1 Theologische Grundlegungen
»Muss denn die Kirche dazu wirklich etwas sagen?«, höre ich die einen kritisch fragen. »Das geht sie doch gar nichts an; sie muss sich nicht in alles einmischen (…)«, ist ihre Meinung. »Müsste die Kirche dazu nicht ihre Stimme erheben und sich einmischen?«, äußern sich andere mahnend zu dem gleichen Sachverhalt. »Wenn die Kirche nicht dazu etwas sagt, wer soll es dann tun?«, ist ihre Erwartung. Genau in diesem Spannungsverhältnis von »sich einmischen müssen« und »nichts sagen sollen« erlebe ich viele Situationen im ganz normalen Alltag.
Wenn es dabei um das Verhältnis zwischen Kirche und Staat und wenn es um die Frage nach dem Christsein in unserer pluralistischen Gesellschaft geht, dann wird schnell deutlich, dass wir bei grundlegenden Themen angekommen sind. Spätestens dann müssen wir uns als Christen und als Kirche fragen, worauf wir bei unseren Entscheidungen zurückgreifen und was uns in unserem Christ-Sein und Kirche-Sein führt und leitet. Vor allem dann, wenn unser ganz persönliches Glaubenszeugnis gefragt ist, wird deutlich, dass wir uns auf unsere geistlichen Grundlagen besinnen müssen, um authentisch und als Christen erkennbar zu sein. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns als Erstes dieses geistliche Fundament immer wieder neu bewusst machen, bevor wir fragen, was sich daraus ableitet und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
1.1 Altes Testament
»Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.« (Spr 14,34)
Es gehört konstitutiv zur Geschichte des Volkes Israel, sich mit dem Glauben an Gott einerseits und mit der Umwelt andererseits auseinanderzusetzen. Gleich, ob in der Zeit des Aufenthaltes in Ägypten (15. bis 12. Jahrhundert v. Chr.), in der sich anschließenden Phase der sogenannten Landnahme, in der die Stämme des Volkes Israel das kanaanäische Kulturland besiedelten und in Besitz nahmen (um 1100 v. Chr.), oder in den Jahrzehnten des Exils in Babylon (ab 596 v. Chr. und 586 v. Chr. bis 538 v. Chr.) – immer trafen die Israeliten auf andere Kulturen, andere Religionen, andere gesellschaftliche Gegebenheiten, Regeln, Ordnungen und Wertevorstellungen. Umso wichtiger und entscheidender waren für sie ein Glauben an einen alleinigen Gott sowie eigene Ordnungen und Gesetze, die diesem Glauben Rechnung trugen und die ihnen Sinn und Orientierung gaben.
Im Verlauf der Geschichte Israels lebte das Volk in verschiedenen Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen, die von einem anfänglich losen Stämmebund bis zur Königsdynastie reichten. Gleichwohl enthält die hebräische Bibel selbst keine in sich geschlossenen »Staatstheorien«. Das Volk Gottes richtete seine Lebensordnungen einzig nach der Thora aus, dem von Gott gegebenen Gesetz, wie wir es im Alten Testament nachlesen können.
Fragen wir nach Begriffen, die aus der Sicht des Alten Testaments für die Geschichte der Beziehung Gottes zu den Menschen bezeichnend und zugleich für das zwischenmenschliche Miteinander von Bedeutung sind, ist einer dieser Begriffe die Gerechtigkeit. In der plastischen Vielfalt der hebräischen Sprache bedeutet dieser Begriff weitaus mehr, als wir es mit diesem einen Wort in der deutschen Sprache wiedergeben können. Die Bedeutung des hebräischen Wortes macht deutlich, dass es hier um eine Ganzheitlichkeit geht: Mit diesem Begriff wird einerseits das Verhältnis Gottes zu den Menschen und andererseits das Verhältnis der Menschen untereinander zur Sprache gebracht. Um das Wort Gerechtigkeit möglichst sinnverfassend zu übersetzen, müssen wir Begriffe wie Gemeinschaft, Treue, Solidarität, Wohltätigkeit, aber auch Rechtfertigung, Rettung und Heil mit einbeziehen. Nur in dieser Vielfalt wird deutlich, was Gerechtigkeit im Kontext alttestamentlichen Denkens und Handelns zum Ausdruck bringen will.
Damit erhält Gerechtigkeit sowohl für religiöses als auch für soziales und politisches Handeln eine Bedeutung. In der Thora besitzt das Volk Israel eine klare Ordnung der Gerechtigkeit. Wer sie befolgt, der erlebt Glück und Wohlergehen (5Mose 10,13; Jos 1,8; Ps 119,56 u. ö.). Vor allem an dem Wirken der Propheten können wir beobachten, dass immer wieder gerade diese Gerechtigkeit vor dem Hintergrund der Thora eingeklagt wird. Die Verhältnisse, in denen die Gerechtigkeit verlorengegangen ist, werden beklagt und die Zustände, in denen politische Entscheidungen und politisches Verhalten zur Ungerechtigkeit führen, werden angeprangert.
»Die Würde des Menschen zu achten, stellt sich als ein Gebot der gegenseitigen Anerkennung des Einzelnen ebenso wie für die Gesellschaft in ihren jeweiligen Aufgabenfeldern dar.«
Ein zweite Einsicht lässt sich aus dem Alten Testament ableiten, die bis in die Gegenwart hinein von Bedeutung ist: Die Würde des Menschen. Sie bildet bis auf den heutigen Tag einen grundlegenden Maßstab für die Gestaltung der Gesellschaft in ihren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bezügen. Die Würde des Menschen hat ihren Ursprung in der Zuwendung Gottes zu den Menschen und resultiert aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (1Mose 1,27). Sie ergibt sich eben nicht durch bestimmte menschliche Fähigkeiten, sondern unabhängig davon aus der Beziehung des Menschen zu Gott: Gott hat den Menschen gewollt. Mit diesem Willen verbindet sich ein Recht auf Leben und Anerkennung – auf Würde schlechthin.
Die Würde des Menschen zu achten, stellt sich als ein Gebot der gegenseitigen Anerkennung des Einzelnen ebenso wie für die Gesellschaft in ihren jeweiligen Aufgabenfeldern dar. Die Menschenwürde ist – weil sie aus dem Zeugnis der alttestamentlichen Bibel herrührt – keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal des christlichen Glaubens, sondern sie hat damit ihre Wurzeln in der Tradition des jüdischen Glaubens. Dass sie sich immer wieder Religionen übergreifend und verbindend entdecken und entfalten lässt, macht zugleich ihren Reichtum aus.
1.2 Neues Testament
1.2.1 Die Verkündigung Jesu
Die Bücher des Neuen Testaments, insbesondere die Evangelien beinhalten selbst keine unmittelbaren politischen Aussagen und nur wenige Abschnitte befassen sich direkt mit dem Verhältnis des Einzelnen zum Staat bzw. zur Obrigkeit. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang die Bergpredigt als Kernstück der Verkündigung Jesu angeführt, um aus ihrer Interpretation unmittelbare politische Handlungsanweisungen zu erschließen. Für eine solche Theologie stehen Namen wie Dorothee Sölle, Jürgen Moltmann, Franz Alt, Franz Kamphaus, Leonardo Boff oder Ernesto Cardenal, um nur einige zu nennen.
Die politische Dimension der Bergpredigt und anderer Bibelworte mit ethischen Implikationen resultiert jedoch nicht aus unmittelbaren Handlungsanweisungen. Ihre Wirkung ergibt sich vielmehr durch ihre Ausstrahlungskraft, die konsequenterweise hineinreicht in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und damit auch in politische Entscheidungen. Hier denke ich nicht nur an die Verkündigung Jesu, sondern auch an die Tradition der neutestamentlichen Briefliteratur. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei vor allem die Briefe, die auf Paulus zurückzuführen sind.
Kern der Verkündigung Jesu war seine Botschaft von der endzeitlichen Gottesherrschaft und der damit verbundenen Vollendung des Reiches Gottes. Diese Herrschaft Gottes bringt sowohl Befreiung als auch Rettung mit sich – nicht nur für das Volk Israel, sondern für alle Menschen. Zudem ist der Gottesherrschaft eine Zeit des universalen Friedens eigen. Diese geistliche Dimension der Botschaft Jesu hat konsequenterweise auch eine Bedeutung in der realen Lebenswirklichkeit der Menschen: Wer in der Nachfolge Jesu lebt, wird spüren, wie sich soziale und politische Verhältnisse wandeln können (Lk 1, 51–53 u. ö.).
An einigen Stellen der Verkündigung Jesu treten die Bezugnahmen von staatlicher Kompetenz einerseits und geistlicher Relevanz andererseits sehr nahe zueinander, wenn wir an die bekannten Worte Jesu denken: »So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist« (vgl. Mt 22,15–22). Genau an diesen Stellen ist aber auch zu erleben, dass Jesus gerade diese beiden Sphären deutlich voneinander zu unterscheiden weiß (s. u. 1.2.3).
Schauen wir so auf die Wirkungsgeschichte der Verkündigung Jesu, so entdecken wir neben seiner neuen Sicht des Gesetzes das Werden und Wachsen der Gemeinschaft der Glaubenden als ekklesia, als Kirche: Menschen hören die Botschaft von Gottes Reich und glauben daran. Dank ihrem Glauben finden sie zusammen mit anderen, gleichgesinnten Menschen in der Kirche einen Ort geistlicher Heimat. Aus diesem Glauben heraus ergeben sich auch Konsequenzen für ihr eigenes Tun, denn der Glaube an Gottes Reich und an Jesus Christus, in dessen Nachfolge sie sich bewegen wollen, hat Auswirkungen. Glaubende Menschen bleiben nicht bei sich selbst, sondern sie nehmen die Menschen neben sich und das Zeitgeschehen anders wahr. Indem sich Menschen aus ihrem Vertrauen zu Gott und aus der Zuversicht ihres christlichen Glaubens heraus für Frieden, Gerechtigkeit und für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Schöpfung einsetzen, erfährt der gelebte Glauben eine politische Dimension.
»Glaubende Menschen bleiben nicht bei sich selbst, sondern sie nehmen die Menschen neben sich und das Zeitgeschehen anders wahr.«
1.2.2 Die Theologie des Apostels Paulus
Wenn wir nach der Beziehung der politischen und geistlichen Verhältnisse zueinander fragen, steht alsbald die Sichtweise des Apostels Paulus im Mittelpunkt: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit (…)« (Röm 13,1–7). Dieser Satz hat das politische Denken und Handeln der Christen im Verlauf der Geschichte geprägt und ist zugleich so verschieden interpretiert und ausgelegt worden wie kaum ein anderer Text. Doch er darf nicht als einzige Schriftstelle herangezogen werden, wenn wir uns mit der Verhältnisbestimmung zwischen Obrigkeit bzw. Staat und Kirche befassen, sondern muss im Licht weiterer neutestamentlicher Aussagen betrachtet werden (Mk 12,13–17 par.; Apg 5,29; Phil 3,20; 1Petr 2,13–17 u.ö.).
»Nach all diesen Texten haben die Christen den Staat als Regierungsform zu achten, die nach Gottes Anordnung und mit seinem Willen dem Chaos wehrt. Sie müssen aber gewärtig bleiben, dass die staatliche Macht dämonische Züge annehmen und sie vor die Entscheidungsfrage stellen kann, ob sie sich zu Christus oder zum Träger der politischen Gewalt bekennen wollen, der für sich göttliche Würde und Autorität beansprucht. In allen Fällen, in denen die Bezeugung des Evangeliums verboten oder wesentlich eingeschränkt wird, gilt Apg. 5,29: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.« (Peter Stuhlmacher, Der Brief an die Römer, NTD Band 6, Göttingen 1989, 184)
Auch müssen wir dieses oben genannte Pauluswort im Zusammenhang seiner Lebenswirklichkeit verstehen. Paulus schreibt diese Verse, noch bevor eine erste Christenverfolgung stattgefunden hat. Ihm geht es in seiner Theologie nicht ausschließlich darum, das Verhältnis zwischen traditionellem Judentum und sich entwickelndem Christentum zu bestimmen, es geht ihm nicht um einen Streit innerhalb des Judentums und auch nicht um die Frage der christlichen Identität im Gegenüber zum Judentum (vgl. Eckart Reinmuth). Seine Theologie zielt vielmehr auf eine grundlegende Weltveränderung und damit schlussendlich auf einen gesellschaftspolitischen Entwurf. Ihm geht es hier konkret um die Frage der Loyalität der Christen zu der bestehenden Staatsmacht. Für ihn ist der Staat zwar kein Ausdruck einer unmittelbar von Gott gestifteten Lebensordnung, wohl aber eine Ausdrucksform menschlichen Mit einanders, die sich auf Gottes Willen bezieht und sich an Gottes Ordnungen orientiert. Die noch ganz jungen christlichen Hausgemeinden wussten sich im Grundsatz zu Christus zugehörig und lebten in der Erwartung des Wiederkommens Christi, des Herrn der Welt. Der Staat garantiert die Einhaltung von Ordnungen, die dem Willen Gottes entsprechen; folglich ist er auch die Instanz, die alle Unordnung, alles Chaos und alle Menschen, die diese Ordnung in Frage stellen, abwehrt. Demnach müssen sich Christen nicht vor dem Staat fürchten, denn sie empfinden selbst seine Ordnungen als lebensdienlich und profitieren von der Sicherheit, die der Staat bietet. Zur Bewahrung der Ordnungen dient auch das Erheben von Steuern, die der Staat für alle verwendet. Deshalb sollen die Christen »die bestehende Regierungsmacht und deren Geldansprüche respektieren, weil sie erkennen, dass Gott mittels der staatlichen Autorität zugunsten aller Menschen und auch der Gemeinde das Gute befördert und das Böse in Grenzen hält.« (Peter Stuhlmacher, a. a. O., 182 f.)
Neben den beschriebenen Verhältnisbestimmungen zwischen Staat und Kirche lassen sich innerhalb der weiteren Briefliteratur auch an anderen Stellen Anweisungen für das Leben der einzelnen Christen im Gegenüber zu den staatlichen Institutionen finden.
Insbesondere der Epheserbrief (Epheser 5,21–6,9) und der Kolosserbrief (3,18–4,1) beinhalten Anweisungen, die – theologisch interpretiert – eine Bedeutung für die Gesellschaft, vor allem für Fragen der Gemeinschaft und für die Suche nach einer kollektiven Identität besitzen. In den so genannten »Haustafeln« bzw. »Haustafelsprüchen« werden hier erste hierarchische Ordnungen erkennbar. Wenngleich sich diese zunächst auch auf die persönliche und familiäre Lebenssituation der ersten jungen christlichen Gemeinde beziehen, gewinnen diese Ordnungen später, vor allem in der Interpretation und Auslegung Martin Luthers, auch eine Bedeutung für die Beziehung der Christen bzw. der Kirche für die Gesellschaft und Öffentlichkeit (vgl. 2.4).
1.2.3 Die Theologie der Evangelisten
»Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist (…)« (Mt 22,15) – Es ist gerade nicht die Intention, dieses vermutlich echten Jesuswortes in den Evangelien, das Verhältnis zwischen Kirche und Staat zu beschreiben. Vielmehr kommt in dieser Gegenüberstellung von Gott und Kaiser zum Ausdruck, dass beide »Gewalten« zwei grundlegend verschiedene Dinge sind: Die Forderungen des Staates sind real, sie gehören zur Lebenswirklichkeit aller Menschen, auch der Christen, dazu; sie sind zu beachten und zu befolgen, aber sie sind im Grunde genommen nebensächlich und damit sekundär. Der Staat ist lediglich eine äußere Autorität, die der Autorität Gottes nachgeordnet ist.
»Gott ordnet an, dass der Staat Macht ausüben kann und soll. Der Staat aber ist eine von dem Menschen für den Menschen geschaffene Regierungsform. Sie ist von den Christen zu respektieren und zu fördern. Aber sie ist nicht theologisch zu überhöhen zu einem Gottesgnadentum der Obrigkeit.« (Peter Stuhlmacher)
Diese Feststellung gilt insbesondere für eine noch junge christliche Gemeinde, die mit großem Ernst auf das Wiederkommen ihres Herrn wartet. Zu der weltlichen Macht geht sie anfänglich auf Distanz und sieht in ihr eine Herausforderung, der es im Glauben standzuhalten gilt – selbst wenn damit Leiden und Tod verbunden sind. Die Konfrontation zwischen den römischen Machthabern und dem Christentum ergibt sich vor allem aus der Verweigerung des Kaiseropfers durch die Christen auf der einen Seite und den Vergottungsansprüchen der römischen Cäsaren auf der anderen Seite...