Margot Käßmann
Taufe ist Gottvertrauen
Predigt zu Joh 3,1-16
6. September 2015
Liebe Gemeinde,
»Erkenntnis« ist das Thema dieser Predigtreihe. Oh ja, um Erkenntnis ringen wir als Christinnen und Christen immer wieder. Nie können wir Gott vollkommen begreifen. Immer wieder ringen wir mit Zweifel und suchen nach Antworten im Glauben. Und zwar schon seit den Zeiten Jesu. Eine Begebenheit, die das Johannesevangelium erzählt, zeigt das wunderbar. Sie wird als »Nikodemusnachtgespräch« bezeichnet, und wir haben den ersten Teil eben als Evangelienlesung gehört.
I. Die Situation
Nur beim Evangelisten Johannes finden wir dieses Gespräch. Wenn Sie beim Hören eben gedacht haben: Was ist gemeint? Das ist mir schwer verständlich, kann ich Sie beruhigen: Das fand sogar der große Theologe und Johannesexperte Rudolf Bultmann. Das ganze Gespräch atmet, so Bultmann, »die Atmosphäre des Mysteriösen«.
Schauen wir uns die Situation zunächst näher an. Ein Mann namens Nikodemus, offenbar bekannt, von Jesus sogar als »Lehrer Israels« angesehen (Joh 3,10), kommt zu Jesus nach Anbruch der Nacht. In der Literatur und in vielen Predigten wird das als Ängstlichkeit interpretiert: Der Mann mit einer führenden Position im Hohen Rat wagt es nicht, öffentlich mit Jesus zu sprechen. Aber wovor sollte er Angst haben? Um seinen Ruf? Das können wir schon nachvollziehen nach dem Motto: Mit dem möchte ich lieber nicht gesehen werden. Der Evangelist Johannes selbst sieht Nikodemus wohl als opportunistisch an. Jedenfalls sagt er über die »Oberen«, die sich aus Furcht nicht offen zu Jesus bekennen: »Doch auch von den Oberen glaubten viele an ihn; aber um der Pharisäer willen bekannten sie es nicht, um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden. Denn sie hatten lieber Ehre bei den Menschen als Ehre bei Gott« (Joh 12,42 f.).
Das bedeutet wohl: Da sympathisieren einige bedeutsame Leute durchaus mit Jesus und seiner Lehre, aber outen, wie wir das heute sagen, wollen sie sich nicht. Sie könnten ja ihre Anerkennung aufs Spiel setzen.
Nikodemus taucht mehrfach auf im Johannesevangelium. Er tritt für ein faires Verfahren gegen Jesus ein (Joh 7,50 f.), und er ist es, der gemeinsam mit Josef von Arimatäa für eine würdige Bestattung Sorge trägt (Joh 19,39 ff.). Wäre es nicht auch möglich, dass Nikodemus schlicht Interesse an der Lehre Jesu hatte, nachdenklich war und offen das Gespräch suchte? Dass es abends stattfand, ist nicht außergewöhnlich.1
Die Situation könnte doch schlicht sein: Zwei Männer kommen am Abend zusammen und führen ein intensives Gespräch über die Grundfragen des Lebens und des Glaubens. Das gibt es doch auch noch heute. Und mit und auch unter Frauen! Abseits von aller Geschäftigkeit des Alltags gibt ein solcher Abend Raum für Dialoge, die tasten, fragen, nicht gleich alles unter Ergebnisdruck stellen. So verstehe ich dieses Gespräch, ein Ringen um Antworten im Glauben, die alle nicht leicht zu finden sind.
Und es ist gut, wenn es solche Gespräche gibt. Allzu selten stellen wir uns diesen Glaubensfragen: Glaubst du an Auferstehung? Kann ich sagen, dass Jesus Christus für mich der Weg, die Wahrheit und das Leben ist? Was heißt Gottessohnschaft? Was bedeutet mir die Taufe? Sind wir als Kirche offen genug für Menschen wie Nikodemus, die interessiert sind, aber nicht gleich konvertieren oder sich bekennen? Und reden wir so vom Glauben, dass Menschen spüren: Das geht mich an. Das ist nicht weltfremdes Gerede, sondern ich verstehe, was gemeint ist. Ich denke, wir brauchen mehr Nikodemusnachtgespräche in unserer Zeit! Aber schauen wir uns den Dialog näher an.
II. Das Gespräch
Erst einmal stellt Nikodemus gar keine Frage, sondern erkennt Jesus als Lehrer im Glauben an. Wir befinden uns ja ganz am Anfang des Evangeliums. Johannes der Täufer hat erkannt, dass der Geist Gottes bei Jesus ist, und die Hochzeit zu Kana mit dem Weinwunder sowie die Tempelreinigung sind erste Zeichenhandlungen. Niemand kann solche Zeichen tun, wenn Gott nicht mit ihm ist, erkennt Nikodemus. Darauf reagiert Jesus mit seiner zentralen These: »Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen« (Joh 3,3).
Im Grunde ist das Johannesevangelium noch radikaler: Nicht nur wie ein Kind werden müssen wir, um das Reich Gottes zu finden, nein, neu geboren werden. Was kann das heißen? Genau das fragt Nikodemus: »Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?« (Joh 3,4). Das ist, finde ich, eine sehr angenehm realistische Frage! Kann denn ein alter Mann neu anfangen? Gibt es das wirklich, als alte Frau alles hinter sich lassen, noch einmal zurück auf Los? Ich sehe solche Thesen mit wachsendem Unbehagen. Beim letzten Kirchentag war ich auf einem Podium zur Zukunft des Alterns in Deutschland. Eine Wissenschaftlerin beschrieb, dass wir alle immer älter werden, ständig Neues lernen sollen, neue berufliche Wege einschlagen, uns neu orientieren … Ich habe tiefe Erschöpfung gefühlt. In unserer Gesellschaft sollen wir uns alle verjüngen, ob durch Botox oder Haarimplantate, neu aufbrechen sollen wir, mobil und flexibel sein. Vielleicht möchte ich aber gar nicht mehr ständig neu anfangen, sondern endlich mal Ruhe haben und alles lassen, wie es ist? Da kann die Forderung, neu geboren zu werden, ja auch Stress auslösen! Oder ist etwas ganz anderes gemeint als der Jugendwahn unserer Zeit?
Ein Geburtsvorgang ist ein tiefgreifendes einmaliges Geschehen. Ein Neugeborenes fasziniert, weil dieser Anfang immer wieder ein Wunder ist. So klein kann Leben beginnen! Es geht Johannes um eine Erfahrung von Neu-Werden, die das Leben von Gott her orientiert. Nicht aus mir selbst, sondern aus Gnade lebe ich. Aus Gottes Lebenszusage und nicht aus meinen Leistungen definiere ich den Sinn meines Lebens, im Glauben finde ich Halt im Leben und im Sterben – sola gratia und sola fide, wie die Reformatoren es konzentriert ausgedrückt haben.
III. Wasser und Geist
Was kann das aber heißen, aus dem Geist geboren? Erst wird vom Geist gesprochen, dann vom Wasser: »Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen« (Joh 3,5).
Oh ja, jetzt kommen wir in diffiziles ökumenisches Minengelände! Da gibt es diejenigen, vor allem Baptisten, die sagen: erst der Geist, dann das Wasser – der Taufe! Für die Reformierten ist diese Frage nach Geistwirken besonders wichtig. So heißt die Frage 53 im Heidelberger Katechismus, dessen 450. Jubiläum wir in diesem Jahr feiern: »Was glaubst du vom Heiligen Geist?« Und die Antworten lauten:
Erstens:
Der Heilige Geist ist gleich ewiger Gott mit dem Vater und dem Sohn.
Zweitens:
Er ist auch mir gegeben und gibt mir durch wahren Glauben Anteil an Christus und allen seinen Wohltaten. Er tröstet mich und wird bei mir bleiben in Ewigkeit.
Für die Getauften ist der Heilige Geist in dieser Tradition also bleibender Beistand Gottes.
Das kann ich auch als Lutheranerin mitsprechen. Da sind wir uns sehr nahe! Für Martin Luther wurde immer klarer: Die Taufe ist das zentrale Ereignis und Sakrament. Hier sagt Gott einem Menschen Gnade, Liebe, Zuwendung, Lebenssinn zu. Und alles Scheitern, alle Irrwege des Lebens können das nicht rückgängig machen. Gehen wir zur Taufe zurück, brauchen wir keine Buße, kein Bußsakrament: Wir sind erlöst, wir sind längst Kinder Gottes. »Baptizatus sum« – ich bin getauft. In den schwersten Stunden seines Lebens hat Martin Luther sich das gesagt und darin Halt gefunden. Mit der Taufe gehöre ich zur Familie der Kinder Gottes. Mein Leben steht so in einem neuen Licht. Und Gottes Geist wird mir Kraft geben, in den schwersten Stunden meines Lebens.
Und auch das ist reformatorische Erkenntnis: Jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, ist Priester, Bischof, Papst. Von daher hat Luther auch den Respekt gegenüber Frauen entwickelt. Sie sind getauft, und damit stehen sie auf gleicher Stufe. Zu sagen: Wir sind getauft und damit vor Gott gleich, war ein theologischer Durchbruch und zugleich eine gesellschaftliche Revolution. Aus diesem Taufverständnis entwickelte sich durch die Jahrhunderte – aber was sind schon Jahrhunderte in der Kirchengeschichte – die Erkenntnis, dass Frauen ja auch getauft sind und somit jedes kirchliche Amt wahrnehmen können. Mir ist wichtig, die theologischen Hintergründe deutlich zu machen, gerade da, wo von anderen Kirchen die Ordination von Frauen in Pfarr- und Bischofsamt angefragt wird. Es geht nicht um Zeitgeist, es geht um Theologie.
Das gilt auch mit Blick auf Rassismus. In Südafrika erzählte ein Missionar, dass viele weiße Farmer sich in der Zeit der Apartheid dagegen wehrten, dass ihre schwarzen Arbeiter getauft werden sollten. »Dann sind sie ja wie wir« – eine tiefe theologische Einsicht, denn genau so ist es! Die Taufe ist ein Zeichen gegen alle rassistischen, sexistischen und anderen Ausgrenzungen innerhalb der Gemeinschaft der Kirche.
IV. Reformatorische Erkenntnis
Zölibatäres Leben galt vor der Reformation als vor Gott angesehener, der gerade Weg zum Himmel sozusagen. Für viele Reformatoren war der Schritt zur Ehe ein Zeichen, dass auch Leben in einer Familie, mit Sexualität und Kindern von Gott gesegnetes Leben ist. Die öffentliche Heirat von bisher zölibatär lebenden Priestern und Mönchen und Nonnen, war ein theologisches Signal. Die Theologin Ute Gause erklärt, sie sei eine Zeichenhandlung, die »etwas für die Reformation Elementares deutlich machen wollte: die Weltzuwendung und demonstrative Sinnlichkeit des neuen Glaubens«. Nun wird ja den Evangelischen im Land eher unterstellt, dass sie weniger sinnlich seien als die römischen Katholiken oder die Orthodoxie. Die Reformatoren aber wollten gerade deutlich machen: Weltliches Leben ist nicht weniger wert als priesterliches oder klösterliches. Es geht darum, im Glauben zu leben im Alltag der Welt – das ist eine weitere wichtige reformatorische Erkenntnis.
Aber kann die Kindertaufe wirkmächtig sein, wenn Menschen nicht auch mit ihrem Verstand, mit bewusstem Ja zur Taufe stehen? Muss es dann nicht eine zweite Taufe als Erwachsener geben oder nur eine Erwachsenentaufe?
Schon zu reformatorischen Zeiten war das eine Auseinandersetzung. Die von den Gegnern so genannten Anabaptisten oder Wiedertäufer wurden hart verfolgt von der »Mainline-Reformation«. Ihnen lag an einer Gläubigen- bzw. Erwachsenentaufe, denn die Taufe setze aus einem persönlichen Bekenntnis zu Jesus Christus voraus. Die Säuglingstaufe sei unbiblisch und damit ungültig, die Erwachsenentaufe also eine Ersttaufe.
Wir haben manche Differenzen überwunden. Bei seiner Vollversammlung in Stuttgart hat der Lutherische Weltbund am 22. Juli 2010 ein Schuldbekenntnis gegenüber den Mennoniten als geistlichen Erben der zur Reformationszeit brutal verfolgten Täuferbewegung abgelegt. Das war wichtig. Und heilsam. Die reformatorischen Kirchen aber halten an der Praxis der Säuglingstaufe fest. Zum einen macht sie die theologische Erkenntnis anschaulich, dass nichts, was ich leiste, mir vor Gott Anerkennung gibt, sondern ich ganz von Gottes Zusage her lebe. Ein Säugling leistet nichts und doch sagt Gott Ja zu seinem Leben. Zum anderen zeigt sie, dass ich Gott niemals ganz verstehen werde. Würden wir nur Menschen taufen, die alles von Gott verstanden haben, wir könnten niemanden taufen. Denn auch wer sich als Jugendlicher oder Erwachsener taufen lässt, ist nicht im Besitz der ganzen Wahrheit über Gott, sondern versteht sich als Kind Gottes.
Im Jahr 2007 haben fast alle Kirchen in Deutschland ihre Taufe erstmals formell gegenseitig anerkannt und so ein gewichtiges Zeichen der Gemeinsamkeit gesetzt. Der römisch-katholische Bischof Feige sagte damals, die gegenseitige Anerkennung zeige, »dass mit der Taufe etwas gegeben ist, was getrennte Kirchen und Christen fundamental verbindet«. Diese Rückbesinnung auf die Taufe schließt zwar leider noch nicht alle und überall ein. Die Taufanerkennung kann aber ein gewichtiger ökumenischer Schritt sein. Ich erinnere mich gut daran, wie überlegt wurde, welches sichtbare Zeichen von Gemeinschaft denn beim Ersten Ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003 gesetzt werden könnte. Es war am Ende im Schlussgottesdienst die Tauferinnerung. Protestanten und Katholiken und Christen anderer Konfession malten einander mit Taufwasser gegenseitig ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Mich hat das berührt.
V. Vom Unterscheiden der Geister
Aber wie verhalten sich Geist und Taufe? Wirkt die Taufe die Anwesenheit des Geistes? Manches Mal haben wir ja eher Angst vor zu viel Geistwirken. Das war schon bei den Reformatoren so, Luther eil...