1 ERGEBNISSKIZZE
Die von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (kurz »Nordkirche« genannt) in Verbindung mit anderen Religionsgemeinschaften auf Anregung des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg erwogene Weiterentwicklung des bisherigen »Religionsunterrichts für alle in evangelischer Verantwortung« (genannt »RUfa 1.0«)1 macht aufgrund von Art. 7 Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes (= GG) konzeptionelle und inhaltliche Veränderungen erforderlich.
Der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen zeichnet sich durch vier vom Grundgesetz vorgegebene, eng miteinander zusammenhängende, tragende Prinzipien aus:
a) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.
b) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen ordentliches schulisches Lehrfach.
c) Er wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.
d) Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.
Diese Prinzipien bilden das Rückgrat auch für dieses theologische Gutachten – allerdings in einer anderen, sich von der Sache her nahelegenden Anordnung. Sie sind erstens die normative rechtliche Vorgabe für den Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen unseres Staates, sie sind zweitens Gegenstand der theologischen Reflexion im Blick auf ihre Sachgemäßheit und sie sind drittens daraufhin Maßstab für die Weiterentwicklung (auch) des RUfa 1.0 in Hamburg.
Zu dieser notwendigen Weiterentwicklung gehört vor allem, dass der Religionsunterricht (für alle) nicht mehr nur »in evangelischer Verantwortung«2 erteilt wird, auch nicht in gemeinsamer Verantwortung, sondern in der jeweiligen Verantwortung der beteiligten Religionsgemeinschaften.
Dazu gehört ferner, dass der Religionsunterricht erkennbar mit den jeweiligen inhaltlichen Grundsätzen der beteiligten Religionsgemeinschaften übereinstimmt.
Schließlich wird sich auch zeigen, dass eine stärkere und klarer strukturierte Mitwirkung der Erziehungsberechtigten bzw. Schüler sowie der Lehrkräfte für diesen weiterentwickelten Religionsunterricht erforderlich ist, um den Vorgaben der Verfassung gerecht zu werden.
Zukunftsweisendes zu diesen notwendigen Veränderungen findet sich zumindest ansatzweise in den Didaktischen Grundsätzen des Religionsunterrichts für alle (= DGRUfa) vom 20. 05. 20153. Diese enthalten wichtige Veränderungsimpulse in Form von methodischen Ansatzpunkten für die Ermittlung möglicher Inhalte, sie bedürfen jedoch einer noch konkreteren und genaueren Ausarbeitung, um den Erfordernissen gerecht zu werden, die sich aus theologischen (und verfassungsrechtlichen) Gründen für den Religionsunterricht gemäß Art. 7 Abs. 1–3 GG ergeben.
Um dieses Ziel erreichen zu können, halte ich die grundlegende Unterscheidung von zwei Ebenen in dem Konzept eines »pluralismus- und kooperationsoffenen Religionsunterrichts«4 für erforderlich. Diese Ebenenunterscheidung bezieht sich einerseits auf die inhaltliche Ausgestaltung und Erteilung des Religionsunterrichts, die in der Verantwortung der einzelnen Religionsgemeinschaften liegen muss, und sie bezieht sich andererseits auf die konzeptionellorganisatorische Planung des Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen Hamburgs5 in Form von prinzipiell gleichberechtigter interkonfessioneller und interreligiöser Kooperation zwischen den beteiligten Religionsgemeinschaften.6 Martin Heckel bringt die Konsequenz aus dieser Unterscheidung auf die treffende Formel: »Fusion nein, Kooperation ja!«.7 Das gilt bei ihm für die interkonfessionelle Kooperation insbesondere zwischen der katholischen und evangelischen Kirche im Religionsunterricht.8 Eine der Folgerungen, die sich daraus in multireligiös und multiweltanschaulich geprägten gesellschaftlichen Situationen ergibt, lautet: Das kann und sollte beim Vorliegen der erforderlichen rechtlichen Bedingungen auch ein Leitprinzip für die interreligiöse Kooperation beim Religionsunterricht sein. Durch sie ist die Erteilung von Religionsunterricht in gemischtkonfessionellen Klassenverbänden und Lerngruppen nicht ausgeschlossen. Ob diese zustande kommen, hängt aber letztlich weder von der Entscheidung der staatlichen Behörden noch ausschließlich von der der Religionsgemeinschaften ab, sondern letztlich von der Entscheidung der Erziehungsberechtigten bzw. Schüler.
Es ist jedoch die Pflicht des Staates, dafür zu sorgen, dass diese Wahl getroffen werden kann. Beim Vorliegen der erforderlichen Bedingungen kann er sich deshalb von dem simultanen Angebot des Religionsunterrichts der verschiedenen Religionsgemeinschaften nicht durch einen »Religionsunterricht für alle« – in wessen Trägerschaft auch immer – dispensieren. Religionsunterricht in gemischtkonfessionellen Klassenverbänden und Lerngruppen kann nicht der Ausgangspunkt oder die Vorgabe für die Erziehungsberechtigten bzw. Schüler sein, sondern allenfalls das mögliche Ergebnis von deren Entscheidung.
Dabei ist dem für den Religionsunterricht grundlegenden Text von Art. 7 Abs. 2 und 3 GG zu entnehmen, dass die inhaltliche Übereinstimmung des Religionsunterrichts mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften eine notwendige Bedingung dafür ist, dass Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach von Seiten des Staates anerkannt, ausgestattet, organisiert und beaufsichtigt wird. Aus der darauf bezogenen (bislang einzigen) Bundesverfassungsgerichtsentscheidung (= BVerfGE) von 19879 sowie aus der einschlägigen juristischen Fachliteratur10 geht ferner eindeutig hervor, dass diese Grundsätze sich auf Glaubensüberzeugungen beziehen müssen, die als wahre und deshalb gültige Aussagen in den jeweiligen Religionsgemeinschaften in Geltung stehen. Sie können nicht durch andere (seien es ethische, geschichtliche, psychologische, soziologische, pädagogische etc.) Aussagen ersetzt werden, auch nicht durch Meta-Aussagen über den Status religiöser Glaubensüberzeugungen oder durch methodologische Aussagen über die Durchführung des Religionsunterrichts.11 In diesem Sinne ist der mit dem GG übereinstimmende Religionsunterricht insofern notwendigerweise und unverzichtbar konfessioneller bzw. konfessorischer Religionsunterricht, als er – in evangelischer Terminologie formuliert – inhaltlich mit dem Bekenntnis (»confessio«) einer Religionsgemeinschaft übereinstimmt.
In dem durch ordnungsgemäß beauftragte Lehrkräfte der jeweiligen Religionsgemeinschaften erteilten Religionsunterricht geschieht die Vermittlung dieser Grundsätze mit Wahrheits- und Geltungsanspruch, also ihrer Bekenntnisse. Darin sind die einzelnen Religionsgemeinschaften untereinander unvertretbar, sofern und solange zwischen ihnen nicht volle (Kirchen- bzw. Religions-)Gemeinschaft besteht, die die wechselseitige theoretische und praktische Anerkennung der grundlegenden Überzeugungen und Ordnungen der betreffenden Konfessionen oder Religionen zum Inhalt hat.12
Welche Form der Kooperation beim aktuellen Stand der innerreligiösen, interreligiösen und interkonfessionellen Verhältnisse möglich oder gegeben ist, ist eine der Fragen, von denen die Zukunft eines pluralismus- und kooperationsoffenen Religionsunterrichts in je eigener Verantwortung der Religionsgemeinschaften bzw. Konfessionen mitbestimmt wird.
2 DER AUFTRAG FÜR DAS THEOLOGISCHE GUTACHTEN
Der Auftrag, der dem Unterzeichner am 3. August 2018 von der »Nordkirche« erteilt wurde, hat folgenden Wortlaut:13
»Der Auftragnehmer verpflichtet sich zur Erstellung eines systematisch-theologischen Grundsatzgutachtens, das die theologische Verträglichkeit eines kooperativen Religionsunterrichts mit den Bestimmungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zum Religionsunterricht prüfen und dokumentieren soll. Das Gutachten soll insbesondere die im religionsverfassungsrechtlichen Orientierungsgutachten von Prof. Dr. Hinnerk Wißmann vom 20. Juli 2017 aufgeworfenen theologischen Fragestellungen berücksichtigen.«
Diesem Auftrag zufolge ist es die Aufgabe dieses systematisch-theologischen Grundsatzgutachtens, vor allem folgende Fragen zu prüfen und so weit wie möglich zu beantworten:
– Wie lauten die Bestimmungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zum Religionsunterricht? Was ist dazu dem Art. 7 Abs. 2 und 3 GG und der Entscheidung des BVerfG zu entnehmen? Welche Aussagen machen sie? Welchen Geltungsanspruch haben diese Texte bzw. Entscheidungen? Welchen Auslegungsspielraum eröffnen sie? Wie sind...