 geäußert wurden, sondern von einem in der Mitte der christlichen Gesellschaft agierenden Gelehrten, auch wenn dieser Tatbestand sich erst im Nachhinein aufklärte.
Man muss nicht die von Reimarus gezogenen radikalen Schlussfolgerungen teilen, die im siebten Fragment »Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger« in die Betrugshypothese vom Leichendiebstahl der Jünger münden. Dennoch sind die Anfragen, die sich aus seinen genauen Textbeobachtungen ergeben, ernst zu nehmen und werden bis heute in Variationen immer wieder vorgebracht.80 Das 1778 veröffentlichte siebte Fragment beurteilt Albert Schweitzer noch über 100 Jahre später als eines der »größten Ereignisse in der Geschichte des kritischen Geistes«, ja als »Meisterwerk der Weltliteratur«.81
1.1 DAS WERK IM ZEITGESCHICHTLICHEN KONTEXT82
Als Reimarus nach über 40-jähriger Lehrtätigkeit am 1. März 1768 starb, galt er als angesehener Bürger und Gelehrter seiner Heimatstadt. Erst nach seinem Tod, als auch die bisher in der Schublade gehaltene Bibelkritik seiner »Apologie« veröffentlicht wurde, brach der Skandal los. Reimarus hatte an dieser Schrift mehr als 30 Jahre gearbeitet und schätzte sie selbst als so brisant ein, dass er sie nicht in den Druck geben wollte, um keinen Anlass zu Unruhen zu geben. So hinterließ er die »Apologie« handschriftlich – nur für den »Gebrauch verständiger Freunde«, »im Verborgenen« bestimmt. »[B]evor sich die Zeiten mehr aufklären«83 sollte die Schrift, die den deistischen Standpunkt einer »natürlichen Religion«, die allen Menschen gemeinsam ist, gegen die »Zumutungen des biblischen Offenbarungs- und Wunderglaubens« in Schutz nahm, nicht in öffentlichen Kreisen verbreitet werden.
Fest steht: Gemeinsam mit dem siebenten und letzten Fragment »Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger«84 (1778) hatten die Schriften von Reimarus Fernwirkungen auf die kritische Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts, insbesondere die »Leben-Jesu-Forschung«.85 Für Albert Schweitzer steht Reimarus am Anfang der »Leben-Jesu-Forschung«, weil niemand vor ihm versucht habe, das Leben Jesu historisch zu erfassen. Ein Theologe wie Luther hatte nicht einmal das Bedürfnis empfunden, in der Reihenfolge der berichteten Ereignisse klar zu sehen.86 Reventlow urteilt über ihren Verfasser: »Für die Einzelbeobachtungen konnte Reimarus vielfach an Vorgänger anknüpfen; neu war die Radikalität, mit der er die Konsequenzen seiner Kritik bis zu einer völligen Ablehnung des auf die Bibel gegründeten christlichen Offenbarungsglaubens vorantrieb. Ein Atheist war er allerdings nicht, sondern glaubte an einen allerweisesten, allergütigsten Gott, den die Vernunft in der Schöpfung erkennt und dem man in angemessener Weise allein mit moralischem Handeln dient.«87 Die Unterscheidung zwischen den Absichten und Worten Jesu selbst (dem, was man später den »historischen Jesus« nannte) und dem theologischen Denkgebäude seiner Jünger ist die bekannteste These des Reimarus, die damals für den deutschen Raum neuartig war und eine bleibende Einsicht darstellt.88 Zudem gewann er Einsichten in die zahlreichen inhaltlichen Widersprüche der Bibel. Da Reimarus jedoch das Problem der literarischen Abhängigkeit der Evangelien untereinander noch fremd war,89 wird seine Lektüre auch kritisiert als »verbissen wörtliche Interpretation noch der poetischsten Bibelstellen«90.
1.2 HISTORISCHE REKONSTRUKTION – DIE AUFERSTEHUNG ALS ERFINDUNG DER JÜNGER
1.2.1 Zweifel an der Historizität in der Lehre von den zwei Systemen
In den beiden Fragmenten »Über die Auferstehung« und »Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger« bricht Reimarus radikal mit dem traditionellen christlichen Verständnis der Erzählungen vom leeren Grab und von der Auferstehung. Zugespitzt ist seine Position: Das Grab war leer, weil die Jünger den Leichnam Jesu gestohlen haben. Die Position, in der Auferstehung Jesu eine Erfindung der Jünger zu sehen, ist an sich nicht neu – sondern so alt wie das Evangelium. Schon 1725 wurde die These als Lösung für die neutestamentlichen Aporien von dem Engländer Thomas Woolston aufgrund von Beobachtungen in Mt 28,13 vertreten.91 Neu ist die textorientierte Argumentationsweise92 und die Methode der Beweisführung: Erstmals ermittelt ein Gelehrter in großer Ausführlichkeit aus den Widersprüchen zwischen den Berichten der Evangelien Argumente gegen die Auferstehung Jesu.
Reimarus’ Vorgehensweise beruht auf profunder Textbeobachtung, insbesondere dem Aufspüren von Widersprüchen. Diese gelten ihm als Bestätigung seines »Anfangsverdachts«, der sich in seiner »Lehre von den zwei Systemen« verdichtet. Was für die spätere Formgeschichte zur Grundannahme wird – dass die Erzählungen durch u...