TÜBINGEN II. FREIHEIT AUS ORTHODOXER UND EVANGELISCHER SICHT. THEOLOGISCHE TAGUNG, TÜBINGEN 29.05.–30.05.2017
LUTHER AUS ORTHODOXER SICHT UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG SEINER 95 THESEN
Metropolit Elpidophoros (Lambriniadis)
Ereignisse, die die Einheit der Kirche verletzen, sind Aspekte des kirchlichen Lebens, die in besonderer Weise untersucht werden müssen. Damit soll auf keinen Fall eine Erinnerung kultiviert werden, die die schmerzlichen Entwicklungen gleichsam auf ewig festschreibt. Auch gilt es keineswegs, die Spaltung zu rechtfertigen. Vielmehr geht es darum, zu erkennen, wie wir Fehler vermeiden können. Außerdem soll durch die Untersuchung eine Selbsterkenntnis gefördert werden, die die Liebe und Nachsicht mit den christlichen Brüdern im Einflussbereich Roms, aber auch mit allen anderen Menschen fördert. Die bessere Kenntnis der Schwierigkeiten und Probleme des Gegenübers hilft uns, dem anderen in Liebe und mit Verständnis zu begegnen.
Mein Interesse richtet sich an dieser Stelle auf die Erforschung der geschichtlichen Anfänge der Spaltung der westlichen Christenheit und insbesondere auf den Zeitraum von 1517–1521, der, wie sich aus den Texten und der zeitgenössischen Bibliographie ergibt, der »schwebende« Schritt für beide Lager – schließlich für uns alle – ist. In diesen Jahren bemühte sich Luther, sich innerhalb der römisch-katholischen Kirche zu halten und doch von seinen persönlichen Überzeugungen nicht abzulassen […]. Mein Interesse ist also in höchstem Maß ein kirchliches. In Luthers »Hier stehe ich« und in seiner Forderung nach Einberufung eines ökumenischen Konzils befinden wir uns heute tatsächlich vor einer unverhüllten Ökumene. Doch lassen Sie uns den historischen Rahmen der Reformation betrachten, so wie ihn ein orthodoxer Theologe sieht.
Am Beginn einer neuen Epoche
Das Spätmittelalter ab ca. 1300 ist von besonderem Interesse wegen der Gärungen, die auf allen Ebenen stattfanden und die Neuzeit ab ca. 1500 vorbereiteten. Das Mittelalter wird als Epoche durch die Una civitas Christiana1, die eine christliche Gesellschaft, gekennzeichnet. Das Streben nach dieser Einheit und ihre Verwirklichung war im Westen fast immer kriegerisch und bestand für viele in Unterdrückung. Die streng hierarchische Struktur der römisch-katholischen Kirche und die Unterwerfung von Königen und Völkern unter die Macht des Papstes war eine grundlegende Garantie für die Erhaltung dieser Einheit.
Darüber hinaus stellte Rom für die westliche Welt den sichtbaren Mittelpunkt der wirklichen Einheit der Kirche dar, und das gab ihm Möglichkeiten zur sozialen und politischen Durchsetzung gegenüber den Völkern des Westens (theokratische Ideen der Päpste, die zu einer Art Totalitarismus führten).2 Es gab zwar Perioden mit Neuordnungen, Zusammenstößen und Gärungen, aber sie wurden für gewöhnlich erstickt. Bekannt ist der Satz, der vor der Reformation zu hören war: reformatio ecclesiae in capite et in membris, und der die Forderung nach einer Erneuerung der Leitungsstrukturen der Kirche, aber auch des Lebens der Christen zum Ausdruck bringt.3 Jedenfalls leitet das Spätmittelalter die Neuzeit ein.4 Die Regeln, die Prinzipien und die Formen, die das Mittelalter gesteuert hatten, werden nach und nach heftig in Frage gestellt.5 Und schließlich werden sie aufgehoben, insbesondere durch die Reformation.6
Betrachten wir im Folgenden die Gründe für die Reformation aus orthodoxer Perspektive.
Die Reformation des 16. Jahrhunderts war das Ergebnis und die Folge einer schwerwiegenden geistlichen Krise in der Kirche des Westens.7 Die Erschütterung der scholastischen Theologie, der totalitäre Zentralismus und die rationalistische Autorität der römisch-katholischen Kirche führten diese in eine institutionalisierte Verweltlichung, welche die individuelle Unterwerfung unter eine sichtbare Gewalt nach sich zog.8 Schließlich zementierte die Reformation als aus dem Schoß der römisch-katholischen Kirche hervorgegangene Antwort die absolute Geltung der unpersönlichen Autorität der Heiligen Schrift, die zur unumschränkten Autonomie des Individuums führt.9 Zugleich aber empfahl sie, das Leben und die Kultur der Menschen zu christianisieren.10
Beweise für die Auflösung der christlichen Einheit im europäischen Westen bzw. Elemente, die ihr Verschwinden anzeigen, sind zahlreich. Sie erschütterten vor allen Dingen die damals als unzweifelhaft geltende päpstliche Autorität.11
Wir führen folgende charakteristische Punkte auf:
1) Avignon. Der zuvor mit geradezu weltumspannender Macht ausgestattete Papst wird fast zu einem einfachen Bischof des französischen Königshofes herabgestuft (»Babylonische Gefangenschaft des Papsttums« 1309–1377). Das Große Abendländische Schisma 1378–1415 führte zur kirchlichen Spaltung des Westens in zwei einander bekämpfende Lager. Die Reformkonzilien (Pisa 1409, Konstanz 1414–1418 und Basel 1431), die einen nationalen Charakter hatten und von einem unvollkommenen konziliaren Geist beseelt waren, zielten auf die Neugestaltung der Machtfaktoren ab.12 Das Gesamtklima wurde durch das Wirken der Renaissancepäpste belastet, die sich wie italienische Feudalherren verhielten.13 Im Gegensatz zur Verhaftung an die Idee des mittelalterlichen Universalismus bedeutet das Auftreten der soeben genannten Entwicklungen den Ausdruck eines stetig wachsenden kirchlichen Nationalismus.14
2) Die nationalpolitische Zerstückelung Westeuropas durch den Aufstieg großer nationaler Königreiche bringt auch das Auftreten von Kirchen mit Nationalcharakter mit sich. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist die Tendenz zur Bildung starker lokaler Kirchenverwaltungen in Deutschland.15
3) Die Ablehnung des Westens gegenüber den Aufrufen der Päpste zum Krieg gegen die Feinde des Christentums (moslemische Araber und Osmanen). Diese Ablehnung wird stärker, als zwei Päpste für ökonomische Gegenleistungen Sultansbrüder als Geiseln an ihrem Hof aufnehmen. Der Fall Konstantinopels zeigt die Unfähigkeit des zerrissenen Europa, gemeinsame Ziele zu verfolgen.16 Schon seit dem 14. Jahrhundert hatte die Tendenz zur Emanzipation der Staaten des Westens aus der Abhängigkeit vom Papst sich zu zeigen begonnen. Könige und Fürsten stimmten nicht mit der Lehre vom einen und einheitlichen Europa mit dem Papst als Oberhaupt überein.17
4) Die Abspaltung des häretischen Böhmen:18 Die reformatorischen Bewegungen und Ideen des John Wyclif († 1374)19 beeinflusten den Böhmen Jan Hus († 1415), der der Anführer der reformatorischen Bewegung Böhmens und Professor der Universität Prag war. An der Universität Prag wurden schon seit dem 14. Jahrhundert reformatorische Bewegungen gepflegt und Kritik an der verweltlichten Kirche geübt, und zwar nicht nur von Laienpredigern (Johannes Milic, Matthias von Janov), sondern auch von Bischöfen, Priestern und Mönchsorden und mit der Unterstützung der staatlichen Kräfte. Die Ansicht, die Reformation sei ein Auslöser für die Verweltlichung der Kirche im Westen gewesen, ist reichlich oberflächlich, weil die Reformatoren genau das entgegengesetzte Ziel hatten, nämlich die Verweltlichung der Kirche seitens der römischen Päpste durch die Rückkehr zum urchristlichen Leben abzuwenden.20 Zu erwähnen ist auch das Abendländische Schisma von 1378 bis 1415, in dessen Folge es zu einer zunehmenden territorialen Aufspaltung der abendländischen Gesellschaft kam. Diese hatte sogar das Aufkommen territorialer oder gar »nationaler« kirchlicher Verwaltungseinheiten zur Folge.
Die heftige Kritik führte zu einer religiösen Verinnerlichung21 – was sicher mit den mystischen Theologen des Mittelalters zu tun hat – aus der die »Devotio moderna«22 und das Bemühen um die Freiheit der Kirche23 (Libertas Ecclesiae)24 hervorgegangen sind.
Jan Hus25 wurde 1415 von der römisch-katholischen Kirche verurteilt und nach einem Beschluss des Konzils von Konstanz auf dem Scheiterhaufen verbrannt.26
Vereint mit den südböhmischen Waldensern27 gelangten seine Anhänger, die Hussiten, zur Reformation und 1419, nachdem sie sich von der römisch-katholischen Kirche getrennt hatten, zum Aufstand gegen die Kirche und den Kaiser.28 Das Ergebnis war die Stärkung der politischen Kräfte (unter Ausschlus des Klerus von der Einmischung in die politischen Abläufe) und die Verpflichtung zur gleichrangigen Koexistenz der beiden Kirchen (Katholiken und Utraquisten)29 mit je eigenen Vertretern in der Regierung und mit gleichrangigen Kirchenräten.30 Nach neuerlichen Auseinandersetzungen wurde schließlich 1485 im Kuttenberger Religionsfrieden die Gleichheit der beiden Glaubensrichtungen bestätigt.31 Zur internen Schwächung der Kirche trug vor allen Dingen der Nominalismus des Franziskanertheologen Willhelm von Ockham (1290–1349)32 bei, der mit seiner Via moderna33 die theologische Methode des Scholastikers Thomas von Aquin († 1274) und seiner Via antiqua34 verwarf. Den inneren Zusammenhang der Natur mit Gott (natürlic...