ITHEOLOGISCHE GRUNDSATZFRAGEN
RELIGIÖSE RELIGIONSKRITIK
ÜBER DAS WAGNIS CHRISTLICHER GOTTESREDE IN DER GEGENWÄRTIGEN RELIGIONSLANDSCHAFT
Ulrich H. J. Körtner
1.RELIGION, THEOLOGIE UND KRITIK
Kritik ist ein Moment aller Religion, jedenfalls aller Religionen, die prophetischen Charakter tragen oder doch ein prophetisches Moment aufweisen. Man denke nur an die Schriftprophetie Israels in alttestamentlicher Zeit. Immer wieder haben Israels Propheten, verbunden mit scharfer Sozialkritik, massive Kritik am religiösen Kult geübt.1 Deuterojesaja, der zweite Jesaja, ergießt seinen beißenden Spott über die selbstgemachten Götterbilder und diejenigen, welche sie anbeten.2
Wenn wir über religiöse Religionskritik nachdenken, gilt es zu beachten, dass die Bibel – das Alte Testament nicht minder wie das Neue Testament – »nicht nur ein religiöses, sondern auch ein antireligiöses Buch«3 ist, wie Paul Tillich urteilt. »Die Bibel kämpft für Gott gegen die Religion«4, d. h. gegen Mythos und Kultus. Die »Entmythologisierung«, die von Rudolf Bultmann zum theologischen Programm erhoben worden ist,5 gibt es schon in der Bibel selbst avant la lettre. Man denke nicht nur an die bereits erwähnte ätzende Kritik Deuterojesajas an den Göttern der Umwelt Israels, sondern auch an die Schöpfungsgeschichte in Genesis 1. Die Gestirne sind keine Gottheiten mehr wie in anderen altorientalischen Schöpfungsmythen, sondern lediglich Leuchten, die Jahwe an den Himmel gesetzt hat. Auch das Neue Testament ist von scharfer Kritik an bestehenden Religionen durchzogen, und schon Jesus selbst kritisiert immer wieder die Praxis des Judentums seiner Zeit. Aber auch das Christentum selbst, sofern es Züge einer mythischen und kultischen Religion annimmt, ist schon im Neuen Testament Gegenstand der Kritik. Nicht nur, dass etwa Paulus an bestimmten Formen des Judenchristentums und seiner Forderung nach der Beschneidung von nichtjüdischen Christen oder an einem enthusiastisch-spiritualistischen Christentum in Korinth Kritik übt. Man kann auch wie Tillich oder Bultmann in der johanneischen Theologie kultus- und mythoskritische Züge erkennen.6 Die Sakramente von Taufe und Abendmahl treten deutlich in den Hintergrund, und die futurische Eschatologie, welche die Wiederkunft Christi, Weltende und Jüngstes Gericht in mythischen Bildern ausmalt, wird von einer präsentischen Eschatologie marginalisiert, nach welcher sich Gericht und Auferweckung zum ewigen Leben bereits hier und jetzt im Akt des Glaubens ereignen. Doch auch wenn das Christentum, um noch einmal mit Tillich zu sprechen, »mehr sein will als eine Religion«7, ist seine fundamentale Kritik an aller Religion doch selbst eine Erscheinungsform von Religion. Sie bedient sich auf paradoxe Weise religiöser Mittel, religiöser Sprach- und Denkformen, um die Religion zu bekämpfen.
Immer wieder sind Religionen aufgrund neuer religiöser Erfahrungen oder theologischer Einsichten aus der kritischen Auseinandersetzung mit bestehenden Religionen entstanden. Das gilt für das Christentum ebenso wie für den Islam, aber auch für den Buddhismus. Reformbewegungen und religiöse Neuaufbrüche kommen in der gesamten Christentumsgeschichte bis in die Gegenwart vor. Immer wieder haben sie auch zu Kirchenspaltungen geführt, verbunden mit scharfer Kritik an jenen, welche den neuen Lehren nicht folgen wollten. Nicht zuletzt sind die Kirchen der Reformation aus einer religiösen Freiheitsbewegung und aus der Kritik an bestehenden kirchlichen Verhältnissen und Lehren hervorgegangen. Das protestantische Prinzip der ecclesia semper reformanda stellt die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen unter den Anspruch permanenter Selbstkritik und das heißt: religiöser Religionskritik.
Religiöse Religionskritik begegnet uns einerseits in der Form der Kritik, die von einer bestimmten Religion an anderen Religionen geübt wird, andererseits aber auch als Kritik innerhalb einer bestimmten Religion. Im Unterschied zu areligiösen Formen der Religionskritik nimmt die religiöse Religionskritik keinen Standpunkt außerhalb jeglicher Religion ein, sondern kritisiert die eigene oder fremde Religion von einem religiösen Standpunkt aus und unterscheidet zwischen wahrer und falscher Religion. Sie stellt also nicht die Sinnhaftigkeit von Religion überhaupt in Frage, wohl aber die Sinnhaftigkeit oder Angemessenheit einzelner Erscheinungsformen von Religion.
Seit der Aufklärung sind nicht nur Formen der Religionskritik entstanden, welche konkrete Religionen, ihre Lehren und ihre Praxis radikaler Vernunftkritik unterziehen, um zum Konstrukt einer natürlichen Religion vorzustoßen, deren Wesenskern ein moralisch vernünftiger sein soll, sondern auch Formen einer noch radikaleren Kritik, welche Religion überhaupt als Irrtum, als Wahn und als etwas zu Bekämpfendes und zu Überwindendes ansieht.8 Religionen können darauf reagieren, indem sie entweder diese Spielarten radikaler Religionskritik ihrerseits mit allen Mitteln als Form des Irrtums oder der Bosheit bekämpfen oder aber, indem sie Wahrheitsmomente solcher Religionskritik in die eigene religiöse Sicht auf die Religion zu integrieren versuchen. Tatsächlich gibt es dafür aus der Geschichte des Christentums in der Moderne genügend Beispiele.
Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Theologie. Theologie im christlichen Kontext ist die Selbstprüfung des christlichen Glaubens in einer wissenschaftlichen Form. Auch wenn moderne Theologie religionswissenschaftliche Elemente enthält, ist die Theologie als Ganze doch von Religionswissenschaft zu unterscheiden, weil sie die eigene wie fremde Religionen nicht von einem neutralen oder areligiösen Standpunkt aus betrachtet, sondern explizit einen religiösen Standpunkt einnimmt. Sie beschreibt eben nicht nur die eigene Religion oder fremde Religionen, sondern sie bezieht Stellung. Sie verfährt nicht nur deskriptiv, sondern sie argumentiert normativ, mag dies auch noch so zurückhaltend geschehen. Theologie als Selbstprüfung des christlichen Glaubens unter historischen, systematischen und praktischen Gesichtspunkten ist ein unaufgebbares Moment des Glaubens. In ihr verhält sich der Glaube kritisch zu sich selbst. Theologie als Wissenschaft ist die institutionalisierte religiöse Religionskritik des Christentums, die sich in der Moderne ihrerseits zu areligiösen oder antireligiösen Formen der Religionskritik verhalten muss.9 Theologische Religionskritik kann unter den Bedingungen der Moderne nicht einfach aus der Binnenperspektive des Glaubens geübt werden, sondern diese Binnenperspektive muss sich ausdrücklich zu den unterschiedlichen Außenperspektiven ins Verhältnis setzen. Die Aufgabe besteht nicht darin, eine Außenperspektive in die Binnenperspektive zu integrieren, sie also von einer Außenperspektive zu einem Moment der Binnenperspektive zu transformieren und damit als Außenperspektive zu beseitigen. Die Herausforderung liegt vielmehr darin, die Außenperspektive am Ort der Binnenperspektive so zur Sprache zu bringen, dass das Andere zur eigenen Perspektive als dieses gewahrt bleibt. Dabei setzt sich Theologie, wenn sie es ernst meint, immer wieder selbst aufs Spiel, weil ihr Nachdenken über Gott nicht mit der fraglosen Gewissheit seines Seins, sondern mit seinem Strittigsein konfrontiert.
Außerdem hat Theologie als religiöse Religionskritik zu bedenken, dass das Christentum nur im Plural von Christentümern existiert und dass es selbst innerhalb der verschiedenen Christentümer eine Pluralität von Perspektiven oder Gesamtinterpretationen des christlichen Glaubens und seines Verhältnisses zu anderen Religionen oder Weltanschauungen gibt. Religiöse Religionskritik bedeutet daher, dass auch diese anderen Perspektiven christlichen Glaubens auf sich selbst, das heißt aber auch die Pluralität der Theologien, innerhalb einer konkreten Gestalt von Theologie thematisch werden. Das ist keineswegs immer eine harmonische Veranstaltung, in der sich die unterschiedlichen Sichtweisen des Christentums wechselseitig bereichern, sondern hier werden auch wechselseitig Einsprüche laut. Theologie als religiöse Religionskritik bearbeitet Erfahrungen von Differenz, und zwar auch Erfahrungen von solchen Differenzen, die sich – zumindest bis auf weiteres – nicht in einem Konsens aufheben lassen. Eine theologische Hermeneutik des Einspruchs setzt sich mit den von anderer Seite erhobenen Einsprüchen nicht bloß deshalb auseinander, um sie als unbegründet zu widerlegen, sondern um sie als Anstoß zur Selbstprüfung und Selbstkritik zu hören.
Religiöse Religionskritik im Sinne der Bereitschaft zur Selbstkritik ist ein unaufgebbares Moment von öffentlicher Religion10 und öffentlicher Theologie.11 Der Begriff Öffentliche Theologie oder public theology ist in den USA von Ronald Thiemann, Max Stackhouse, Don Browning und David Tracy in die Diskussion eingeführt worden, in Großbritannien von Duncan Forrester und Will Storrar, in Südafrika von John de Gruchy und Dirkie Smit, in Deutschland von Wolfgang Huber und Jürgen Moltmann.12 Der evangelische Theologe Wolfgang Vögele definiert öffentliche Theologie als »die Reflexion des Wirkens und der Wirkungen des Christentums in der Öffentlichkeit in die Gesellschaft hinein«. Sie ist für Vögele sowohl »die Kritik und die konstruktive Mitwirkung an allen Bemühungen der Kirchen, der Christen und Christinnen, dem eigenen Öffentlichkeitsauftrag gerecht zu werden, als auch die orientierend-dialogische Partizipation an den öffentlichen Debatten, die unter Bürgern und Bürgerinnen über Identität, Ziele, Aufgaben und Krisen dieser Gesellschaft geführt werden«13.
Ein wichtiges Thema öffentlicher Theologie wie auch der gegenwärtigen zivilgesellschaftlichen Diskurse ist die Rolle von Religion in der modernen Gesellschaft. Nach einer vielzitierten Formulierung Ernst-Wolfgang Böckenfördes lebt der »freiheitliche, säkularisierte« – und das heißt eben pluralistisch verfasste – Staat »von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann«14. »Als freiheitlicher Staat kann er«, wie Böckenförde ausführt, »nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert«15, ohne diese Regulierungskräfte durch rechtliche Sanktionen erzwingen zu können. Böckenförde deutet die Situation des modernen Staates freilich noch mittels des Säkularisierungsbegriffs und unterstellt eine Homogenität, die stillschweigend aus der mehrheitlichen Zugehörigkeit der Bürgerinnen und Bürger zum Christentum abgeleitet wird.16 Doch eben dies versteht sich in der multikulturellen und multireligiösen Situation heutiger Gesellschaften nicht mehr von selbst, wie z. B. die Diskussion in Deutschland um den Begriff einer Leitkultur zeigt. Ob die pluralistische Demokratie oder auch das Konzept einer Zivilgesellschaft in jedem Fall auf irgendeine Form von Religion, d. h. eine Form der Zivilreligion angewiesen bleibt, ist aber umstritten.17
Umgekehrt stellt sich die Frage, wie pluralismusfähig die Religionen sind, d. h. in welchem Maße sie in der Lage sind, sich der Moderne zu öffnen, ohne ihre Substanz preiszugeben und ihre Kritikfähigkeit einzubüßen. Das gilt insbesondere für die monotheistischen Religionen, deren Bekenntnis zu dem einen und einzigen Gott traditionellerweise zur Behauptung eines exklusiven Geltungsanspruchs für die eigene Religion führt. Die Religionen sind deshalb herausgefordert, sich produktiv mit der konfliktträchtigen Konkurrenz religiöser Geltungsansprüche und ihrer grundsätzlichen Relativierung in modernen pluralistischen Gesellschaften auseinanderzusetzen. Steht im Hin...