INTERPRETATIONEN RÖMER 13,1-7 ALS LOBREDE AUF DIE VERFOLGER
Manuel Vogel
Unter den gegenwärtigen deutschsprachigen Neutestamentlern ist Eckart Reinmuth derjenige, der beharrlich neutestamentliche Texte mit Fragestellungen der Politikwissenschaft und der Politischen Philosophie ins Gespräch bringt. Nicht zuletzt der Zeitschrift für Neues Testament (ZNT) hat er in den zehn Jahren seiner Mitarbeit wichtige Anstöße in diese Richtung gegeben, etwa in Thema und Titel von Heft 31 aus dem Jahr 2013 »Die neue Politik des Neuen Testaments«. In einer Festschrift, die nach dem Wunsch der Herausgeber »Studien im Anschluss an Eckart Reinmuth« enthalten soll, ist ein Beitrag zu Römer 13,1-7 schwerlich fehl am Platz, zumal an diesem Text in den letzten Jahren einige neue methodische Ansätze erprobt wurden. Über die Vielzahl an Aufsätzen und Ideen zu Römer 13,1-7 klagte freilich schon Ernst Käsemann im Jahr 1959:
»Wer die Auslegung unseres Textes in den letzten 30 Jahren zu überschauen und zu analysieren unternimmt, wird zum bedauernswerten Opfer der Wissenschaft, weil er in das sich fast unentwirrbar verschlingende Dickicht eines tropisch wuchernden Urwaldes gerät. Hauptgewinn seiner Anstrengung dürfte die Erkenntnis sein, dass Vergesslichkeit, Torheit und zügellose Phantasie als Fluch über dem Acker und Handwerk des Exegeten liegen. Auf kleinstem Raum baut Spekulation ihre Türme, Skrupulosität durchwaltet die Untiefen der Langeweile, Einfälle ersetzen immer wieder die Argumente, Vorurteile die Beobachtung, Wiederholung das Denken. Das einfache wird im gleichen Maße kompliziert, wie des Schreibens kein Ende ist«1.
In den bald sechs Jahrzehnten, die seit dieser Äußerung vergangen sind, ist das Interesse der Forschung an Römer 13,1-7 nicht erlahmt. Es gäbe Grund genug, angesichts der Fülle der seither erschienenen Literatur2 in das Lamento Käsemanns einzustimmen und sich, um nicht selber seinem Verdikt zu verfallen, eines eigenen Beitrags lieber zu enthalten. Aber Römer 13,1-7 ist als neutestamentlicher Text Teil jener Textsammlung, mit der die christlichen Kirchen und einzelne Christinnen und Christen bis heute ihre Weltbeziehungen aushandeln3. Die Frage nach dem Verhältnis zur Obrigkeit4 bleibt hierbei ein elementar wichtiges Thema und Röm 13,1-7 ein wichtiger Text. Daran, dass er im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte5 immer wieder als Orientierungspunkt für eine christliche Staatslehre verwendet wurde, ist er selber nicht ganz unschuldig6. Umso wichtiger ist es, ihn sich als unmittelbare Anrede (13,3b-7) in Betreff einer Grundsatzfrage (13,1-3a)7 zunächst einmal vom Leib zu halten und ihn wenigstens versuchsweise in die historische Distanz seiner Entstehungszeit zu rücken8. Wichtige methodische Fragen sind hierbei: (a) Welche Rolle spielt das unmittelbare textuelle Umfeld der Kapitel Röm 12f. für das Verständnis von Röm 13,1-7? (b) Lässt sich ein spezifischer situativer Kontext erheben, der es nahelegt, den Text als situationsgebundene Paränese zu verstehen? (c) Welches Licht wirft das weitere Umfeld hellenistisch-jüdischer und frühchristlicher Obrigkeitsparänese auf den Text? Mein eigener Zugang anhand der Diskussion dreier Aufsätze ist mehr oder weniger zufällig gewählt, verspricht aber, wichtige Schneisen in das aktuelle Forschungsfeld zu schlagen. Ich beginne (1.) mit einem Aufsatz von Roland Bergmeier von 1996, der das hellenistisch-jüdische und frühchristliche Vor- und Umfeld von Röm 13 form- und traditions-geschichtlich ausleuchtet. Der dann (2.) zu besprechende Aufsatz von Timothy L. Carter von 2004 versteht Röm 13,1-7 unter Rückgriff auf die antike Rhetorik als ironischen Text. Es folgt (3.) ein Aufsatz von Stefan Schreiber aus dem Jahr 2005, der für seine Lektüre von Röm 13,1-7 das soziologische Konzept der public/hidden transcripts aufgreift. Daran schließen sich (4.) meine eigenen in der Diskussion mit Bergmeier, Carter und Schreiber entwickelten Über-legungen zu Röm 13,1-7 an, die (5.) in einem Ausblick skizzenartig mit weiteren Texten der frühchristlichen Obrigkeitsparänese ins Gespräch gebracht werden sollen. Der Beitrag schließt (6.) mit einem Fazit.
1. HELLENISTISCH JÜDISCHE LOYALITÄTSPARÄNESE
In einem Aufsatz von 1996 hat Roland Bergmeier9 gegen (s.E. willkürliche) kontextbezogene und (s.E. spekulative) situative Zugänge zu Röm 13,1-7 auf den Traditionshintergrund der hellenistisch-jüdischen Loyalitätsparänese verwiesen, der nicht nur das Textstück selbst, sondern auch seine Stellung im literarischen Zusammenhang von Röm 12f hinreichend erklären soll. Zunächst verweist er mit Ulrich Wilckens10 auf einen aus Röm 13,1-7; 1Tim 2,2f; Tit 3,1ff und 1Petr 2,13-17 zu erhebenden frühchristlichen paränetischen Topos, der folgende Elemente umfasst: (a) Die Gehorsamsforderung gegenüber den staatlichen Gewalten, (b) die Charakterisierung der Staatsgewalt mit ὑπερέχειν, (c) ihr Bezug auf jedwede Gewalten und ihre Repräsentaten, (d) die Funktion der Gewalten im Ahnden des Bösen und Belobigen des Guten, (e) die Motive »Furcht« und »Ehre«, sowie (f) übereinstimmende Mahnungen betreffs des Verhaltens zu allen Menschen und den Brüdern. Der von Wilckens angestellte Textvergleich ergibt mit Blick auf Röm 13,1-7, dass »nicht nur die Loyalitätsforderung als solche sondern auch ihr Zusammenhang mit all-gemeiner Paränese traditionell vorgegeben waren«11. Diesen Sachverhalt verbindet Bergmeier dann mit dem weiteren hellenistisch-jüdischen Hinter-grund: »Die Wurzeln dieses Zusammenhangs reichen nun aber nicht nur in das früheste Christentum, sondern darüber hinaus in das Diasporajudentum der hellenistisch-römischen Zeit zurück«12. Als Textbelege nennt Bergmeier 3Makk 3,3-5 und Flav.Jos.Bell. 2,140f. Der erstgenannte Passus charakterisiert die Haltung der alexandrinischen Juden während der in 3Makk erzählten Religionsverfolgung: »Die Juden aber hielten unbeirrt fest am Wohlwollen und der Treue gegenüber den Königen […]. Da sie aber ihr gemeinschaftliches Leben mit dem Wohlverhalten gerechten Tuns schmückten, genossen sie Ansehen bei allen Menschen« (οἱ δὲ Ιουδαῖοι τὴν μὲν πρὸς τοὺς βασιλεῖς εὔνοιαν καὶ πίστιν ἀδιάστροφον ἦσαν φυλάσσοντες […] τῇ δὲ τῶν δικαίων εὐπραξίᾳ κοσμοῦντες τὴν συναναστροφὴν ἅπασιν ἀνθρώποις εὐδόκιμοι καθειστήκεισαν)13. Der zweite Textbeleg findet sich im josephischen Essenerportrait im zweiten Buch des Bellum. Der essenische Eintrittseid umfasst nach der Darstellung des Josephus u.a. folgende Elemente (Flav.Jos.Bell. 2,139f):
»Zuerst die Frömmigkeit gegenüber der Gottheit zu üben, dann zu bewahren, was den Menschen gegenüber gerecht ist […], Zuverlässigkeit zu zeigen gegenüber allen, vor allem aber gegenüber den Leitenden. Nicht nämlich ohne Gott wird jemandem Herrschaft zuteil. Und wenn er selbst ein Leitungsamt erhält, wird er sich niemals gegen seine Vollmacht übermütig vergehen noch durch ein Kleid oder übermäßigen Schmuck die Untergebenen überstrahlen«
(πρῶτον μὲν εὐσ...