1.Einleitung
»Wenn hier mit der neueren Markusforschung davon ausgegangen wird und im Folgenden auch gezeigt werden soll, daß der Evangelist Markus sich als ein exzellenter Erzähler und Theologe erweist, dann sind die heute verfügbaren archäologischen, zeitgeschichtlichen und lokalgeschichtlichen Forschungsergebnisse keineswegs überflüssig geworden. Im Gegenteil: Im Spiegel dieser wissenschaftlichen Forschungsergebnisse kann sich zeigen, ob Markus selbst bzw. die Tradenten seiner Überlieferungen über gute oder hinreichende Ortskenntnisse verfügten, ob der Evangelist solche bei seinen Adressaten voraussetzte und ob er diese gegebenenfalls bewußt aufgriff, um seine inhaltliche Botschaft zu profilieren.«1
Die Orte des Wirkens Jesu faszinieren und interessieren die Christen seit jeher. Mit seinem Herrschaftsantritt ab 324 n. Chr. etablierte Konstantin der Große einen Erinnerungskult des Lebens Jesu in Jerusalem.2 Nach der muslimischen Machtbeanspruchung über die Gebiete des damaligen Palästinas im 7. Jhdt. kam es ab dem 11. Jhdt. zu den ersten Eroberungszügen, um »die heiligsten Stätten der Welt, de[n] Inbegriff aller Reliquien, die Orte, an denen Christus noch gleichsam lebendig anwesend war, […] den Händen der Ungläubigen […zu] entreißen.«3 Die Kreuzfahrer versprachen sich dadurch die Erlassung aller Sünden, angeheizt durch Päpste und Kaiser, die vor allem politische Interessen verfolgten. Trotz des erneuten Verlustes Jerusalems und des gesamten Nahen Ostens an die sog. Ungläubigen blieben große Pilgerströmungen an die heiligen Stätten nicht aus. Bis heute ist die Anziehung Israels für Christen ungebrochen.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geographie des Markusevangeliums und die Verortung einzelner Perikopen scheint so alt zu sein wie die historisch-kritische Exegese selbst.4 Insbesondere in Bezug auf die geographischen Angaben im Markusevangelium lassen sich mit Hilfe der Literarkritik Bearbeitungsstufen nachweisen, die Zeugen eines mangelnden Geographiewissens beim Verfasser selbst, aber auch bei den Redaktoren sein können. Diese Unsicherheit nährt Zweifel an der Authentizität des geschilderten Handlungsablaufs, in dessen Folge der Evangelist zum bloßen Sammler mündlicher Überlieferungen ohne eigene theologische Ausrichtung in seiner Erzählabfolge ausgerufen wird.5 Dennoch ist die Geographie aufgrund der quantitativen Verteilung der Belegstellen das derzeit am häufigsten gewählte Gliederungsprinzip, das dem Markusevangelium zu Grunde gelegt wird.6 Darin spiegelt sich die Anerkennung einer theologischen Leistung des Evangelisten wider, dessen Text nunmehr als Gesamterzählung wertgeschätzt wird.
Auch wenn Scholtissek den oben angestellten Überlegungen nicht weiter nachgeht, hat er auf wichtige Fragestellungen aufmerksam gemacht. Wer eine Untersuchung über die geographischen Angaben des Markusevangeliums schreiben möchte, sieht sich mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, die teils der Tatsache geschuldet sind, nur marginale Informationen über den Verfasser der Schrift, eine Reihe von möglichen Abfassungsorten sowie divergierende Ansichten über die Adressaten zu besitzen, teils aber auch aus der veränderten Sicht auf die Welt und ihre Erfassung heute erwachsen. Wer glaubt in einem (antiken) Erzähltext eine objektive Abbildung der Welt wiederzufinden, muss enttäuscht werden, da Objektivität niemals die Absicht eines Autors, vor allem nicht die eines Autors eines theologischen Erzähltextes sein kann. Dennoch ist die Frage nach den Ortskenntnissen des Verfassers und seiner Rezipienten berechtigt, darf aber nicht zur Plausibilitätsprüfung einer historischen Leben-Jesu-Geschichte herangezogen werden.
In dieser Arbeit werden die Ortskenntnisse des Autors einer kritischen Prüfung unterzogen. Die in der Forschung diskutierten Problemstellen werden vorgestellt und die daraus resultierenden Erwägungen benannt. Dabei werden die Schwierigkeiten bei Kartierungsversuchen einer Route Jesu aufgedeckt. Sowohl textkritische Überlegungen als auch historisch-archäologische Erkenntnisse dienen der Positionierung der in den Perikopen genannten Orte. Mit Hilfe der Kategorisierung der Orte nach politischer Zugehörigkeit geschieht eine erste Annäherung an den Lösungsvorschlag, der weniger eine historische Herangehensweise zu Grunde legt, als vielmehr einer textbasierten Konstruktion einer markinischen Karte entspringt. Diese Karte zu erarbeiten und zu verifizieren ist Ziel dieser Arbeit.
Die für diese Aufgabe vorzustellenden theoretischen Grundlagen können nur unter der Voraussetzung gelten, den Text des Markusevangeliums als einen Erzähltext, als von einem Autor geschaffene Literatur anzusehen, die demnach auch mit Mitteln der Literaturwissenschaft zu behandeln ist.7 Hieran zeigt sich bereits, dass diese Arbeit nicht nach einem historischen Kern im Markusevangelium sucht, sondern nach der vom Autor intendierten Botschaft, die er mit der Geographie vermittelt.8
An einem Anwendungsbeispiel, das die Perikopen 7,1–8,13 umfasst, werden sowohl die theoretischen Grundlagen getestet, als auch die entwickelte These untermauert. Eine Auseinandersetzung mit den historischen Gegebenheiten wird vor die Untersuchung der Texte gestellt, die vor allem die Leserlenkung durch den Autor im Blick hat. Die Darlegung des Zusammenhangs zwischen Geographie und theologischer Aussage wird in fünf Einzelexegesen durchgeführt und das sie verbindende Motiv herausgearbeitet. Daran anschließend wird die These auf das gesamte Evangelium ausgeweitet und zuletzt werden in zwei Kapiteln kompositorische Auffälligkeiten im Horizont der vorgestellten Systematisierung besprochen.
Zuletzt müssen noch einige Vorbemerkungen gemacht werden. In der vorliegenden Arbeit wird mehrfach ein Gebiet, ein Ort, eine Perikope oder auch eine Person als heidnisch bzw. als Heide bezeichnet. Die Verwendung dieser Begriffe soll keinesfalls despektierlich gemeint sein, bezieht sich hier auf den historischen Kontext des 1. Jhdt. n. Chr. und soll eine Grundunterscheidung zwischen den Angehörigen der jüdischen Religion zur Zeit Jesu und allen anderen Glaubensrichtungen der damaligen Zeit wiedergeben. Damit setze ich voraus, dass der Begriff Heide nicht suggeriert, einen »Angehörigen einer weitgehend einheitlichen Form von Religiosität« zu definieren, da »im Gegenteil das ethnische, kulturelle und religiöse Spektrum, das sich hinter dem Begriff ›Heiden‹ verbirgt, sehr breit, vielfältig und dynamisch«9 war. Die Verwendung von »pagan«, wie Zangenberg es für seine Untersuchungen10 vornimmt, scheint keine echte Alternative zu sein, da es bei ihm einiger Erklärungen dazu bedarf.
Auch die Begriffe jüdisch bzw. Jude bedürfen daher einer kurzen Erläuterung. Zu keiner Zeit in der Geschichte gab es eine homogene Gruppe von Menschen, die als jüdisch bzw. Juden bezeichnet werden konnte. Die religiöse Vielfalt der sich auf den Exodus berufenden Gemeinschaft soll nicht unbeachtet erscheinen. Die Begriffspaare dienen nur der Unterscheidung einer durch Markus in seinem Evangelium geschaffenen und dargestellten Polarität, wenngleich er ebenfalls unterschiedliche jüdische Gruppierungen kennt und auch benennt. In Kapitel 3.7 wird die Verwendung der Begriffe Juden und Heiden im Markusevangelium explizit untersucht werden.
2.Probleme bei der Untersuchung des geographischen Konzepts des Markusevangeliums
2.1Städte, Dörfer, Felder, Berge
Setzt man den Fokus beim Lesen des Markusevangeliums auf seine Schauplätze, so fällt durchaus eine Fülle von Angaben auf. Es finden sich viele Perikopen, die durch eine kurze Bemerkung zur Umgebung eingeleitet werden. Dabei gilt jedoch zu beachten, dass die Angaben recht unterschiedlich in ihrer Kartierbarkeit sind und das volle Spektrum der Topographie abdecken: Gelände (Relief), die Gewässer, Bodennutzung bzw. Bewuchs und die Bauwerke. So lassen sich als Schauplätze Berge (3,13–19; 6,45–52; 9,2–10; Fuß des Berges 9,11–13), Gewässer (Jordan: 1,4–11; See: 1,16–20; 2,13–17; 7,31–37 uvm.), ein Feld (2,23–28), ein Feigenbaum (11,20–25) und Häuser, Synagogen, Zollstationen (u. a. 2,1–12; 3,1–6) finden. Die großen Orte am See Genezareth, die uns auch aus anderen Quellen bekannt sind, wie Scythopolis, Gabei, Sepphoris oder Tiberias, werden im Markusevangelium nicht genannt.1
Wer versuchen möchte, diese Schauplätze auf einer Karte einzuzeichnen, steht vor dem Problem, die Lage eines ganz bestimmten Feldes, eines bestimmten Berges oder die Position auf dem See Genezareth festlegen zu müssen. Da der Autor aber auch auf jegliche Nennung von Eigennamen für Berge oder Flurstücke, sofern diese existiert haben, verzichtet, sollen diese Bereiche zunächst ausgeklammert werden und die Ortsnamen Hauptbestandteil der Untersuchung werden. In einem späteren Schritt werden die übrigen Perikopen wieder Eingang in die Untersuchung finden.
Als spezifische Gebiete mit eigenem Namen werden Judäa (3,7; 10,1; 13,14), Galiläa (1,9.14.39; 3,7; 6,21; 9,30; 14,28; 15,41; 16,7), Idumäa (3,8) und die Dekapolis (5,20; 7,31) genannt. Etwas unspezifischer finden sich auch Gebiete im Text, die mit Hilfe einer Stadt lokalisiert werden können, wie die Gebiete von Tyrus und Sidon (3,8; 7,24.31) und die Gegend bei Cäsarea Philippi (8,27). Zudem finden sich noch Gebiete, die zu allgemein oder zu groß erscheinen, als dass sie leicht zu lokalisieren sind, wie »das ganze jüdische Land« (1,5) oder auch die Gebiete »jenseits des Jordans« (3,8; 10,1).
Markus kennt diverse Ortsnamen. Insgesamt nennt er dreizehn verschiedene Orte, welche von der Provinz Syrien bis nach Judäa reichen: Kapernaum (1,21; 2,1; 9,33), Gerasa (5,1), Nazareth (1,9.24; 10,47; 14,67; 16,6), Dalmanutha (8,10), Betsaida (6,45; 8,22), Cäsarea Philippi (8,27), Gennesaret (6,53), Jerusalem (1,5; 3,8.22; 7,1; 10,32.33; 11,1.11.15.27; 15,41), Betanien (11,1.12; 14,3), Betfage (11,1), Jericho (10,46), Tyrus und Sidon (3,8; 7,24.31).
Eigennamen für Flüsse, Berge und topographisch interessante Orte kennt Markus nur wenige. So nennt er den Jordan (1,5.9; 3,8; 10,1) und den See Genezareth (1,16; 7,312), auch den Ölberg (11,1; 13,3; 14,26), Golgatha (15,22) und den Garten Gethsemane (14,32). Aus Jerusalem weiß er von dem Palast des Hohenpriesters (14,54) und des Prätoriums (15,16) zu berichten.
2.2Die Geographiekenntnisse des Autors
In einem Überblick über die Forschungsgeschichte findet sich in der Regel eine Auflistung von unterschiedlichen Ergebnissen zu ...