PRAKTISCHE THEOLOGIE
VON GOTT ZU DEN MENSCHEN, VON DER VERHEISSUNG ZUM GEBOT: DIE WAHRHEIT DES LEBENS
ZU DEN PREDIGTEN HANS-GEORG GEYERS
Hans-Martin Gutmann
Man braucht einen langen Atem für die Predigten Hans-Georg Geyers. Im Gottesdienst gesprochen, werden sie in der Regel 30–45 Minuten in Anspruch genommen haben. Die Satzkonstruktionen sind oft komplex. Der theologische Bildungsanspruch ist enorm hoch. Oft handelt es sich um kompakte, situations- und kontextbezogene theologische Vorträge. Und dann ändert sich das Bild immer wieder überraschend. In den Spitzensätzen formuliert Geyer knapp, klar und eindringlich. Oft wählt er eine metaphernreiche, bildspendende Sprache.1 Es gelingt ihm immer wieder, seinen Leser und – als jemand, der ihn als Hochschullehrer immer wieder in seinen Vorlesungen erlebt hat – und ganz sicher auch seinerzeit seine Zuhörerinnen und Zuhörer zu fesseln.
Was Hans-Georg Geyer mitzuteilen hat, ist nicht weniger als die Summe seines theologischen Nachdenkens, konzentriert bezogen auf diese hier und jetzt versammelte Gemeinde und zuinnerst engagiert, das Evangelium mit den zerstörerischen und heillosen Strukturen der jeweils aktuellen Lebenswelten so in Kontakt zu bringen, dass das Zerstörerische seine Kraft verliert und Gottes Weg zu den Menschen die Herzen und Sinne der Leute befreien kann. In den wechselnden Zeitläufen – wir finden Predigten von den sechziger2 bis hin zum Ende der achtziger Jahre3, dazu Predigtkommentare und Predigthilfen – bleiben die Grundlinien der theologischen Botschaft identisch und werden je und je situationsbezogen konkretisiert.
1. VON GOTT ZUR WELT
Es gibt keinen Weg, es gibt keine Brücke von den Menschen aus zu Gott. Dies gilt insbesondere für »Religion«4. Religiöse5, aber auch ethische Unternehmungen der Selbststeigerung, mit dieser Absicht unternommen, wären nicht nur hilflos, sondern wären Ausdruck der fundamentalen Trennung der Menschen von Gott, wären Ausdruck ihrer Sünde6: Die Menschen wollen dann selbst sein wie Gott.
Eingeschlossen in diesen verheerend zerstörerischen Weg sind auch technisch-technologische Größenphantasien, wie sie sich in der zeitgenössischen Gesellschaft vor allem in der militärischen genauso wie der »friedlichen« Nutzung der Kernenergie und in der gentechnologischen Manipulation des Lebens zeigen.7
Was dagegen möglich ist – ja: was dagegen wirklich ist –, ist Gottes Weg zu den Menschen hin. Gott hat uns Menschen erwählt.8 In Jesus Christus ist Gott Mensch geworden, ist den Weg in die Fremde gegangen – nicht herausgefordert durch menschliches Handeln, in seiner von Seiten des Menschen unübersteigbaren unbegreiflichen Freiheit.9 Dieser Weg Gottes befreit die Menschen10, aus ihrer zerstörerischen Selbstbezogenheit herauszufinden und ein neues, christusförmiges Leben zu leben.11
2. VOM »EVANGELIUM« ZUM »GESETZ«
Gottes Weg zu den Menschen befreit die Menschen zu neuem Leben12 nicht nur, sondern stellt sie auch unter die existenzielle Forderung dieser radikalen Lebensumkehr.13 Gottes Weg zu den Menschen eröffnet eine Verbundenheit der Menschen mit Gott, eine zugleich verbindliche und befreiende, nämlich von allen zwingenden, bedrängenden und zerstörerischen Bindungen befreiende Beziehung. So wird das »Gesetz« – im theologisch verstandenen Sinne – zur Form, zum Gesicht, zum Weg des Evangeliums durch den Alltag menschlich-weltlichen Lebens.14
3. INNEN UND AUSSEN
Die Beziehung, die Gott von sich aus zu den Menschen eröffnet, unterscheidet die in diese Beziehung aufgenommenen Menschen von anderen, aber sie trennt sie nicht von ihnen.15 Vor allem erhebt sie sie nicht über andere. Fundamentalistische Vorstellungen, Gedanken und Lebensgefühle, nach denen in einem »Innen«- Bereich die »Guten« versammelt sind und in konfliktfreier Harmonie ihr Leben gestalten, während »draußen« alles fremd, feindlich und zumindest tendenziell böse ist, sind ausgeschlossen: Weil es ja Gott ist, der die Menschen unverdient in seiner Freiheit erwählt16, und nicht die Menschen – mit dem Ziel ihrer Selbststeigerung – Gott und einander.
Von Gott erwählte, zur Christusförmigkeit des Lebens berufene Menschen bleiben Teil der normalen Alltagswelten, denen sie nun einmal so und so zugehören: in ihren sozialen Rollen, ihren Berufen, ihrer politischen, sozialen und kulturellen Eingebundenheit. Das »Neue« des neuen christusförmigen Lebens zeigt sich weder in hochmütiger Besserwisserei noch in Selbstabschließung, erst recht nicht der Phantasie, die »draußen« in ihrem als fremd und feindlich wahrgenommenen Leben mit Gewalt zur Räson bringen zu können oder gar zu müssen. Das neue, von Gott eröffnete, heilsamere Leben wird das alte Leben in seinen Selbstverständlichkeiten und Zwängen, in seinen Verheißungen und Verführungen durchdringen, wird es jedoch nicht zunichtemachen.17 Es findet seine Sozialform in der christlichen Gemeinde:18 Die christliche Gemeinde ist von Gott erwähltes Subjekt christlichen Lebens.19
4. GEGEN SUPERBIA
Die Trennung von Gott, die Sünde zeigt sich mit zerstörerischer Gewalt in der Phantasie, selbst wie Gott sein zu können. Superbia, die Größenphantasie, selbst alles aus eigenen menschlichen Kräften zu können, hat in der gegenwärtigen Lebenswelt des Predigers Hans-Georg Geyer ihren machtvollen Ausdruck gefunden20 – nicht nur in religiöser oder kirchlicher Selbstabschließung, nicht nur in ethisch-moralischer Selbstüberhöhung, nicht nur in der Phantasie, selbst etwas Besseres zu sein. Auch ausdrücklich nichtreligiöse und anscheinend moralferne Lebensbereiche sind von zerstörerischen Größenphantasien beherrscht. In mehreren Predigten Geyers werden hier vor allem die Kernenergienutzung und die Gentechnologie vorgeführt als destruktive und anscheinend konstruktive Unternehmungen, die heilsamen Begrenzungen menschlicher Lebensmöglichkeiten zu missachten. Und es ist eine zerstörerische Lebensform, die Hans-Georg Geyer als Konkretisierung für den zerstörerischen Mangel menschlicher Demut in einer großen Anzahl von Predigten immer wieder neu anklagt: die Gewalt.21 Gewalt ist der zerstörerische Weg, Eigenes gegen Anderes, gegen Fremdes durchzusetzen. Gewalt ist die exemplarisch konzentrierte gottfeindliche Macht, die das menschliche Leben beherrscht und zerstört.
5. GEGEN DIE GEWALT
Es hat den Anschein, als würde Hans-Georg Geyer in der Thematisierung von Gewalt die Theorien zur Entstehung und mimetischen Ausbreitung von Gewalt schon kennen oder aber vorwegnehmen, die mit großer Wirksamkeit in den Diskursen über Gewalt mit dem Namen von René Girard verbunden sind.22 Gewalt breitet sich schrankenlos aus, weil das Begehren nach Selbstdurchsetzung sich an den Selbstdurchsetzungsstrategien der Konkurrenten nährt. Gewalt entzündet sich an Gewalt, breitet sich epidemisch aus wie eine ansteckende Seuche, weil ihr zerstörerischer mimetischer Antrieb nicht gebremst wird: nämlich durch eine lebendige Beziehung zu Gott, zu den anderen Menschen und Mitgeschöpfen, zu sich selbst. Wenn diese Beziehung durch religiöse Selbsterhöhung gesucht würde, wenn »mit Gott« auf den Koppelschlössern von Soldaten und Milizen wieder zu stehen käme, geriete Religion zum Durchlauferhitzer von Gewalt. Und wie stark dies in den fundamentalistischen Ausprägungen der großen Religionen – Christentum, Islam, Judentum, Buddhismus – der Fall ist, können wir gerade als heute lebende Zeitgenossen jederzeit studieren.
Weil und insofern diese lebendige Beziehung Geschenk ist, weil sie durch Gottes Gnadenwahl eröffnet und ermöglicht wird, »funktioniert« sie kategorial anders als alle auf Selbstdurchsetzung und Selbstermächtigung basierenden Strategien der Ausbreitung des Eigenen gegen alles Andere. Es geht darum, eine Haltung zu entwickeln, sich gegenüber diesem Geschenk zu öffnen, sich in die von außen unverdient und unprovoziert auf uns zukommende Wahl Gottes in eine alles verändernde neue Beziehung aufnehmen zu lassen. Empathie, Liebe und Demut werden auf diesem Weg, der die Wahrheit und das Leben ist, jetzt zu möglichen und zugleich zu notwendigen Lebensformen.
6. WAS IST WAHRHEIT?
Nicht nur Theologie: Jede Wissenschaft ist eingebunden und gefordert in den und auf dem Weg der Wahrheit.23 Vor allem der Entwicklung von Atomwaffen, in der »friedlichen« Nutzung der Kernenergie und in der Gentechnologie offenbart sich die Katastrophe, in die die Verbindung ...