III. KAPITEL:
WEITERENTWICKLUNG IN DIE ZUKUNFT – HINDERNISSE UND CHANCEN DAZU LESEN SIE IM 3. KAPITEL
Vielfältig sind die Vernetzungen zwischen Gemeinschaften und Unternehmen, vielfältig sind die Artikel in diesem Kapitel. Zu lesen ist von tragenden Vereinbarungen und klaren Strukturen, in denen am gemeinsamen Ziel gearbeitet wird, genauso wie von Hoffnungen, Wünschen, Möglichkeiten – eher noch unkonkret.
Ein deutliches Bekenntnis für diakonische Gemeinschaften legt Diakoniepräsident Ulrich Lilie ab und zeigt Herausforderungen angesichts des gesellschaftlichen Wandels auf. Eine geklärte Zusammenarbeit ist gegeben aus der noch selbstverständlichen Nähe des Unternehmens zur Gemeinschaft im Wittekindshof und in Rummelsberg (Dierk Starnitzke / Christian Schwennen und Martin Neukamm / Elisabeth Peterhoff). Einen solidarisch-kritischen Blick auf das Verhältnis von Unternehmen und Gemeinschaften wirft Jörg Beurer. – Lars Eisert-Bagemihl und Hans Jaekel öffnen den Blick in die Zukunft, indem aus guter Tradition neue Visionen entwickelt werden. – Wolfgang Sartorius / Frieder Grau aktualisieren den diakonischen Auftrag aus dem Evangelium für eine gemeinsame sozialpolitische Verantwortung.
Klar hat Beate Hofmann die zentralen Aufgaben- und Interessensklärungen für Gemeinschaften und Unternehmen in der Kulturgestaltung beschrieben. Daniela Krause-Wack greift diesen Ansatz auf und konkretisiert ihn für kultursensibles Handeln. Neue Ansätze, diakonische Bildung für alle Mitarbeitende gemeinsam zu verorten, werden in Rickling (Andreas Kalkowski) auf den Weg gebracht. Jens Schmitz nimmt mit in den Prozess, den die Stiftung Johannesstift mit der Gemeinschaft ging, Bildungsverantwortung und Formate in Kooperation zu gestalten.
Alexander Müller fragt aus der Perspektive eines Sozialdiakons/ Sozialarbeiters nach der Relevanz einer diakonischen Gemeinschaft.
Die zentrale Aufgabe, Amt und Beruf in der jeweiligen Landeskirche zu stärken, beschreibt Ute Kaisinger-Carli für Kurhessen-Wald-eck. Im Zentrum Diakonat in Württemberg wird diese Stärkung – so Christina Köster – als Netzwerkaufgabe gestaltet. In der Ausbildung von Diakonen und Diakoninnen fördern Ausbildungsstätten und Gemeinschaften gemeinsam die diakonische Identität und Professionalität: Die beiden letzten Artikel von Claudia Rackwitz-Busse / Bernd Seguin und Thomas Hörnig nehmen kritisch Gelingen und Suchen auf.
DIAKONIE BRAUCHT DIAKONISCHE GEMEINSCHAFTEN – WOZU UND WOFÜR
Ulrich Lilie
1 VIELFALT UND GEMEINSCHAFT
Unsere Gesellschaft befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Sie wird ethnisch, kulturell und religiös pluraler, ungleicher, digitaler und älter. Der demografische Wandel bedeutet nicht nur, dass wir als Gesellschaft älter, sondern auch, da wo wir jung sind, sehr viel bunter und diverser werden. Die wachsende Altersspanne der Menschen bietet eine größer werdende Palette unterschiedlich geschichtlicher und zeitgenössischer Prägungen – von der Generation Weimar bis zur Generation Y. Die diskriminierungsfreie Gestaltung des Rechts – wie z. B. die 2016 eingeführte Ehe für alle – ermöglicht individuelle Lebensformen. Die Digitalisierung, die immer schneller Lebens- und Arbeitsbereiche verändert, vergrößert die Gefahr gesellschaftlicher Spaltungen und schafft völlig neue Möglichkeiten der Teilhabe. Die neoliberale Ausrichtung der weltweiten Wirtschaft hat auch zur Folge, dass die soziale Ungleichheit der Gesellschaft auch bei uns zunimmt. Aus dem letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung geht hervor, dass die relative Armut in Deutschland weiter angestiegen ist. In Deutschland leben rund 13 Millionen Menschen mit einem Einkommen, das unter sechzig Prozent des durchschnittlichen Einkommens der übrigen Bevölkerung liegt, trotz sinkender Arbeitslosenquote und Wirtschaftswachstum. Immer mehr Menschen fühlen sich aus unterschiedlichen Gründen an den Rand gedrängt.
Es gehört zum biblischen und historischen Auftrag der Diakonie, an die »Ränder« zu gehen und von den Rändern einer Gesellschaft her zu denken. Längst bestimmt daher Vielfalt die Diakonie – nicht erst, seitdem das Thema öffentlich in der Gesellschaft diskutiert wird. In der Diakonie wird immer schon an den »Rändern« gearbeitet. Das betrifft Menschen in unterschiedlichen sozialen Lebenslagen, Menschen mit Beeinträchtigung oder Menschen, die aufgrund der Ausgrenzungen eigene Kulturen entwickelt haben, z. B. Wohnungslose oder Obdachlose auf der Straße, Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen, die fliehen mussten. Man kann die vielen Dimensionen, die die diakonische Arbeit prägen, als kulturelle Vielfalt verstehen – oder kurz als »Diakonie der Vielfalt« zusammenfassen.
Daher reagieren wir in der Diakonie auf die wachsenden Auseinandersetzungen mit kultureller Vielfalt nicht abgrenzend, sondern sehen in der zunehmenden Vielfalt zugleich eine Herausforderung für die Gesellschaft wie eine Chance. Die Anerkennung von Vielfalt und das Engagement für Inklusion gehören zusammen, denn Inklusion zielt nicht auf Normierung, sondern auf gerechte Teilhabe der Verschiedenen. Im Gegensatz zu früheren Integrationsansätzen steht Inklusion für einen Paradigmenwechsel, bei dem es um individuell angepasste Unterstützung bei Aktivitäten und aktive Teilhabe in allen Lebensbereichen geht. Die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes ist ein erster Versuch, dieses Konzept mit Menschen mit Beeinträchtigungen konsequent durch gesetzliche Vorgaben zu realisieren.
In den letzten Jahren ist immer deutlicher geworden, dass Vielfalt auch zunehmend die Mitarbeitenden bzw. die Mitarbeiterschaft der Diakonie prägt. Darauf haben Diakonie und Kirche mit verstärkten Bemühungen um die Förderung einer diakonischen Kultur und einer Weiterentwicklung der Richtlinie über die kirchlichen Anforderungen an die berufliche Mitarbeit in Kirche und Diakonie reagiert. Einerseits haben Arbeitskräftemangel und Professionalität diese Öffnung des kirchlichen Arbeitsrechts schlicht verlangt. Andererseits leitet neben diesen äußeren Notwendigkeiten auch die Einsicht, dass eine Diakonie, die sich dicht bei den Kulturen der Hilfesuchenden verortet, selbst diese kulturelle Vielfalt in sich abbilden muss. Ein Verständnis der Diakonie als Brückenbauerin und Netzwerkpartnerin braucht Mitarbeitende, die sich auf kulturelle Vermittlung verstehen. Etwa eine Kindergärtnerin, die aus eigener Erfahrung weiß, welche Herausforderungen sich mit der Lebensaufgabe verbinden, als junges Mädchen oder junge Frau mit Migrationshintergrund einen Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Auch die Muslima mit Kopftuch kann und wird Kollegin sein. Weil das so ist, verändert sich Diakonie auch von innen heraus.
Die geschilderte wachsende Vielfalt innerhalb und außerhalb der Diakonie lässt sich nicht mehr von der Gestaltungsaufgabe einer kollegial – dienstlichen Gemeinschaft in der Diakonie trennen. Sie ist längst zu einer ihrer Hauptfelder geworden. Damit Vielfalt nicht in ein Nebeneinander verschiedener Anspruchsträger und in eine Konkurrenz von Hilfesuchenden auseinanderfällt, braucht es zuerst den Willen einer aktiven Gestaltung des Zusammenhaltes. Denn Zugehörigkeit und Zusammenhalt entstehen nicht von selbst. Im Gegenteil. Werden bestehende Unterschiede nicht bewusst wahrgenommen und bearbeitet, entsteht kulturelles Unbehagen, verschärfen sich Konflikte. Eine gute Moderation ist eine Gelingensbedingung für ausstrahlende Gemeinschaften und das Gefühl von Zusammengehörigkeit. Auch unsere bestehenden Gemeinschaften in der Diakonie sind vor die Aufgabe gestellt, sich zu dieser Vielfalt ins Verhältnis zu setzen, selbst vielfältig zu werden. Die Beantwortung der Frage, wie vielfältig sich Gemeinschaften aufstellen wollen, entscheidet auch über ihre Relevanz und Rolle gegenüber der Gesamtmitarbeiterschaft.
2 SOZIALRAUMORIENTIERUNG
Eng verbunden mit dem Paradigmenwechsel des Vielfalts- und Teilhabekonzeptes Inklusion ist das Konzept der Sozialraumentwicklung. Es geht um eine Orientierung am Sozialraum, in dem Menschen leben, als grundlegendem Organisationsprinzip sozialer Arbeit. Für Kirche und Diakonie bedeutet diese Neuausrichtung eine tiefgreifende Veränderung des Selbstverständnisses und der Strukturen von Gemeindearbeit, der Seelsorge und der diakonischen Arbeit. Die schrittweise Auflösung des stationären Paradigmas in vielen Bereichen diakonischer Arbeit hat längst begonnen und wird sich weiter beschleunigen. Ambulante und teilstationäre Dienste gewinnen an Bedeutung. Wohngruppen lösen größere Einrichtungen ab. Neue Formen der Organisation von Nachbarschaften – caring communities – bringen sozialstaatliche Verantwortung und lokales zivilgesellschaftliches Engagement miteinander in Verbindung. Bei diesen Entwicklungen der Dezentralisierung und Öffnung sozialer Hilfestrukturen geht es um die Ermöglichung selbstbestimmten Lebens im gewohnten Umfeld für alle, insbesondere für die, die Unterstützungsbedarfe haben. Das führt über traditionelle Organisationsgrenzen hinaus. Zugleich müssen sich Kirche und Diakonie neu als Teil eines Netzwerkes von Akteuren im sozialen Raum verstehen lern...