II LUTHERS UMFELD
WITTENBERGS STADTBILD IN DER REFORMATIONSZEIT
Insa Christiane Hennen*
1. ECKDATEN DER WITTENBERGER STADTGESCHICHTE BIS IN DIE REFORMATIONSZEIT
Aus dem Jahr 1187 ist die erste Erwähnung des Burgwarts überliefert, den Albrecht der Bär anlegte und aus dem sich die städtische Siedlung entwickelte.1 Mitte des 13. Jahrhunderts (1248) bestand der Vorgängerbau der Wittenberger Pfarrkirche, und zwischen 1261 und 1273 dürfte die Gründung des Franziskanerklosters erfolgt sein.2 1293 wird das mittlerweile verliehene Stadtrecht bestätigt, 1353 die Burgkapelle zur Stiftskirche Allerheiligen ausgebaut.3 1422 fällt der Kurkreis und damit Wittenberg an die Wettiner, die die Residenz regelmäßig besuchen und wiederholt Anstrengungen zur Verbesserung der Stadtbefestigung unternehmen bzw. den Rat dazu anhalten: um 1430/31 vor dem Hintergrund der Hussitenkriege, 1449 und besonders zwischen 1478 und 1487.4 Nach der Leipziger Teilung (1485) und dem Tod seines Vaters beginnt Friedrich der Weise 1486 den Ausbau der Residenz, 1502 gründet er die Leucorea.
Um 1517 existiert die Stadt Wittenberg also seit ungefähr 300 Jahren. Seit 15 Jahren ist sie eine Universitätsstadt. Der mit der Gründung der Hohen Schule verbundene Funktionszuwachs und der mit ihrer Eröffnung einsetzende Zuzug von »Fremden« wird allgemein als Motor der Stadtentwicklung anerkannt und wirkte sich selbstverständlich auch auf das Stadtbild aus. Hans-Joachim Mrusek bezeichnet dennoch zu Recht den »Neubau des Schlosses als den Anfang der Neugestaltung der gesamten Stadt«.5 Der Ausbau der Residenz ist als Voraussetzung der Gründung der Universität anzusehen, als die maßgebliche Entscheidung für alles, was folgte.
Thomas Lang konnte zeigen, dass bereits Vorgänger Friedrichs des Weisen wegweisende Entscheidungen für den Aufschwung Wittenbergs im 16. Jahrhundert getroffen hatten, neben jener zum Ausbau der Stadtbefestigung vor allem wohl die zum Bau der Elbbrücke, der zwischen 1449 und 1451 erfolgte.6
2. BEGRIFFLICHKEITEN UND FRAGESTELLUNG
Wie haben wir uns das Stadtbild Wittenbergs in der Reformationszeit vorzustellen?
Bevor wir uns dieser Frage widmen, erscheint es notwendig, den Begriff »Stadtbild« zu bestimmen und die zu betrachtende Spanne der Reformationszeit zeitlich einzugrenzen. Mit »Stadtbild« wird im Folgenden nicht nur das Aussehen der Gebäude in der Stadt bezeichnet. Auch die Stadtstruktur und die Bewohner, die die Gassen, Straßen und Plätze beleben, gehören zum Stadtbild. Was die Reformationszeit angeht, so kann man sich nicht auf die frühe Phase, d. h. die Jahre zwischen 1517 und 1528 (Erste Kirchenvisitation) oder 1530 (Confessio Augustana) beschränken. Denn unter dieser Prämisse ließe sich das Stadtbild allenfalls schemenhaft aufgrund von Negativ-Befunden umreißen; nach derzeitigem Forschungsstand hat sich nämlich kein einziges Wohnhaus erhalten, das vor der Mitte der 1530er Jahre erbaut wurde. Die Bewertung des Wandels, den das Stadtbild Wittenbergs in den ersten Jahrzehnten des »Reformationsjahrhunderts« erfuhr, erfordert die Beachtung auch der weiteren Entwicklung bis in die 1560er Jahre hinein.
Um eine detaillierte Vorstellung des Aussehens der Stadt zu gewinnen, ist es notwendig, bauliche, bildliche und schriftliche Quellen heranzuziehen und ins Verhältnis zu setzen.
3. QUELLENLAGE
Ansichten »sehenswerter« Städte in gedruckter Form kommen in der Mitte des 15. Jahrhunderts auf. Durch die 1493 erstmals aufgelegte »Schedelsche Weltchronik« und andere große Veduten- und Kartenwerke werden reale und freiere Bilder von Städten weit verbreitet.7
Bei diesen frühen Stadtansichten handelt es sich im Allgemeinen um keine zuverlässigen Abbildungen im Sinne von exakten Wiedergaben »eins zu eins«, sondern um »Darstellungen«, die die funktional bedeutenden Gebäude, die Gehäuse der Macht oder der Glaubenspraxis, hervorheben und andere, nach Ansicht des Künstlers (oder seines Auftraggebers) nebensächliche Bauten summarisch angeben; dementsprechend ragen Türme aus Häusermeeren, und auch die umgebenden Landschaften bis hin zur oft detailliert ausgeführten Vegetation werden ganz im Vordergrund (am unteren Bildrand) eher erzählerisch behandelt und phantasievoll aufgeladen.
Abb. 1: unbek. Künstler, Ansicht Wittenbergs aus dem Reisebuch des Pfalzgrafen Otthein-rich, 1537
So erscheinen die in Wirklichkeit sanften Hügel des Flämings in dem 1537 für das Reisebuch des Pfalzgrafen Ottheinrich geschaffenen Aquarell, mit dem die bildliche Überlieferung zu Wittenberg einsetzt, als regelrechtes Gebirge; die Standorte von Rathaus und Pfarrkirche sind vertauscht, einige Gebäude in ihrer Lage gedreht, die Stadtbefestigung ist zugunsten der Sichtbarkeit der Bauten vermutlich niedriger dargestellt als sie war, während die städtebaulichen Dominanten überhöht erscheinen.
Ähnlich verhält es sich bei dem im Detail teilweise geradezu grob ausgeführten Holzschnitt, den die Cranach-Werkstatt 1558 lieferte:
Abb. 2: Cranach-Werkstatt, Ansicht Wittenbergs, Holzschnitt, 1556/58
»Das Schlos«, die »Pfar kirch«, das »Collegium«, »Philippi haus« und das »Closter« sind jedoch durch die Beschriftungen zweifelsfrei kenntlich, Melanchthons Haus auch durch den markanten Giebel, der in der 20 Jahre vorher entstandenen Zeichnung aus dem Reisebuch noch fehlt. Die nach dem Schmalkaldischen Krieg erneuerten Turmaufsätze der Stadtkirche sind ebenfalls gut erkennbar wie auch das nordwestliche Treppenhaus des Schlosses.
Die meisten frühen Ansichten Wittenbergs zeigen die Stadt von Süden her, von einem realen oder fiktiven Standpunkt am linken Ufer der Elbe. In der Angabe der Dominanten stimmen sie trotz der angesprochenen Ungenauigkeiten weitgehend überein: Der Schlosskomplex im Westen, die Pfarrkirche mit ihren Doppeltürmen im Zentrum, die Universitätsbauten und das Hauptgebäude des ehemaligen Augustinereremitenklosters im Osten sind als die Wahrzeichen der Stadt und aus der Ferne erkennbare Landmarken stets zu finden. Dazwischen bezeichnen große, hohe, der Bedeutung des Gebäudes »angemessene« Dächer das Rathaus und eventuell den Sitz des Stadtpfarrers und Superintendenten. Wesentlich ebenbildlicher als diese Stadtprospekte sind die 1626/29 entstandenen Zeichnungen des Landvermessers Wilhelm Dilich, die jedoch den Zustand zu Anfang des 17. Jahrhunderts zeigen.8
Der älteste Stadtgrundriss wird von Andreas Goldmann zur selben Zeit, nämlich um 1623, aufgenommen.
Abb. 3: Andreas Goldmann, Stadtgrundriss Wittenbergs, Zeichnung
Er beschreibt erstaunlich genau die Lage der Stadt in der Landschaft am rechten Ufer des »Elbstrohm[s]«, die aus nordöstlicher Richtung in die Stadt fließenden Bäche, die Anbindung der Siedlung an die Fernstraßen, die Brücke, die Stadtbefestigung mit den drei Toren im Westen, Süden und Osten sowie die Vorstädte. Gut erkennbar sind auch hier das Schloss im Westen, die Stadtpfarrkirche im Zentrum, das Rathaus auf dem Marktplatz, die Universitätsgebäude im Norden und Osten. Die Stadtbefestigung mit Mauer, Graben und Wall fasst die Stadt wie ein Gürtel ein. Der Grundriss Wittenbergs folgt dem Anger-schema und ähnelt darin dem von Jüterbog und anderen Städten der Umgebung. Die Struktur verweist indirekt auf den Ausgangspunkt der Stadtentwicklung, die Burg im Westen. Dort »entspringen« die beiden Hauptstraßen. Der 1623 festgehaltene Stadtgrundriss entspricht im Wesentlichen dem heutigen Zustand. Jedes mit einer Nummer oder einer anderen Inschrift versehene Kästchen markiert eine Hausstelle; der Umriss der auf dieser Hausstelle vorhandenen Bebauung ist jedoch nicht wie bei einem modernen Kataster angegeben, so dass allein auf der Grundlage dieser Karte nicht von einer lückenlosen Bebauung entlang der Straßen ausgegangen werden darf. Auch fehlen die genauen Grundstücksgrenzen.9
Das Aquarell aus Ottheinrichs Reisebuch (siehe Abb. 1) porträtiert die prosperierende Residenz- und Universitätsstadt des Jahres 1536/37. Der 1623 entstandene Plan von Andreas Goldmann (siehe Abb. 3) hält das Ergebnis der großen Veränderungen des 16. Jahrhunderts fest, auf die im Folgenden einzugehen sein wird. Viele Bauten, die Goldmann dokumentiert, existierten noch nicht in der frühen Reformationszeit: so das »Consistorium« am Nordende der »Juristengaße« und auch der Nord- und Westflügel des erst nach 1564 zum Stipendiatenwohnhaus ausgebauten, heutigen »Lutherhauses«, im Plan als »Convictorium« bezeichnet, werden erst im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts errichtet. Vorreformatorische Institutionen sind inzwischen verschwunden, früher durch Geistliche oder geistliche Einrichtungen genutzte Grundstücke Bauland geworden.10
Von großflächigen Stadtbränden blieb die Kernstadt Wittenbergs über die Jahrhunderte verschont. Kriegerische Zerstörungen betrafen Wittenberg 1760 und 1813. Die Vorstädte wurden im Laufe der Geschichte fünfmal zerstört.11 In den 1630er Jahren wurden zahlreiche Wohnhäuser innerhalb der Mauern abgebrochen (wie auch in jüngerer und jüngster Zeit). Verluste an älterer Bausubstanz traten ebenfalls ein, als die Stadt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts noch einmal einen Aufschwung ...