Strohsäcke, Marmeladeneimer und Gummiknüppel: Die Zeit der Strafhaft
Die eigentliche Leidenszeit – abgesehen von den Stasi-Verhören – begann für uns erst im »Strafvollzug«.
Viele politische Häftlinge der fünfziger Jahre erinnern sich trotz der inzwischen verstrichenen langen Zeit noch immer an schreckliche Details ihrer Haft – heute unvorstellbar, kaum nachvollziehbar. Sie tauchen in schlimmen Träumen immer wieder auf, quälen nächtens, rauben den Schlaf. Viele Betroffene stellen sich die schmerzliche und ständig wiederkehrende Frage: Warum musste ich das erleiden und wie konnte ich das überhaupt überstehen?
Über die Haftjahre der »Werdauer Oberschüler« – für acht von uns dauerten sie vom Mai 1951 bis Herbst 1956 – können an dieser Stelle nur einige wenige stichwortartige Andeutungen gemacht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Haftbedingungen oftmals zur gleichen Zeit von Anstalt zu Anstalt unterschieden – je nachdem welcher Anstaltsleiter welches »Regiment« führte – und sich im Verlaufe der Jahre besserten. Zu Beginn der 50er Jahre waren die Haftbedingungen – im Vergleich zu späteren Zeiten – jedoch überaus hart und erbarmungslos.
Die erste »Strafvollzugsanstalt« für unsere Gruppe war das Zuchthaus Waldheim. Später lernten viele von uns auch andere Zuchthäuser der DDR von innen kennen. Ich war, wie meine so genannte Laufkarte (siehe Dokumenten-Anhang) ausweist, im Laufe der fünfeinhalb Jahre in sieben »Vollzugsanstalten«.
In meinen späteren Gesprächen mit den mitverurteilten Schulkameraden wurden folgende Erlebnisse am häufigsten erwähnt:
In Waldheim wurden wir vom Wachpersonal äußerst brutal empfangen, denn wir galten als Schwerverbrecher, viel gefährlicher als Mörder, denn wir hätten »die ganze Menschheit ins Unglück stürzen« wollen. Die Zivilkleidung und alle uns noch aus der Untersuchungshaft verbliebenen privaten Gegenstände mussten abgegeben werden; wir wurden neu »eingekleidet«: Jacke und Hose mit eingenähtem Streifen (diese »Uniform« musste nachts, vorschriftsmäßig zusammengelegt, aus der Zelle gegeben werden), Holzschuhe und Fußlappen, eine (wirklich nur eine einzige!) Garnitur Unterwäsche (Wäschewechsel gab es nur alle paar Wochen), zwei dünne Decken, Blechnapf und Löffel (Messer und Gabel waren nicht gestattet). Allen Jungen wurde das Kopfhaar radikal geschoren - eine schlimme, totale Entwürdigung; erst 1953 wurden zwei Zentimeter Stoppelhaar gestattet.
Das Zuchthaus Waldheim. (JVA Waldheim)
Großes Zellenhaus in Waldheim. (Archiv Gedenkstätte Buchenwald)
In einer Zelle mit etwa 8 qm Grundfläche (außen an der Zellentür waren die Maße genau angegeben) mussten vier, häufig sechs Häftlinge miteinander auskommen. Die vergitterten Fenster waren zusätzlich verblendet, d.h., es war nur ein kleiner Lichtschlitz offen. Der Strohsack war nur mit Häcksel gefüllt; es gab Ungeziefer. Als Toilette diente ein Marmeladeneimer mit schlecht schließendem Holzdeckel, der zweimal täglich geleert wurde; der Gestank war fürchterlich und widerlich; als Toilettenpapier gab es nur hartes Packpapier. Etwa ein Liter Wasser pro Person pro Tag musste ausreichen für Körperwäsche, Zähneputzen, Ausspülen des Essgeschirrs. Es gab anfangs keine Literatur, keine Zeitungen, keine funktionierende Heizung, nur unregelmäßig die »Freistunde«, die ohnehin selten länger als 20 Minuten dauerte, im Gänsemarsch mit Abstand von mindestens zwei Meter zum Vordermann, im Gleichschritt bei absolutem Sprechverbot; doch wir lernten bald zu sprechen, ohne die Lippen zu bewegen, was eine gewisse Kommunikation ermöglichte, ohne dass man uns deshalb bestrafen konnte. Es war streng untersagt, tagsüber auf den Strohsäcken oder (wenn vorhanden) Bettgestellen zu sitzen oder gar zu liegen; aber es gab in diesen Zellen nur zwei Hocker. Uns Jugendliche plagte zudem ein ständiger schrecklicher Hunger.
Als wir immer wieder baten, arbeiten zu dürfen – vor allem wegen etwas mehr Verpflegung und um aus der Enge der ständig verschlossenen Zelle für einige Stunden herauszukommen – setzte man uns Schüler als »Kübler« ein, d.h. wir »durften« täglich zweimal die Kübel leeren und im Großen Zellenhaus das Linoleum auf den Gängen bohnern.
Innenansicht des Großen Zellenhauses in Waldheim, etwa 1950. (Archiv Gedenkstätte Buchenwald)
Jeder von uns kann über jeweils eigene Erlebnisse und Lebenserfahrungen berichten. Ich erinnere mich besonders an das Zusammenleben mit Kriminellen in einer Zelle (Sittlichkeitsverbrecher und Mörder), aber auch, welche Chance es bedeutete, nach monatelanger totaler Isolierung endlich Arbeit zu bekommen. Nur waren wir in den Arbeitskommandos deutlichen Schikanen ausgesetzt. Ich musste u.a. in der Haftanstalt Torgau Tarnnetze für die Nationale Volksarmee (NVA) nähen und im »Schrott-Kommando« unter unwürdigen, sehr gefährlichen und gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen mit Hammer und Meißel Flugzeugschrott zerteilen und sortieren. Hier ereigneten sich nahezu täglich Unfälle.
»Die meiste Zeit (in Halle, in Waldheim bei meinem zweiten Aufenthalt dort und in Luckau) war ich in der Schneiderei beschäftigt, wo wir für Volkseigene Betriebe arbeiteten. In Waldheim wurde für mich als Lohnbuchhalter in der Schneiderei vom VEB Bekleidungswerke offiziell rd. 250 Mark netto an die Vollzugsanstalt überwiesen. Davon bekam ich als Häftling zum Eigenverbrauch (für den Einkauf bestimmter Lebensmittel, Zigaretten, Zeitung) 19,50 Mark (= 8%); auf ein Sperrkonto (wurde bei der Entlassung ausgezahlt, wovon auch die Fahrkarte zu kaufen war) kamen 8 Mark (= 3%); für Familienunterstützung (wurde nach Hause überwiesen) 25 Mark (= 10%); die Haftanstalt behielt mithin fast 200 Mark (= 79%) ein.«35
Besonders bedrückend war die Haftzeit jener, die jahrelang nur in den kleinen Zellen oftmals mit (primitiven) kriminellen Häftlingen leben mussten, ohne andere Gesprächspartner zu haben. In diesem Punkt anders waren die Bedingungen im Zuchthaus Bautzen, sofern man in einem der völlig überbelegten Säle untergebracht war. So schrecklich es hier auch war – immerhin gab es die Möglichkeit, sich unter den 200 bis 300 Häftlingen des Saales Gesprächspartner auszusuchen, von denen man lernen konnte, was besonders für Schüler sehr wichtig war. Manchen Häftlingen gelang es, für Stunden ihre Kameraden mit fundierten und gehaltvollen Vorträgen vom Häftlingsalltag weg in eine andere Welt zu »entführen«. Ein Bautzen-Häftling, der zeitweise in eine Zelle verlegt worden war, meinte dazu: »Erst mal wieder Saalluft schnuppern. Ihr glaubt gar nicht, wie jämmerlich das Leben in den Zellen ist. Ums Verrecken möchte ich da nicht mehr hin!«36
Mein Schicksal war es – abgesehen von wenigen Wochen – die gesamte Haftzeit in solchen kleinen Zellen eingesperrt gewesen zu sein.
Die monatlichen (zensierten) Briefe nach draußen – auf vorgedruckten Formularen nur wenige Zeilen – wurden von uns gedanklich Wort für Wort wochenlang, mitunter in schlaflosen Nächten vorformuliert. Die Antwortbriefe (es durfte nur jeweils ein Brief in der Zelle behalten werden) gaben Hoffnung, enthielten aber auch oft schlimme Nachrichten. Alle Briefe wurden zensiert, nicht wenige konfisziert.
Der Besitz von Fotos – auch der nächsten Angehörigen – war nicht erlaubt.
»Bei guter Führung und Arbeitsleistung« durfte bis 1955 jeder Strafgefangene monatlich ein Paket empfangen. Danach wurde dies nur zu besonderen Anlässen wie Weihnachten gestattet, da es den Gefangenen angeblich »so gut« ging, dass sie keiner Unterstützung bedürften. Das Gewicht (3 kg) und der Inhalt der Pakete waren genau vorgeschrieben. Die von den Angehörigen liebevoll eingepackten Gaben wurden bei der Kontrolle meist zusammengeschüttet, vorher regelrecht zerhackt (es könnte ja eine Eisensäge eingeschmuggelt werden) und erst dann dem Häftling übergeben. Reine Schikane. Die vitamin- und fetthaltigen Nahrungsmittel waren für uns Jugendliche besonders wichtig, konnten aber nach einer solchen »Behandlung« nicht lange aufbewahrt werden.
Die unter bestimmten Auflagen nur alle 3 Monate gestatteten Besuche von immer nur einer Person und genau 30 Minuten Dauer fanden unter diskriminierenden Bedingungen statt.
30 Minuten Sprechzeit: Besuchserlaubnisschein aus Waldheim. (BStU-Kopie)
Es war keine Berührung gestattet. Es durfte nur über private Angelegenheiten gesprochen werden. Bereits beim Hinweis auf ein Gnadengesuch wurde das Gespräch brutal unterbrochen. Für uns Inhaftierte waren die Besuche Hoffnung und Belastung zugleich: Wir durften unsere Angehörigen nach langer Pause nur kurz wieder sehen. Wer danach in die trostlose Zelle zurückkam, vermochte in der folgenden Nacht kaum zu schlafen. Aber auch die Besucher waren meist schockiert: in den unfreundlichen Besucher-Räumen blickten sie in unsere blassen, häufig auch traurigen Gesichter.
Uns Jugendliche besuchten meist die Mütter, bei zwei der Mitschüler waren es auch die Jugendfreundinnen und jetzigen Ehefrauen (nach über fünf Jahren Hoffen und Bangen und Warten auf die Entlassung!!); das bedeutete aber auch: aufgrund der strengen und letztlich unmenschlichen Besuchsregelungen musste die Mutter oder die spätere Ehefrau mindestens ein halbes Jahr (!) auf ein kurzes Wiedersehen warten, Geschwister und andere Familienangehörige gar bis zur Haftentlassung.
Die Besuchserlaubnis-Bestimmungen. (BStU-Kopie)
(BStU-Kopie)
»Zum Fenster hinausgesehen«: Ein hinreichender Grund für »Hausstrafen«. (BStU-Kopie)
Eine Jugendfreundin, die mich auf meinen ausdrücklichen Wunsch einmal in Waldheim besuchte (als »Verlobte« bekam sie eine Besuchserlaubnis), kann den damit verbundenen Schock auch nach Jahrzehnten nicht vergessen:
»Für mich war es das wahrscheinlich schrecklichste Erlebnis in meinem Leben. Ich war ja noch nie in einer Haftanstalt. Als ich zu Dir geführt wurde und eine Tür nach der anderen hinter einem zugeschlossen wurde, dachte ich, ich komme in meinem Leben da nicht mehr heraus. Da habe ich mir gesagt, da muß ich durch, ich muß dem Achim Mut machen. Wir müssen uns miteinander unterhalten. Für mich war das sehr, sehr erschütternd – das muß ich noch heute sagen: nicht nur das Türenzuschließen, sondern die Begegnung mit Dir.«37
Für Kleinigkeiten gab es zusätzliche »Hausstrafen«. Die Akten weisen aus, dass ich 1955 eine Verwarnung bekam, weil ich »zum Fenster hinausgesehen« hätte.38 Im als Faksimile abgedruckten Dokument heißt es in altdeutscher Schreibschrift »Zur Sache«:
»Ich gebe zu, daß ich am 17.7.55 gegen 20.30 zum Fenster hinaus gesehen habe. Zu diesem Zwecke habe ich die Blende hoch geschoben.
Dadurch habe ich m...