1 Einleitung
1.1 Mord und Totschlag, Literatur und Leben
1928 veranstaltete die illustrierte Modezeitschrift »Die Dame« eine Umfrage unter Schriftstellern und fragte sie nach dem Buch, das bei ihnen den größten Eindruck hinterlassen habe. Die Umfrage wurde in der Beilage mit dem doppeldeutigen Namen »Die losen Blätter« veröffentlicht. Eine einzige Antwort daraus ist bis heute fast sprichwörtlich. Sie stammte von dem skandalumwitterten, jungen und erfolgreichen Autor Bertolt Brecht. »Sie werden lachen: die Bibel«, schrieb Brecht und begründete seine Antwort damit, dass er die Bibel läse als eine »Sammlung von aufregenden Geschichten, Generationskonflikten, Mord und Totschlag, gipfelnd im Hohenlied der Liebe«. Das war natürlich alles andere als ein Glaubensbekenntnis, sondern ein frecher Witz, doch nicht ohne erheblichen Respekt vor diesem Buch und seiner Sprache.
Um echten Mord und Totschlag handelte es sich, wenn Christen und christliche Gemeinden in den Katakomben leben mussten, aber an ihren Bibeln erkannt werden konnten. Da konnten Bücher und mit ihnen die Besitzer vernichtet werden. Das geschah im Römischen Reich bis zum Anfang des vierten Jahrhunderts n. Chr. und danach immer wieder in der Kirchengeschichte. Ein sehr eindrucksvolles Verhältnis zur Bibel hatten etwa die Geheimprotestanten in Österreich, die ihren Glauben nach der katholischen Gegenreformation nur heimlich ausdrücken und leben konnten. Sie feierten an unzugänglichen Stellen evangelischen Gottesdienst und mussten ihre Lutherbibeln 150 Jahre lang immer wieder auf abenteuerliche Weise verstecken. Ob in Hohlräumen im Kuhstall oder unter den Dielen verborgen, durften Bibel und Gesangbuch bei einer Hausdurchsuchung nicht entdeckt werden, denn sonst hätten ihre Besitzer Haus und Hof verloren und wären aus ihrer Heimat vertrieben worden – ein hoher Preis für eine Frömmigkeit, die aus der Bibel lebte.
1.2 Das verbreitete und dennoch unbekannte Buch
Die Bibel lesen Christen und aufgeschlossene Anhänger anderer Religionen, Atheisten wie Brecht und suchende Humanisten. Sie ist Gegenstand der größten Verehrung und der wütendsten Ablehnung. Wer sich mit ihr länger beschäftigt, den lässt sie nicht kalt. Dazu kommt, dass viele Wendungen der deutschen Sprache, Sprichwörter, Geschichten und Vorstellungen aus der Bibel stammen. Ihre Erzählungen, ihre Schilderungen und Merkworte bilden eine fast unerschöpfliche Quelle für den christlichen Glauben und die humanistische Bildung. Neben den Sagen und Geschichten des griechisch-römischen Altertums fanden vor allem die Stoffe der Bibel immer wieder ihren Weg in die Kunst, sowohl in die Musik als auch in Malerei und Literatur. Diese Bedeutung der Bibel, die weit über die Kirchen hinausreicht, wird oft unterschätzt, weil die Herkunft biblischer Geschichten und Symbole heute oft unbekannt ist. Denn viele Menschen in Deutschland wissen zwar noch, was eine Bibel ist. Häufig steht auch noch ein Exemplar im Bücherschrank als Familienerbstück oder als Geschenk. Doch damit ist nicht gesagt, wie oft dieser Band aufgeschlagen und gelesen wird. Das Spektrum reicht von der völligen Unkenntnis, über das gelegentliche Aufschlagen bis zu einer Vertrautheit, die der tägliche Gebrauch schafft.
Es ist ja auch nicht ganz einfach, mit einem inhaltlich so komplexen Buch umzugehen. Die Bibel kann nicht wie ein Roman vom Anfang bis zum Ende durchgelesen werden. Um sich in ihr zurechtzufinden, braucht man eigentlich so etwas wie eine Landkarte oder eine Gebrauchsanleitung. Unvorbereitet und unberaten aber legen viele die Bibel nach den ersten Versuchen wieder zurück und behalten den Eindruck, dieser voluminöse Band sei ein Buch mit sieben Siegeln.
1.3 Die sieben Siegel
Selbst die Redewendung von den sieben Siegeln stammt aus dem Buch der Bücher. Sie findet sich in der Offenbarung an Johannes (5,1 – 8,1), dem letzten Buch der Bibel. Dort erblickt der Schreiber, der Seher Johannes, eine versiegelte Buchrolle, die offensichtlich einen längeren Text enthält. Diese Rolle darf – wie es heißt – von keinem Menschen geöffnet werden, weil niemand die Vollmacht hat, ihre sieben Siegel zu öffnen.
Nur einer einzigen Gestalt soll das gelingen. Diese aber wird widersprüchlich und rätselhaft beschrieben: einerseits erscheint sie als Löwe aus dem Stamm Juda und andererseits als geschlachtetes Lamm. Diese zwei Beschreibungen verbinden Unvereinbares: Der Löwe gilt als König der Tiere und ist das Symbol der Macht. Das Lamm war dagegen das klassische Opfertier, ist also Sinnbild der absoluten Ohnmacht und des gewaltsamen Todes. Beide Symbole in einer einzigen Figur geben ein Rätsel auf, ja sprechen so etwas wie eine Geheimsprache. Die Lösung ergibt sich aus dem damals verbotenen Glauben an Jesus Christus, der in diesen Bildern ausgedrückt wird. Jesus Christus wird sowohl mit einem Lamm verglichen als auch mit einem Löwen. Das Lamm symbolisiert den gewaltsamen Tod Jesu. Der Löwe steht als Zeichen für die Auferstehung Jesu, also den Sieg über den Tod. Nur einer, der den Tod überwunden hat, ist imstande, die Siegel zu lösen und die Geheimnisse der Welt zu offenbaren, meint der Seher Johannes.
Die Öffnung der sieben Siegel wird in der Offenbarung ausführlich geschildert. Damit beginnt eine Zukunftsschau voller Kriege und Katastrophen, also Erfahrungen, die die christlichen Gemeinden bereits gemacht haben und weiter fürchten müssen. Der Seher meint aber, das gegenwärtige und zukünftige Unheil könne man im Vertrauen auf diesen Herrn getrost überstehen. Der Glaube an den auferstandenen Christus helfe, das Leben und seine Geheimnisse zu »lesen«, zu verstehen und darum auch zu bewältigen.
Das Bild der Buchrolle mit den sieben Siegeln lässt sich auf die ganze Bibel übertragen, weil sie oft genug rätselhafte und geheimnisvolle Texte enthält, die gedeutet werden müssen. Diese Mühe lohnt sich, weil Leserinnen und Leser damit ein Lebens- und Glaubensbuch aufschlagen. Sie werden dabei regelmäßig an ihre eigenen Lebenserfahrungen erinnert und nach dem gefragt werden, was ihnen selbst heilig ist. Sie finden Antworten, die sich im Lauf des Lebens durch neue Erfahrungen erweitern und verändern, ja auch neue Fragen hervorrufen. Das aber hat auch Rückwirkungen auf das Verständnis biblischer Texte, die sich im Laufe des Lebens besser und tiefer erschließen. Dieses Verstehen kann ein unaufhörlicher Prozess zunehmender Erkenntnis sein.
Das Büchlein, das Sie nun in den Händen halten, sammelt eine Reihe von Fragen, die in christlichen Gemeinden und Kirchen immer wieder debattiert und kontrovers beantwortet werden. Es benennt Schwierigkeiten beim Bibellesen und soll Hinweise bieten, die helfen, die Bibel zu erschließen. Erste Informationen, Hinweise auf weiterführende Literatur und nützliche Internetadressen mögen anregen, sich selbst ein Bild zu machen und das Gespräch mit anderen Interessierten zu suchen.
Literaturhinweise
Christoph Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung. München 22003
Jörg Rosenstock/Roland Rosenstock, Wie lese ich die Bibel? Neugier genügt. Bielefeld 2014
www.bibelwissenschaft.de/startseite
2 Die Bibel – das Buch der Bücher?
2.1 Woher kommt das Wort »Bibel«?
Zunächst war Byblos der griechische Name einer antiken Hafenstadt im heutigen Libanon. Sie entwickelte sich in der Antike zu einem zentralen Umschlagplatz für Papyrus, aus dem einzelne Blätter und ganze Rollen als Schreibmaterial hergestellt werden konnten. Da die Griechen den Rohstoff für dieses »Papier« aus Byblos bezogen, nannten sie den Stoff zum Beschreiben zunächst nach der Stadt »byblos«, bis schließlich jedes Schriftstück, Urkunden und ganze Bücher einschließlich ihres Inhalts als »biblos« oder »biblion« bezeichnet wurden. Davon wurde der Plural »biblia = Schriften/Bücher« gebildet und von Juden wie Christen zunehmend für ihre heiligen Schriften reserviert. So gewann »Biblia« allmählich den Sinn »Die Heilige Schrift«. In dieser Bedeutung wanderte das Wort aus dem Griechischen in die lateinische Sprache, aus der dann alle europäischen Sprachen das Lehnwort »Bibel« übernahmen. »Biblia/das ist/die gantze Heilige Schrifft Deudsch« hieß darum das Übersetzungswerk, das Martin Luther 1534 zum ersten Mal vollständig veröffentlichte. »Bibel« blieb jahrhundertelang ausschließlich der Name für das wichtigste Buch, die Heilige Schrift der Christen.
Die Liste der Bücher, die zur Bibel gehören, wird oft »Kanon« genannt. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Hebräischen, wo »Kanä« eine Messlatte oder ein Richtscheit den Teile enthalten jeweils viele einzelne Schriften, die oft zunächst einzeln im Gebrauch waren. Deshalb ist die Bibel – genau betrachtet – eine Sammlung von beschreibt (Hes 40,3). Wenn heute eine MacBibel, eine FotoshopBibel oder »die Bibel aller Kochbücher« vorgestellt und beworben werden, dann erheben die Verfasser einen ähnlichen Anspruch. Sie wollen umfassend informieren und die Messlatte für einen Bereich des Lebens sein: Danach muss sich alles richten! Mehr brauchst du nicht!
2.2 Welche Teile umfasst die christliche Bibel?
Ältere Bibeln hatten meist einen längeren Buchtitel und gaben damit etwas von ihrem Inhalt an: »Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments«. Damit sind die beiden Hauptteile dieses einen Buches genannt, die nur zusammen die ganze christliche Bibel darstellen, das Alte und das Neue Testament. Aber auch diese bei-Büchern. Dass sie das eine »Buch der Bücher« ist, das mehr bedeutet als alle anderen Bücher der Welt, beschreibt die Erfahrung von Christen mit der Heiligen Schrift.
Das Alte Testament bilden 39 Schriften. Sie enthalten Glaubenszeugnisse, die für den jüdischen Glauben grundlegend sind. Dieser Teil der Bibel wird manchmal auch als Erstes Testament oder Hebräische Bibel oder im jüdischen Bereich mit dem Kurzwort »Tanakh«. (Tenach) bezeichnet, weil er die Tora (= 1. – 5. Buch Mose), die Nebiim (= die Prophetenbücher) und die Ketubim (= Schriften) zusammenfasst. Sie entstanden über einen Zeitraum von 800 Jahren bis zur Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. Für Jesus, Paulus und die ersten Christen waren diese hebräischen Schriften die Bibel, in deren Schriftrollen sie lasen, deren Gebete sie sprachen, die sie auslegten und die die wesentlichen Elemente ihres Glaubens enthielt. Ihr Umfang, ihre Zählung und Reihenfolge wurden erst im Lauf der Jahrhunderte endgültig festgelegt. Da die einzelnen Schriftrollen teuer waren, besaßen ärmere jüdische und christliche Gemeinden im Altertum oft nur die wichtigsten Teile dieser Bibel.
Die Sammlung früher christlicher Schriften ergab einen zweiten Teil der Bibel, den nur Christen als Heilige Schrift anerkennen. Das Neue Testament enthält 27 christliche Schriften, die zwischen 50 und 150 n. Chr. entstanden, gelesen und weitergegeben wurden. Sie sind in einem längeren Prozess in der Alten Kirche gesammelt, geprüft und allmählich anerkannt worden. Ende des vierten Jahrhunderts n. Chr. stellten der Bischof Athanasius in Alexandria und eine römische Synode gleichlautend fest, welche Schriften zum Neuen Testament gehören – und welche nicht. Bis heute sind sie Grundlage des Glaubens für alle christlichen Konfessionen.
2.3 Die griechische Übersetzung des Alten Testaments und die Apokryphen
Zwischen dem Alten und dem Neuen Testament steht in vielen, aber nicht in allen evangelischen Bibelausgaben eine weitere Schriftengruppe, die sogenannten Apokryphen des Alten Testaments. Sie werden in der katholischen Kirche deuterokanonische Bücher genannt, weil sie erst nach einigen Zweifeln in den Kanon aufgenommen wurden; sie finden sich in allen katholischen Bibelausgaben.
Diese Apokryphen sind durchweg von jüdischen Autoren verfasst und waren zunächst in jüdischen Gemeinden in vorchristlicher Zeit und bis ins zweite Jahrhundert n. Chr. im religiösen Gebrauch, waren also für viele fromme Juden Bestandteil ihrer jüdischen Bibel. Diese allerdings war in ihrem Umfang noch nicht endgültig festgelegt, sondern war für ergänzende Bücher und Zusätze offen, die zu wesentlichen Teilen gar nicht mehr hebräisch verfasst waren, sondern in der damaligen Weltsprache Griechisch. Der Grund dafür war, dass seit mehreren Jahrhunderten v. Chr. große jüdische Geme...