Luther, Calvin und die anderen
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Luther, Calvin und die anderen

Die Reformation und ihre Folgen

  1. 112 Seiten
  2. German
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Luther, Calvin und die anderen

Die Reformation und ihre Folgen

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Dass die Reformation des 16. Jahrhunderts und damit die Existenz des Protestantismus in der Gegenwart mit Martin Luther begannen, gehört zum Wissensbestand der evangelischen Gemeinden. Die Kenntnis der historischen Wurzeln, des theologischen Anliegens und der bis in unsere Zeit reichenden Wirkungen des reformatorischen Aufbruchs ist hingegen kein Allgemeingut mehr. Vor diesem Hintergrund soll der Versuch unternommen werden, die Reformation als theologisches und kirchengeschichtliches Phänomen des 16. Jahrhunderts verständlich zu machen. Die großen Reformatorengestalten werden als Persönlichkeiten mit eigenem theologischem Profil präsentiert. Darüber hinaus geht es aber auch um eine Schärfung des Bewusstseins für die Vielfalt reformatorischer Ansätze, für ihre Gestaltwerdung in landes- oder freikirchlichen Organisationen und für die disparaten Wirkungen, die den protestantischen Pluralismus der Moderne hervorgebracht haben. Am Ende steht die Frage, wie mit der Fremdheit der Reformation heute umzugehen ist und ob es einer neuen Reformation bedarf.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783374044382

1 Einleitung

»Reformation« bedeutet Wiederherstellung eines besseren vergangenen Zustands. Während der heute übliche Begriff der »Reform« mit der Vorstellung einer auf die Zukunft ausgerichteten, innovativen Neuordnung verbunden ist, bezog sich »Reformation« im Sprachgebrauch des 16. Jahrhunderts auf die Rückkehr zu einem in der Vergangenheit liegenden Ideal. In diesem Sinne konnte man von Reformation nicht nur auf dem Gebiet der Kirche und des Glaubens sprechen, sondern ebenso von einer Reformation des Münzwesens oder von einer Reformation der Universitäten. Im Falle der Reformation der Kirche war es die Zeit der Apostel, die als Idealbild diente.
Wenn wir heute von »Reformation« sprechen, verstehen wir darunter eine abgeschlossene historische Epoche, die in das 16. Jahrhundert fiel und in der die eine, durch die lateinische Kultur des Mittelalters geprägte und unter der Leitung des römischen Papstes stehende abendländische Kirche durch eine Vielzahl eigenständiger Konfessionskirchen abgelöst wurde. Da in Mittelalter und Frühneuzeit das Christentum und seine äußere kirchliche Gestalt in der Mitte des menschlichen Denkens und Handelns standen, veränderte dieser Umbruch alle Bereiche des Zusammenlebens: nicht nur den Glauben und die Frömmigkeit, sondern auch den Staat, die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Kunst und den Alltag.
Der maßgebliche Anstoß kam aus der Theologie. Martin Luthers Protest gegen ein falsches Verständnis der christlichen Buße, den er am 31. Oktober 1517 durch Anschlag der 95 Thesen über die Kraft der Ablässe an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg öffentlich kundtat, löste eine Bewegung von europäischer Dimension aus, die binnen weniger Jahre die Welt des Mittelalters grundlegend veränderte. Einmal in Gang gekommen, war die Reformation alles andere als eine homogene Erscheinung. Die Frage, wie die ideale Kirche aussah und wie sie wieder aufgerichtet werden konnte, wurde nämlich ganz unterschiedlich beantwortet. Die Reformation zerfiel von Anfang an in Strömungen und Gruppierungen. Deshalb muss man die Vorstellung der Zusammengehörigkeit der vielfältigen reformatorischen Phänomene aber nicht aufgeben. Denn ihnen allen gemeinsam war das Ziel, Glaube und Kirche nach biblischem Maßstab zu erneuern und Fehlentwicklungen des Mittelalters entsprechend zu korrigieren. Der damit verbundene Wandlungsprozess nahm seinen Ausgang im Kurfürstentum Sachsen, betraf bald aber auch das übrige Deutschland und die europäischen Nachbarländer.
Doch die Entwicklung verlief in denkbar unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit. Im Heiligen Römischen Reich gingen die ersten Territorien und Städte in der Mitte der 1520er Jahre offen zur Reformation über. Der Siegeszug der Reformation setzte sich hier für etwa ein halbes Jahrhundert fort, bis um das Jahr 1570 ihre größte Ausdehnung erreicht war. In der Schweizer Eidgenossenschaft war ähnlich wie im Reich die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts für die Konfessionsverteilung entscheidend. Der von Luther ausgehende theologische Impuls zeigte Wirkungen auch dort, wo sich die Obrigkeiten gegen die evangelische Lehre entschieden und an den Strukturen, Traditionen und Lehrinhalten der mittelalterlichen Kirche festhielten. Hier bildete sich vielfach ein Protestantismus im Untergrund.
Das Prozesshafte der Reformation und ihr in den europäischen Ländern höchst ungleicher Verlauf machen es schwierig, allgemeingültige Epochengrenzen zu ziehen. Für Deutschland ist es üblich, die Reformationszeit von 1517 bis zum Augsburger Religionsfrieden des Jahres 1555 reichen zu lassen. Diese schulmäßige Datierung, die für die deutsche Reformationsgeschichte plausibel ist, lässt sich aber auf Europa nicht übertragen. Im Reich beendete der Religionsfrieden die Rechtlosigkeit des Luthertums und anerkannte die Existenz einer zweiten, einer evangelischen Konfession neben der römisch-katholischen. Außerhalb des Reiches bedeutete der Religionsfrieden aber keine Zäsur. Im Blick auf Gesamteuropa muss man das 16. Jahrhundert insgesamt als das Jahrhundert der Reformation bezeichnen.
Die Reformationsgeschichte wird heute besonders in den Ländern gepflegt, die im 16. Jahrhundert von der Reformation berührt wurden. Dies gilt in erster Linie für Deutschland, die Schweiz, Skandinavien, die Niederlande, Ostmitteleuropa, England und Schottland. Auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada, Australien oder Südafrika, die erst im Zuge der europäischen Expansion mit einem reformatorischen Christentum in Kontakt kamen, wird heute Reformationsgeschichte betrieben. Kolonisation und Mission verbreiteten reformatorische Theologie im 19. und 20. Jahrhundert über den gesamten Globus. Reformationsforschung ist demzufolge eine internationale Disziplin, in der die unterschiedlichen nationalen und konfessionellen Traditionen aber eine erhebliche Rolle spielen und die Ausgangsräume der Reformation nach wie vor dominieren.
Die Rückbesinnung auf die reformatorischen Wurzeln des eigenen Christseins ist in Deutschland und anderswo heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Vertrautheit mit der Reformationsgeschichte gehört nicht mehr zum allgemeinen Bildungsgut. Die Beschäftigung mit der Reformation, die Kenntnis ihrer Anliegen und ihres Verlaufs ist aber mehr als bloße Traditionspflege. Sie ist Bewusstmachung der eigenen Identität und bietet Orientierung in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt mit ihren zahllosen religiösen und pseudoreligiösen Angeboten. Identität und Orientierung sind unabdingbare Voraussetzungen für die Gesprächs- und Zukunftsfähigkeit evangelischer Gemeinden.
In diesem Sinne richtet das vorliegende Büchlein zwar den Blick zurück in die Reformationszeit des 16. Jahrhunderts, es versucht aber zugleich, den Reichtum der reformatorischen Tradition im Hinblick auf das Bekenntnis, die Frömmigkeit und die äußeren kirchlichen Strukturen offenzulegen und für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Diesen Reichtum der eigenen Herkunft zu kennen, ist für heutige evangelische Gemeinden kein Schaden. Weil die vielgestaltige Reformation für den modernen Menschen aber unterschiedliche Möglichkeiten des Anschlusses oder auch der Abgrenzung zulässt, kann es Christen heute nicht erspart werden, den eigenen Standpunkt selbst zu finden. Dies entspricht der guten Einsicht Martin Luthers und der anderen Reformatoren, dass jeder Mensch mit seinem Glauben unmittelbar vor Gott steht. Die Kenntnis der Reformationsgeschichte nimmt das Risiko des Glaubens nicht von den Schultern des Einzelnen. Sie kann ihm aber helfen, dieses Risiko historisch reflektiert und in Kenntnis der eigenen Wurzeln einzugehen und von der Glaubenserfahrung vieler Generationen evangelischer Christen für das eigene Leben zu profitieren.

2 Die Kirche am Vorabend der Reformation

Die Reformation erwuchs aus der Kirche des Spätmittelalters und ist ohne ihre mittelalterlichen Voraussetzungen nicht zu verstehen.
Infoblock 1: Mittelalter
Unser heutiges Verständnis von Antike, Mittelalter und Neuzeit als den drei Großepochen der Geschichte des Abendlandes ist erst das Produkt der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts, für die mit der Reformation eine neue Zeit begann, die Neuzeit. Das Mittelalter erschien in dieser Sicht als eine minderwertige Zwischenepoche, die die eigene Gegenwart von der christlichen Antike, an die man kulturell und religiös anknüpfen wollte, trennte. Dieses Bild des Mittelalters ist heute überholt. Aus pragmatischen Gründen wird am Konzept der drei Großepochen und an der Datierung des Mittelalters auf das Jahrtausend zwischen 500 und 1500 jedoch überwiegend festgehalten. Die Bedeutung der Reformation als Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit ist heute aber umstritten.
Diese mittelalterliche Kirche bot am Vorabend der Reformation ein buntes Bild. Die problematischen Aspekte einseitig zu betonen, wie es auf evangelischer Seite früher üblich war, verzerrt die Verhältnisse ebenso wie eine unkritische Problemverdrängung, zu der die römisch-katholische Seite lange neigte. Tatsächlich lagen Licht und Schatten eng beieinander. Ein einfaches Erklärungsschema, das die Reformation vor allem aus den Missständen und Problemen der spätmittelalterlichen Kirche ableiten möchte, greift zu kurz.

2.1 Papst und Klerus

Die Vorstellung, dass die Kirche einer Reform bedürfe, war im 15. Jahrhundert weit verbreitet. Von der notwendigen »Reform der Kirche an Haupt und Gliedern« war viel die Rede. Mit dem Haupt war die kirchliche Hierarchie bis hinauf zu ihrer Spitze, dem römischen Papst, gemeint, mit den Gliedern die zahlreichen Mönche, Nonnen und Weltkleriker, die den einfachen Laien beständig vor Augen waren.
Die Reformbedürftigkeit des Papsttums und seines Hofes, der römischen Kurie, lag offen zutage. Zwar hatte das Papsttum seine schlimmste Krise überwunden, seit auf dem Konstanzer Konzil zu Beginn des 15. Jahrhunderts die Kirchenspaltung unter zwei und zuletzt drei Päpsten beseitigt und später auch der Anspruch des Konzils, die höchste Autorität in der Christenheit zu sein, niedergerungen worden war. Seither gab es wieder einen einzigen, in ganz Europa anerkannten Papst in Rom, der seine autoritative Leitung der Kirche (Primat) durchsetzen konnte. Von dem Anspruch früherer Päpste, die höchste Gewalt auf Erden zu sein und auch über Kaiser und Königen zu stehen, war nicht mehr viel übrig. Doch waren inzwischen Entwicklungen eingetreten, die zunehmend als problematisch empfunden wurden: Die päpstliche Verwaltung zog viel Entscheidungsrecht an sich. Dies geschah nicht zuletzt in der Absicht, die Finanzströme nach Rom zu lenken, wo für Geld nahezu alles, ohne Geld gar nichts zu erhalten war. Der römische Zentralismus, Bürokratismus und Fiskalismus provozierten auf weltlicher Seite den Vorwurf der Herrschsucht und der Geldgier. Die finanzielle Ausbeutung durch Rom wurde nicht nur beklagt, sondern die Könige von Frankreich und England schotteten ihre Kirchen gegen den römischen Zugriff weitgehend ab.
Hinzu kam, dass die Päpste der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in die italienische Mächtepolitik tief verstrickt waren, sich wie Renaissancefürsten gebärdeten, ihre Verwandtschaft begünstigten (Nepotismus) und die geistliche Seite ihres Amtes vernachlässigten. Ein berüchtigter Repräsentant des sogenannten »Renaissancepapsttums« war Papst Alexander VI. aus der Familie Borgia, der mehrere Kinder zeugte und versuchte, ihnen eigene Fürstentümer aus dem Gebiet des Kirchenstaats zu verschaffen. Das tief in die Politik verstrickte, korrupte, ständig nach neuen Einnahmequellen suchende, reformscheue, um die Bewahrung seiner Macht besorgte, aber auch kultur- und kunstsinnige Renaissancepapsttum wurde schon von den Zeitgenossen scharf kritisiert. Mit diesem Papsttum sollte es Martin Luther zu tun bekommen.
Schaut man vom Haupt auf die Glieder, so fallen auch hier die Mängel sofort ins Auge. Überall in Europa dienten die hohen kirchlichen Ämter als Versorgungsstellen für den Adel. Den Bischöfen fehlte es nicht selten an theologischer Kompetenz und an geistlicher Neigung. Auch beim niederen Klerus, den Altaristen, Pfarrern und Ordensgeistlichen, herrschte eine Versorgungsmentalität. Alles drängte sich nach den fetten Pfründen an den großen Kirchen und Stiften, die den Zehnten, der eigentlich den Landpriestern zustand, vielfach an sich gezogen hatten. Die Pfarrer vor Ort wurden mit Brosamen abgespeist. Die Liste der immer wieder beklagten moralischen Verfehlungen des Klerus war lang. Aber die Bekämpfung des verbreiteten Konkubinats und der Simonie (Ämterkauf), zwei wichtige Anliegen der Kirchenreform, blieb Wunschdenken, solange Rom selbst im Fiskalismus und Nepotismus versank.
Infoblock 2: Gravamina
Gravamina (von lateinisch gravamen: Beschwerde) wurden als Beschwerden der deutschen Nation erstmals 1456 gegen Papst und römische Kurie vorgebracht. Die Beschwerden betrafen insbesondere den Abfluss von Geld nach Rom und die Ausweitung finanzieller Forderungen von Seiten des Papstes und der Kurie. Die meisten Gravamina des 15. Jahrhunderts stammten von geistlichen Reichsfürsten, die von den wachsenden Gebühren und den Eingriffen der Kurie in Stellenbesetzungen besonders betroffen waren. Später richteten auch weltliche Fürsten ihre Beschwerden gegen Rom. Diese Gravamina-Bewegung setzte sich bis in die Reformationszeit fort und diente als Druckmittel, um Rom zu Reformen zu zwingen. Martin Luther griff die Gravamina-Thematik 1520 in seiner Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation« auf.
Die Folge war ein unter Laien verbreiteter Pfaffenhass, der sich am Vorabend der Reformation auf der Straße und in Flugschriften immer wieder Luft verschaffte. Erstaunlich ist dieser grassierende Antiklerikalismus nicht, wenn man bedenkt, dass die Zahl der Ordensleute und Kleriker beträchtlich war und dass diese einen rechtlich und finanziell privilegierten Stand bildeten, der zudem gegenüber den ungeweihten Laien eine höhere geistliche Würde beanspruchte.

2.2 Theologie und Frömmigkeit

An den Universitäten des Spätmittelalters wurde eine Form der Theologie betrieben, die man später als Scholastik, Schulwissenschaft, bezeichnete. Ihr Ziel war es, die christliche Wahrheit unter Rückgriff auf Autoritäten und nach logischen Regeln zu formulieren. Unter den Autoritäten, auf die man sich stützte, fand sich natürlich die Bibel, die in der lateinischen Übersetzung der Vulgata benutzt wurde. Ebenso starkes Gewicht hatten aber die Kirchenväter, die Entscheidungen der Konzilien, das Kirchenrecht und die großen mittelalterlichen Theologen wie Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus oder Wilhelm von Ockham. Je nachdem, welchem der großen Lehrer man sich anschloss und welche philosophischen Grundannahmen man akzeptierte, zerfiel die Scholastik in unterschiedliche Schulen.
Diese gelehrte Theologie war für die praktischen Bedürfnisse der zahlreichen Mönche und Nonnen nicht geeignet. In den Klöstern wurde eine Theologie gepflegt, die man als Mystik bezeichnet und die nicht in erster Linie auf dem intellektuellen Begreifen von Glaubenswahrheiten beruhte, sondern auf dem individuellen religiösen Erleben. Gebet und Meditation waren die Mittel, mit denen eine mystische Vereinigung der Seele mit Gott gesucht wurde. Für die einfachen Laien waren weder die Scholastik noch die Mystik ein gangbarer Weg. Für sie bestand die Möglichkeit, sich als Kirchväter in ihrer Pfarrkirche zu engagieren oder ein freiwilliges gemeinschaftliches Leben mit Gleichgesinnten zu führen. Eine von den Niederlanden sich ausbreitende Bewegung des gemeinsamen Lebens, die man als Devotio moderna (moderne Hingabe) bezeichnet, war ein Symptom dafür, dass das traditionelle Mönchtum die religiösen Bedürfnisse der Menschen nicht mehr voll befriedigen konnte. Das Mönchtum galt als ebenso reformbedürftig wie die Gesamtkirche. Reformbewegungen versuchten, zu einer strengen Beachtung der Ordensregeln zurückzulenken.
Infoblock 3: Vorreformatoren
Im Spätmittelalter gab es die ersten Ansätze zu einer Erneuerung des Glaubens. Der Engländer Johannes Wyclif oder Johannes Hus aus Prag, um nur zwei zu nennen, vertraten eine bibelorientierte Frömmigkeit und Theologie. Sie wurden in der Reformationszeit als Vorläufer verstanden und in der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung späterer Zeit als »Vorreformatoren« bezeichnet. Tatsächlich vertraten sie aber nur Aspekte dessen, was für Luther und die Reformation wichtig wurde. Gemeinsam ist ihnen, dass ihre aus dem Evangelium schöpfende Theologie zusammen mit ihrer Kritik an Papst und Klerus zu einem Konflikt mit der Amtskirche führte, der im Fall von Hus mit der Verurteilung und Hinrichtung als Ketzer auf dem Konzil von Konstanz 1415 endete.
Für die Masse der auf dem Land oder in den Städten lebenden, vielfach des Lesens und Schreibens nicht mächtigen Menschen hielt die spätmittelalterliche Kirche eine breite Palette von Heilsangeboten bereit. Leiden und Tod gehörten zum Alltag. Unglücksfälle und Katastrophen erklärte und bewältigte man im Lichte des christlichen Glaubens oder abergläubisch, denn magisches Denken hielt sich hartnäckig. Unheil abwehren konnte man durch Buße, Fasten, Gebet oder Bekämpfung der vermeintlich Schuldigen, weshalb es in Krisenzeiten regelmäßig zu Judenpogromen kam. Die allgegenwärtige Gefährdung des eigenen Lebens führte zu einer intensivierten Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Jenseits. Nicht so sehr die Hölle als der Ort der ewigen Verdammnis zog die Aufmerksamkeit auf sich, sondern das Fegefeuer, das seit dem Hochmittelalter in der kirchlichen Lehre fest verankert und als ein Ort der Reinigung gedacht war, durch den hindurch die Verstorbenen das Paradies erreichten. Hier hatte die Ablasslehre ihren Ursprung. Die Offenbarung des Johannes diente dem Spätmittelalter als Quelle für mancherlei endzeitliche Spekulationen. Die Wiederkunft Christi und die Errichtung eines tausendjährigen Rei...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Vorwort
  5. Inhalt
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Die Kirche am Vorabend der Reformation
  8. 3 Martin Luther
  9. 4 Einheit und Vielfalt reformatorischer Theologie
  10. 5 Die Entstehung evangelischer Landeskirchen
  11. 6 Wirkungen
  12. 7 Ausblick: Der Umgang mit der Reformation heute
  13. Weitere Bücher