IIHAUPTTEIL
LEBENSALTER
Menschliches Leben vollzieht sich in den Zeiten. Bezeichnungen dafür als Biografie, Lebenszyklus oder Lebenslauf zeigen, dass beim Erfassen dieses Phänomens unterschiedliche Deutungen mitschwingen. Biografie hebt individualisierend den Eigenanteil des Menschen für seine Lebensgestaltung und -rekonstruktion hervor;1 Lebenslauf impliziert eine gewisse Kontinuität, ohne dass damit notwendigerweise genaue Zäsuren festgeschrieben sind; Lebenszyklus imaginiert »eine abgerundete Gestalt, die für Ganzheit, Vollendung und Erfüllung steht«,2 wobei die jeweiligen kulturellen Vorstellungen bestimmend sind. Jedes dieser – sich teilweise überschneidenden – Konzepte stellt Wichtiges heraus. Deshalb empfiehlt sich bei einer Rekonstruktion der verschiedenen Lebensalter ein mehrdimensionales Vorgehen. Dazu wähle ich historische, medizinische, institutionelle, sozialpädagogische und theologische Perspektiven. Zuvor ist aber grundlegend die Frage nach einer Strukturierung des Lebens zu bedenken.
In einem ersten Schritt analysiere ich dazu verschiedene Formen der Periodisierung des Lebenszyklus. Sie orientieren sich – unterschiedlich ausgerichtet – am Lebenslauf innerhalb der linearen Zeit. Zweitens weise ich in einem wissenssoziologischen Durchgang auf Einsichten aus der generationenbezogenen Forschung zur kollektiven Prägung von Biografien hin. Sie zeigen, dass das jeweilige Alter in bestimmten Kohorten unterschiedlich verstanden und gestaltet wird. Weitere Einsichten fügt die Milieu- bzw. Lebensstilforschung hinzu. Sie verhindert vor allem, dass die Lebensläufe einer bestimmten Gruppe von Menschen normativ dominieren und die anderer aus dem Blick geraten. Abschließend erfolgt eine theologische Reflexion.
Nach dieser Vorklärung und Einführung skizziere ich in vier Schritten die verschiedenen Lebensalter. Dabei liegt – entsprechend den vorausgehenden theologischen Reflexionen – ein gewisses Schwergewicht auf den Phasen der Kindheit und des Alters, ohne aber die heute gesellschaftlich dominierenden Phasen der Jugend und des Erwachsen-Seins zu kurz kommen zu lassen. Materialiter verfolge ich die fünf genannten Perspektiven, die im Einzelnen immer wieder ineinander übergehen. Theologisch schließen Überlegungen die jeweilige Darstellung ab, die auf die Lebensform des Christseins und damit die Kommunikation des Evangeliums als dessen inhaltliche Bestimmung bezogen sind.
3.KAPITEL
STRUKTURIERUNGEN DES LEBENS
3.1PERIODISIERUNGEN DES LEBENSZYKLUS
Bereits in der antiken Philosophie setzten sich deren bedeutendste Vertreter mit der Frage nach den verschiedenen Lebensaltern und ihrem Verständnis auseinander. Im Folgenden will ich exemplarisch kurz an einen elementaren und wirkmächtigen Vorschlag von Aristoteles erinnern. Es folgt ein Blick auf die in zahlreichen Bildern seit der Mitte des 16. Jahrhunderts dargestellten Periodisierungen der »Lebenstreppen«. Jacob Grimm nahm diese und andere Traditionen in seiner berühmten »Rede über das Alter« auf und führte sie kritisch weiter. Einen neuen Einsatz bietet die entwicklungspsychologische Theorie von Erik Erikson, der umfassend das ganze Leben in den Blick nahm. Schließlich beschäftigt sich heute die Sozialpädagogik in besonderer Weise mit dem Verständnis der verschiedenen Lebensalter.
Aristoteles entwickelte im Kontext seiner Rhetorik eine Theorie der Lebensalter. Sie besteht aus drei Stufen, wobei in der ersten und dritten jeweils Übertreibung und Mangel beobachtet werden. Dagegen bildet die Mitte zwischen beiden das anzustrebende Verhalten. Der Philosoph beginnt mit den »Jungen«, die er durchaus mit Sympathie vorstellt.
»Die Jungen nun sind von ihrem Charakter her von Begierden bestimmt und geneigt, das zu tun, was sie gerade begehren. Und unter den leiblichen Begierden gehen sie vorzugsweise dem Liebesgenuß nach und sind dabei unbeherrscht. […] Ferner sind sie impulsiv, jähzornig und geneigt, ihrem Zorn nachzugeben. […] Sodann erliegen sie ihrem Zorn, denn aus Ehrgeiz ertragen sie es nicht, geringgeschätzt zu werden, sondern empören sich, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Daneben sind sie zwar ehrgeizig, mehr aber noch siegeshungrig, denn die Jugend strebt nach Überlegenheit. […] Ferner sind sie nicht bösartig, sondern gutwillig, weil sie noch nicht viel an Schlechtigkeiten gesehen haben. Sodann sind sie gutgläubig, weil sie noch nicht oft getäuscht worden sind. […] Und sie leben überwiegend von der Hoffnung, denn die Hoffnung bezieht sich auf die Zukunft, die Erinnerung auf die Vergangenheit, für die Jugend ist aber die Zukunft lang, die Vergangenheit kurz. […] Ferner schämen sie sich leicht, denn sie haben noch keine Ahnung von anderen Werten, sondern sind nur nach den konventionellen Normen erzogen. Weiterhin sind sie auf Großes aus, denn sie sind vom Leben noch nicht gedemütigt worden. […] Weiters pflegt die Jugend mehr als die übrigen Lebensalter Freundschaft und Kameradschaft, weil sie am Leben in Gemeinsamkeit ihre Freude hat und noch nichts nach dem Nutzen beurteilt, also auch ihre Freunde nicht. […] alles betreiben sie im Übermut […].«1
Gleichsam komplementär hierzu verhält es sich nach Aristoteles mit den »Älteren, die die Blüte ihres Lebens mehr oder weniger schon hinter sich haben«, wobei die Charakterisierung durchwegs kritisch-distanziert ist:
»Weil sie nämlich schon viele Jahre gelebt haben, öfter enttäuscht worden sind, öfter Fehltritte begangen haben und die Mehrzahl der menschlichen Unternehmungen schlecht ausgeht, legen sie sich auf nichts endgültig fest, sondern in allem weniger vehement, als es geboten wäre. […] Und in ihren schwankenden Haltungen fügen sie überall ›vielleicht‹ und ›etwa‹ hinzu, und drücken alles so aus, nichts aber mit Bestimmtheit. Ferner sind sie bösartig; denn es ist bösartig, alles von seiner schlechten Seite her aufzufassen. […] Und sie sind kleinmütig, weil sie vom Leben erniedrigt worden sind. Nach nichts Großem und Außergewöhnlichem streben sie, sondern nach den Dingen des täglichen Lebens. […] Ferner sind sie feige und fürchten sich schon, bevor es Anlaß dazu gibt, sie sind nämlich gerade das Gegenteil der Jungen: Sie sind kühl, jene dagegen hitzig. […] Unablässig reden sie ja davon, was war, an der Erinnerung haben sie ihre Freude. Ihre Zornesausbrüche sind heftig, aber ohne Wirkung, und ihre Begierden sind teils erloschen, teils schwach, so daß sie nicht nach Maßgabe ihrer Begierden, sondern ihres Vorteils trachten und handeln. Daher erscheinen Menschen in diesem Alter besonnen, ihre Begierden sind erschlafft, und sie sind Sklaven des Gewinns.«2
Dagegen erheben sich »diejenigen, die in der Blüte ihres Lebens stehen, ihrem Wesen nach eine Mittelstellung zwischen beiden Altersgruppen einnehmen werden«:
»indem sie deren Extreme mildern und weder allzu zuversichtlich (denn das ist die Verwegenheit) noch allzu furchtsam sind, sondern in beidem das richtige Maß halten. […] Allgemein ausgedrückt vereinigen sie beide förderlichen Eigenschaften in sich, die Jugend und Alter getrennt für sich haben, wovon aber die einen zuviel, die anderen zuwenig haben, haben sie das passende Maß. Der Körper steht in seiner Blüte zwischen dem 30. und 35. Lebensjahr, der Geist um das 49. Lebensjahr.«3
Aristote...