KAPITEL 1
VERHĂNGNISVOLLES GOTTVERTRAUEN.
DAS »SCHERFLEIN DER WITWE« IM KONTEXT VON MK 10,46â13,2
1.1.EINLEITUNG
Wie im Buch »Frohe Botschaft am Abgrund« umfangreich entfaltet und in der EinfĂŒhrung der vorliegenden Arbeit noch einmal kurz notiert, steht hinter dem Mk-Ev eine Aporie. Auf der einen Seite stellt der JĂŒdische Krieg, der zur Zerstörung Jerusalems und seines Tempels fĂŒhrte und unter den AufstĂ€ndischen, vor allem aber in der Zivilbevölkerung, Opfer in groĂer Zahl forderte, fĂŒr Markus die GlaubwĂŒrdigkeit der EvangeliumsverkĂŒndigung grundsĂ€tzlich in Frage. Denn was war die Botschaft vom nahe herbeigekommenen Reich Gottes wert, wenn vierzig Jahre spĂ€ter eine derartige Katastrophe ĂŒber das Volk Gottes hereinbrechen konnte? Bei nĂŒchterner Betrachtung scheint nichts um das Urteil herumzufĂŒhren, daĂ das »Evangelium von Jesus Christus« gescheitert ist und daĂ auch Jesus als Messias gescheitert ist. Auf der anderen Seite aber ist Markus nicht bereit, diesem Evangelium und diesem Messias den Abschied zu geben, er hĂ€lt an beidem fest. Das vielleicht deutlichste Sinnbild der Aporie, in der er sich wiederfindet, steht am SchluĂ seines Werkes: Die mit der OsterverkĂŒndigung betrauten Frauen sind von ihrer Aufgabe ganz und gar ĂŒberfordert und geraten in einen Zustand sprachloser Furcht (Mk 16,8).
Markus lĂ€Ăt es jedoch nicht dabei bewenden, die Aporie im Zentrum seines Textes ein ums andere Mal zu umkreisen und sich ihr gewissermaĂen auf einer Spiralbahn anzunĂ€hern. Zugleich nĂ€mlich fragt er nach den GrĂŒnden fĂŒr die gerade geschilderte absurde Situation: Wie ist es zu erklĂ€ren, daĂ das »Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes« (Mk 1,1) Israel nicht die Rettung gebracht hatte, wie ist es zu erklĂ€ren, daĂ es trotz der Frohen Botschaft von der Auferstehung des Einen und von der NĂ€he des Gottesreiches zum Krieg Jerusalems gegen Rom â und zum Triumph Roms ĂŒber Jerusalem â gekommen war? Diese doppelte Zielsetzung fĂŒhrt, wenn nicht zu einem Bruch in der Handlungslogik, so doch zumindest zu einer ganz erheblichen Spannung im Textaufbau:
Von Mk 8,31â10,45 â d.h. von der ersten LeidensankĂŒndigung bis hin zu der Aussage, daĂ der Menschensohn gekommen sei, sein Leben zu geben als Lösegeld fĂŒr viele â wird der Text vom kommenden Leiden und Sterben Jesu bestimmt, von der Notwendigkeit dieses Geschehens und von seinen Folgen1.
Ab dem Beginn des 14. Kapitels ist die Handlung dann erneut deutlich auf die Passion hin ausgerichtet, und schon in Kap. 13 gibt es zwei Stellen, die mit der markinischen Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu zusammenhĂ€ngen: Das Zerbrechen der Tempelsteine, das Jesus in 13,2 voraussagt, entspricht dem ZerreiĂen des Tempelvorhangs in der Stunde seines Todes (vgl. 15,37f.), und die BedrĂ€ngnisse in jĂŒdischen Synagogen und vor heidnischen Gerichten, auf die sich seine AnhĂ€ngerschaft einstellen muĂ, korrespondieren mit dem, was ihm selber erst vom Hohen Rat und dann von den Römern angetan wird (vgl. 13,9 mit 14,53â65; 15,1â20).
Dazwischen aber â von Mk 10,46 bis zum Ende von Mk 12 â laufen die Dinge in eine andere Richtung: Jesus hier nicht der leidende, sondern der tĂ€tige, das Geschehen bestimmende Christus, er heilt (10,52), er handelt in Vollmacht (11,27â33) und weist seine Gegner zurecht (vgl. 11,33; 12,27)2.
In einer Hinsicht ist Jesus dabei sogar aktiver als je zuvor im Mk-Ev. Denn in Mk 1â10 trat er immer erst dann in Auseinandersetzungen ein, wenn er sich herausgefordert sah oder den Widerstand seiner Gegner spĂŒrte3. Im Bereich des Heiligtums aber sucht Jesus gleich viermal von sich aus die Konfrontation, d.h., statt zu reagieren, agiert er: bei der sogenannten Tempelreinigung (11,15â19), mit dem Gleichnis von den bösen WeingĂ€rtnern (12,1â12), mit der Frage nach dem Davidssohn (12,35â37) und mit der Warnung vor den Schriftgelehrten (12,38â40).
Die Mitglieder des Hohen Rates sinnen in Mk 11â12 zwar auf den Tod Jesu, aber vorerst sind ihnen noch die HĂ€nde gebunden, sie kommen mit ihren PlĂ€nen nicht voran (vgl. 11,18.32; 12,12.37). Auch das Gleichnis von den bösen WeingĂ€rtnern (Mk 12,1â12), in dem Jesus von der Ermordung des »geliebten
Sohnes« spricht, dient nicht dazu, die Leserschaft (oder jene, die Jesus im Text zuhören) auf das spĂ€tere Geschehen von Golgatha vorzubereiten. Denn Jesus sagt hier etwas anderes als an den einschlĂ€gigen Stellen in Mk 8â10, und seine Worte erfĂŒllen einen anderen Zweck. Auf dem Weg nach Jerusalem erfahren die Zwölf: Jesus â der Menschensohn â geht in den Tod, weil er leiden und sterben muĂ (vgl. 8,31), er wird von den Hohenpriestern, Schriftgelehrten und Ăltesten an die Heiden ausgeliefert, damit diese ihn töten (vgl. 10,33f.), und er wird sein Leben als »Lösegeld fĂŒr viele« geben (10,45). Im Gleichnis töten die WeingĂ€rtner (d.h. die Hohenpriester und ihre SpieĂgesellen) »den Sohn« hingegen selbst, von einer heilvollen Wirkung dieses Todes hören wir nichts (im Gegenteil: die WeingĂ€rtner werden wegen ihrer Tat sowohl den Weinberg als auch ihr Leben verlieren), und der Tod des Sohnes entspricht keineswegs dem Willen des Vaters (vgl. 12,6). Kurz: Jesus stirbt hier nicht nach dem RatschluĂ Gottes und aufgrund einer heilsgeschichtlichen Notwendigkeit, sondern einzig deshalb, weil seine Kontrahenten sowohl böse als auch dumm sind. Im Gleichnis entspricht die Ermordung des Sohnes dem, was die WeingĂ€rtner zuvor schon etlichen Knechten des Weinbergbesitzers angetan hatten, d.h. der markinische Jesus versteht seinen eigenen drohenden Tod analog zu der Ermordung frĂŒherer Propheten (vgl. dazu Mt 23,29â37 und umfassend Steck 1967). Vor allem aber handelt es sich von der GesprĂ€chssituation her bei dem Gleichnis nicht um eine poetisch eingekleidete Darstellung einer feststehenden Zukunft, sondern um eine Warnung: Jesus gibt dem Volk zu verstehen, in welcher Gefahr er sich sieht, er zeigt den Hohenpriestern, daĂ er ihre Machenschaften durchschaut, und legt ihnen zugleich in prophetischer Manier nahe, von ihrem bösen Weg umzukehren. Das Gleichnis zwingt den Hohen Rat nicht, in die Verdammnis zu gehen â genausowenig wie das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen (Mt 25,1â13) irgendwelche Menschen dazu zwingt, auf die Ankunft des Menschensohnes nicht vorbereitet zu sein. Solche Gleichnisse werden typischerweise erzĂ€hlt, damit die RealitĂ€t gerade einen anderen Verlauf nimmt.
Die Passionserwartung, die die vorangehenden Kapitel des Mk-Ev beherrschte, ist in den Kapiteln 11 und 12 wenn nicht verschwunden,...