Kapitel II
Vergleichende Perspektiven
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Ist Sterben ein Gewinn?
Religiöse und kulturelle Überlieferungen in der Nahsicht
1.Auferstehung der Toten
1.1Nachtodliches Leben in der Religionsgeschichte
Dass die Toten nicht tot sind, vielmehr auf irgendeine Weise weiterleben, ist Grundüberzeugung fast aller Religionen. Auf welche Weise sie weiterleben, liest sich allerdings äußerst verschieden und hängt ab von der jeweiligen Deutung des Daseins.
Leben im Kreislauf der Wiedergeburten kennt insofern kein »Danach«, als im nächsten Leben die Verfehlung oder der karmische Gewinn sich verwirklicht. So sind die indischen Religionen (vor allem der Hinduismus als Plural von Religionen) vorwiegend Religionen der Askese, des Maßes, das sich vom Unrechten fernhält, um in einer neuen Wiedergeburt (im karmischen Samsara) gerechten Ausgleich zu erhalten. Glücksgüter wie hohe Geburt in hoher Kaste, Reichtum, Gesundheit sind solcher Ausgleich, der seinerseits mäßig eingesetzt werden muss, um nicht im Rad »herunterzufallen«. Dem dient auch die letzte ideale vierte Lebensstufe des Brahmanen, der sich als Einsiedler in den Wald zurückzieht, um dort »abgeschieden« (im Doppelsinn des Wortes) zu leben. Dass dies die Frau nicht vollziehen kann, wirft freilich ein Licht auf das mangelnde Glück des Frauseins überhaupt. Ihr Ziel ist wesentlich die Mannwerdung in einer nächsten Geburt, wie es noch im Ur-Buddhismus postuliert wird.
Die griechische Variante kennt nur ein »dunkles Danach«: die Unterwelt. Glück ist zu Lebzeiten schwankend, solange kein zuständiger göttlicher Wille angenommen wird, der vorsehend und sorgend das Schicksal (áte) lenkt. So sieht die griechischrömische Welt das Schicksal als Verhängnis der Götter und den Tod als Nicht-Wiederkehr, als schwächliches Leben in einer Schattenwelt oder als völligen Zerfall. Daraus ergibt sich ein deutliches Grauen vor dem Tod, abzulesen beispielsweise an Kaiser Hadrian (76–138), dessen Imperium damals die »ganze Welt« umfasste und der als Ästhet und Förderer der Künste unter vielen Bauten auch das Pantheon, die Engelsburg und die Villa Hadriana schuf. Aber am Ende seines Lebens notierte er die dunklen Zeilen:
Seele, du schweifende, zärtliche,
Leibes Gefährtin und Gast,
nun führt ins düstere Reich
fröstelnder Schatten dein Weg,
und nie scherzest du fürder wie einst …1
Die liebevolle und weiche Anrede der animula, Seele, du, tritt in Gegensatz zu dem kalten Dunkel der Unterwelt – so die römische Vorstellung vom Jenseits.
Darauf gibt es zwei Antworten: Resignation oder raschen, heftigen Genuss. Das jüdische Buch der Weisheit (1, 16 – 2, 12) kennzeichnet beide, die landläufige Skepsis und die Lebensgier der griechischen Welt im 4./3. Jh. v. Chr., wie sie die Frommen gerade nicht teilen:
Die Frevler aber holen winkend und rufend den Tod herbei und sehnen sich nach ihm wie nach einem Freund. […] (Sie sagen:) Kurz und traurig ist unser Leben; für das Ende des Lebens gibt es keine Arznei, und man kennt keinen, der aus der Welt des Todes befreit. Durch Zufall sind wir geworden, und danach werden wir sein, als wären wir nie gewesen. Der Atem in unserer Nase ist Rauch, und das Denken ist ein Funke, der vom Schlag des Herzens entfacht wird; verlöscht er, dann zerfällt der Leib zu Asche, und der Geist verweht wie dünne Luft. […] Unsere Zeit geht vorüber wie ein Schatten, unser Ende wiederholt sich nicht; es ist versiegelt, und keiner kommt zurück. Auf, laßt uns die Güter des Lebens genießen und die Schöpfung auskosten, wie es der Jugend zusteht. […] Unsere Stärke soll bestimmen, was Gerechtigkeit ist; denn das Schwache erweist sich als unnütz. Sie verstehen von Gottes Geheimnissen nichts.2
1.2Hoffnung auf Jenseits?
Angst vor der Unterwelt und Verdoppelung des Diesseits
Bleibt also erfülltes Leben in den Religionen überwiegend dem Jenseits vorbehalten? Ja und nein.
Das Jenseits gilt häufig als gesteigerte Weiterführung oder Verdoppelung des Diesseits. Im alten Ägypten war es handgreiflich üblich, nicht nur in einmaligen Grabbeigaben für Essen und Trinken zu sorgen, sondern »dass der Priester täglich hereintritt zu Ptach und ihm den Mund öffnet mit dem dazu kräftigen Werkzeug, dass er trinken und essen möge, und erneuert ihm täglich auf seinen Wangen die Schminke des Lebens. Das ist der Dienst und die Pflege«.3 Ähnlich fand man in etruskischen Gräbern einen Schlauch, der vom Mund des Toten an die Oberfläche führte und in den man regelmäßig Wein goss.
Sofern die »Seele« bereits individualisiert empfunden wurde, dienen ihr die Weisen der Bestattung in Gräbern und Häusern als Wohnung, die mit dem auch bisher üblichen Zubehör ausgestattet wird. Je höher im Rang, desto üppiger wird die nachtodliche Versorgung. Im Grund wird »alles« mitgegeben: Werkzeug, Tiere, das Leibpferd, Waffen, Angelhaken, Rasiermesser, aber auch Menschen: Sklaven, Gefolge, zuweilen die Frauen oder die Witwe (die in Indien »freiwillig« den Scheiterhaufen des Gatten bestieg). Auch heute noch werden in China kunstvoll aus Bambus hergestellte Autos vor dem Ahnenaltar verbrannt, damit der Vorfahre im Jenseits über ein Auto verfügt. (Damit bekommt »Vorfahren« eine ganz neue, ungewohnte Bedeutung.) Dieser geballte» Ersatz« ist so zu deuten, dass das Diesseits auf eine »schattenhafte« Weise, aber grundsätzlich unverändert weitergeführt wird. Das alte Ägypten verwendete nach Berechnungen etwa drei Viertel seiner Produktion auf den Totenkult. Wochenlange, kostspielige Einbalsamierungen, Mehrfachsärge mit dem Profil des Toten, um immer wieder einen »Ersatz« für den vielleicht doch vergehenden Leichnam zu haben, Einbalsamierungen auch von Hunden, Grabkammern mit luxuriöser Ausstattung und Bemalung, abgesehen von den Opfergaben zur Ernährung – alles diente dazu, ein Doppel des Diesseits aufzuführen.
Auch der Koran kennt die gesteigerten Güter, die Luxusgüter des Jenseits, vor allem in der Weise der glanzvollen Wohnungen im Himmel, aber auch der gesteigerten Sexualität: Der Martyrer wird im Jenseits von 70 Houris erwartet, deren Jungfräulichkeit sich immer wieder herstellt. Eine neue Koran-Übersetzung (pseudonym durch Christoph Luxenberg) schreibt allerdings von »weißen Trauben«, worin sich die Houris bei anderer Vokalisation verwandeln.
Aber auch die Schrecken der Unterwelt sind Gemeinbesitz vieler Religionen. Thomas Mann lässt den Pharao Echnaton »aufklärerisch« über Osiris, den Totenherrn, sprechen:
[…] den Fürchterlichen, auf dem Richterstuhl und mit der Waage, der nur gerecht ist, aber gnadenlos, und vor dessen Spruch die verängstigte Seele zittert. Es ist alles nur Verängstigung mit diesem alten Glauben, der selber tot ist, ein Osar-Glaube […] daß die Seele, die nach dem Richterstuhl wandert, sieben mal sieben Gefilde des Schreckens durchschreiten muß, von Dämonen belagert, die sie auf Schritt und Tritt nach dreihundertsechzig schwer zu behaltenden Zaubersprüchen verhören, all diese muß die arme Seele am Schnürchen haben und aufsagen können jeden am rechten Ort, sonst kommt sie nicht durch und wird schon vorher gefressen, bevor sie zum Stuhle gelangt, wo sie aber auch alle Aussicht hat, gefressen zu werden, wenn nämlich ihr Herz zu leicht befunden wird auf der Waage, und wird diesesfalls dem Ungetüm überliefert, dem Hund von Amente. […] eins machen will Amun die Welt in der Dienstbarkeit starren Schreckens, was eine falsche und finstere Einheit ist, die mein Vater nicht will, denn er will seine Kinder vereinigen in Freude und Zärtlichkeit.4
Grundsätzlich bestimmt die Angst vor der Unterwelt die Spannweite der Jenseitsvorstellungen in vielen vorbiblischen Traditionen. Von Anfang an bleibt der Umgang mit den Toten zweideutig: Einerseits werden sie verehrt und in der Nähe behalten, aber andererseits tabuisiert und ferngehalten. Dies drückt zugleich die Ambivalenz des Numinosen aus: des Heiligen, das zugleich anzieht und schaudern macht. Auf der einen Seite herrscht also das Bestreben, den Toten »am Leben« zu erhalten und seine Kraft den Lebenden in gewisser Weise zuzuführen. Auf der anderen Seite gibt es geradezu gegenläufige Rituale der Tabuisierung: den Toten aus der Welt der Lebenden zu verbannen, ihn an der schädlichen Wiederkehr zu hindern.5 Das alte Israel kennt diese Angst – und die Gegenwehr (Ps 49, 15–18):
Der Tod führt sie auf seine Weide wie Schafe, sie stürzen hinab zur Unterwelt. Geradewegs sinken sie hinab in das Grab; ihre Gestalt zerfällt, die Unterwelt wird ihre Wohnstatt. Doch Gott wird mich loskaufen aus dem Reich des Todes, ja, er nimmt mich auf.
1.3Biblisches Denken: Auferstehung sogar des »Fleisches«
Erst in der monotheistischen Entfaltung der »göttlichen Geheimnisse« gibt es eine gedankliche Überwindung: entweder des kreisenden Denkens oder der Skepsis und entsprechenden Genusssucht, die zur Betäubung des Unausweichlichen dient. Im Glauben an einen guten Weltschöpfer und -erhalter schwindet der gnostische Dualismus zwischen Geist (Ich) und Leib, wird dieses Dasein lebenswürdig im Sinne einer verlässlichen Weltordnung, die mit Maß genossen werden darf. Dabei geht sie aber auf ein endgültiges Glück der Heimkehr zu, und nicht nur auf eine grau-gefährliche Unterwelt oder auf die völlige Löschung. Und für diese Zukunft gibt es im Christentum, vorbereitet durch das Judentum, einen völligen Neuansatz: die Auferstehung des Fleisches.
Nicht wenige religiöse Überlieferungen nähren einen Verdacht gegen »das Fleisch«: angefangen von den Griechen, denen nach dem orphischen Spruch der Leib durchaus ein Gefängnis schien (soma sema), über asketisch-gnostische Traditionen der Antike bis zur brahmanischen Lehre von der Wesenlosigkeit des Leibes (maya). Für den Buddha ist dieselbe Wesenlosigkeit der Grund, den endgültigen Ausstieg aus den hinduistisch vorgegebenen Wiederverkörperungen zu suchen: im achtfachen Pfad der Auswurzelung, wobei mit dem Leib auch das ebenfalls wesenlose Ich, das am Leib hängt, verschwinde.
Diese Abwehr des Fleisches hat durchaus ein Fundament in der Sache: Über den Leib ist der Mensch im Animalischen, im Untermenschlichen verankert. Die Triebhaftigkeit und Selbstbehauptung des »Tieres in uns« sind das Erschreckende und dem Geist in der Tat Widerstreitende. »In die freie Höhe willst du? Nach Sternen dürstet deine Seele? Aber auch deine wilden Hunde wollen Freiheit, sie bellen vor Lust in ihrem Kerker« – so Nietzsche.6 Solche Skepsis hat Sigmund Freud durch den Aufweis unhintergehbarer Triebbindungen genährt. Wer von uns wollte garantieren, dass bei einem Schiffbruch der eigene Selbsterhaltungstrieb uns nicht zwänge – trotz hoher moralischer...