GEDENKEN AN DIE GEFALLENEN BRÜDER
Ansprache bei der Gedenkfeier am 1. März 1925 (Volkstrauertag und Landesbußtag)1
Für Sonntag, dem 1. März 1925, war im gesamten Deutschen Reich ein Volkstrauertag bzw. Landesbußtag zum Gedächtnis der im Ersten Weltkrieg Gefallenen und der übrigen Kriegsopfer angeordnet worden.2 In Marburg fanden am Vormittag in allen Kirchen und in der Synagoge Gedenkgottesdienste statt, während die allgemeine Trauerkundgebung vor dem Kriegerdenkmal auf dem Friedrichsplatz am Nachmittag von den Kriegervereinen ausgerichtet wurde.3 Leider fehlt in Bultmanns Manuskript eine Ortsangabe. Erich Gräßer vermutete: »Als Ort kommt wohl nur Marburg in Frage.«4 Allerdings wird in den Kirchlichen Nachrichten der Oberhessischen Zeitung Bultmann als Prediger in einer der Marburger Kirchen am 1. März nicht genannt.5 Und bei der allgemeinen Trauerkundgebung sprach – neben Vertretern der katholischen Kirche und der jüdischen Gemeinde – für die evangelische Kirche Pfarrer Dr. Frankenberg.6
In Bultmanns Ansprache klingt der »Konflikt um ein republikanisch oder deutsch-national gesinntes Heldengedenken« an.7 Die Gegenposition zu Bultmann nimmt etwa der Zeitungsbeitrag »Deutschlands Trauertag« von Gouverneur a.D. Dr. Heinrich Schnee ein, wo es u.a. heißt:
»Sie [sc. die Gefallenen des Weltkrieges] wollten die Erhaltung des großen mächtigen Deutschlands. Das Ziel ist nicht erreicht. Am Ende des Weges, an dem in unabsehbaren Reihen die Gräber der Gefallenen liegen, steht ein zusammengebrochenes, ohnmächtiges Deutschland, das rachsüchtige, habgierige Feinde verstümmelt, beraubt und geknebelt haben. […] Es leben für uns aber auch fort die Ziele, welche jene gefallenen Helden im Herzen und vor Augen gehabt haben. Sie sind den Weg des Todes gegangen zur Wahrung der höchsten Güter der Nation. […] Es gilt für uns das freie, geachtete und mächtige Deutschland wieder herzustellen.«8
Was die Haltung der Marburger Professorenschaft zur Weimarer Republik betrifft, so war es wie an den anderen deutschen Universitäten auch an der Philipps-Universität nur eine Minderheit, die die Republik innerlich nicht ablehnte.9 In seiner Breslauer Zeit hatte Bultmann zu einer »vertieften liberalen staatspolitischen Einstellung« und folglich auch zu einem »affirmative[n] Verhältnis zur Weimarer Demokratie« gefunden.10 »Innerhalb der evangelischen Universitätstheologie wie auch überhaupt im deutschen Protestantismus gehörte er damit der Minderheit der liberalen Vernunftrepublikaner an, die sich im Unterschied zur antidemokratischen Mehrheit im protestantischen Milieu dem fragilen demokratischen Staat gegenüber loyal verhielten.«11 Das schließt aber nicht aus, dass Bultmann – wenn auch in zurückhaltenderem Ton als in seinen Kriegspredigten12 – vom Heldentod deutscher Soldaten sprechen kann, die in treuer Pflichterfüllung ihr Leben als Opfer für ihr Volk gegeben haben.
Die Anrede »Freunde« dürfte ein Hinweis darauf sein, dass Bultmann die Gedenkrede vor Marburger Studenten, möglicherweise speziell vor Mitgliedern der »Akademischem Vereinigung«13 gehalten hat, in der sich Bultmann bereits vor dem Ersten Weltkrieg engagiert hatte und seine Schüler nun einen maßgeblichen Einfluss ausübten. Die Angabe »an den Gräbern« lässt als Ort an den Kriegsgräberfriedhof für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs auf dem Hauptfriedhof an der Ockershäuser Allee in Marburg denken.
1. III. 1925
Freunde! Wir haben uns versammelt, unserer gefallenen Brüder zu gedenken. Wie sollen wir ihrer gedenken? so gedenken, daß wir ihrer, daß wir der unermeßlichen Opfer wert sind? so, daß wir sie wirklich ehren?
Wir denken ihrer in Trauer, in Schmerz. Wohl können wir ihr Andenken feiern, wohl können wir manchem Grab eine Stunde des Gedenkens weihen, wohl können wir ihre Bilder schmücken. Aber:
»Wir können sie nicht mehr schmücken,
Nicht mehr die Hände drücken
Den vielen, vielen Scharen,
Die unsre Brüder waren.«14
Wir können nicht mehr ihre Hand drücken, ihnen nicht mehr ins Auge sehen. Wir, die wir in der Heimat bleiben mußten, erinnern uns vielleicht noch des letzten Males, da wir dem geliebten Bruder, dem Sohn, dem Vater, dem Gatten die Hand drückten, ihm zum letzten Mal ins Auge schauten. Augenblick banger Ahnung. Und dann kam die bittere Nachricht, daß er gefallen sei. Wir werden ihn nicht mehr sehen, ihm nie mehr die Hand drücken. – Ihr, die ihr [im] Felde standet, ihr denkt vielleicht an manchen Kameraden, mit dem ihr treu /2/ zusammen standet im Gefecht, im Schützengraben, im Trommelfeuer, in guten und in bösen Stunden. Dann ward er hinweggerissen. – Wir alle, wir denken an sie alle, die draußen gefallen sind, die unter Schmerzen und im Fieber in Lazaretten starben, an sie alle, die Bekannten und Unbekannten.
»Wir können sie nicht mehr schmücken,
Nicht mehr die Hände drücken
Den vielen, vielen Scharen,
Die unsre Brüder waren.«
Wir denken heute an sie in tiefer Trauer! Heute! nur heute? Gestehen wir uns, daß uns das alltägliche Leben mit seinen Beschäftigungen und Sorgen wieder in seinen Betrieb gezogen hat. Wie oft weilen unsere Gedanken noch in Schmerz bei den Gefallenen? Wie oft schaut etwa unser Blick noch empor zu dem Bild dessen, der uns entrissen ward, und das nun die Wand unseres Zimmers schmückt? Es hat schon seinen guten Sinn, daß wir aus der Flucht der Tage einen Tag, dies Heute, festhalten: er soll dem Gedenken gewidmet sein, er soll der Trauer gelten!
Aber wahrlich nicht nur er. Denn ist unsre Trauer echt, so wird sie sich in unserm Alltagsleben /3/ auch geltend machen. Nicht so, daß wir immer an die Gefallenen dächten; das ist ja nicht möglich. Aber so, daß diese Trauer unserm ganzen Leben einen bestimmten Charakter gibt; daß aus unserem Leben zwar die Freude nicht schwinden soll, aber die leichtsinnige, alberne Freude. Meine Freunde: ein Volk, das so Schweres erlebt hat, wir alle, die wir um unsere Brüder trauern, wir dürfen nicht mehr in Leichtsinn und Albernheit versinken. Das ist unwürdig. Wenn wir heute ehrlich um unsere Gefallenen klagen, so muß es uns zum Bewußtsein kommen: Trauer ist nicht nur der Ausbruch des Schmerzes, ist nicht nur eine Stunde wehmütiger Stimmung, Trauer ist Pflicht! Verpflichtung zu Ernst und Festigkeit. So laßt uns in Trauer der vielen Brüder gedenken.
Wir gedenken ihrer in Trauer. Wir gedenken ihrer auch in Stolz. Ja, in Stolz; denn mag dies Wort noch so oft mißbraucht worden sein, wir wollen uns seinen edlen, großen Sinn nicht nehmen lassen. Und wir ehren die Gefallenen, wenn wir stolz auf sie sind. Sie sind unsere Helden, die Bekannten und die Unbekannten. Heldentum war ihr Ausharren im Schützengraben in Gefahr und Not. Und war es kein lautes Heldentum, war es das Heldentum der bescheidenen, treuen Pflichterfüllung: wir sind stolz darauf, daß solche Helden die unseren waren. /4/ Aber von unserem Stolz wollen wir nicht mit vielen und lauten Worten reden. Vor allem wollen wir nicht davon reden, um uns in diesem Heldentum zu sonnen, um zu prahlen von der Größe und Schönheit der Kriegszeit, in der solches Heldentum wuchs. Nein! Von unserem Stolz wollen wir nur hier an den Gräbern reden, nur ihnen zur Ehre, nicht uns zur Ehre, daß er in den rechten Schranken bleibt, also nur zugleich mit unserm Schmerze. Nur ihnen zur Ehre, und nicht dem Kriege zur Ehre. Wir würden die Opfer, die sie gebracht haben, ja gar nicht verstehen, wenn wir uns den Krieg als die große, herrliche Zeit vorstellten, wenn wir uns gar wieder einen Krieg wünschten für neues Heldentum. Nein, gerade weil wir den Krieg als ein furchtbares, entsetzliches Schicksal ansehen, gerade weil wir wünschen und, so viel an uns liegt, dazu beitragen wollen, daß Deutschlands Söhne nicht wieder in den Krieg hinausmüssen, – gerade deshalb blicken wir mit Ehrfurcht auf das Heldentum der Gefallenen, die ein so furchtbares Schicksal aushalten mußten. Ja, wir sind stolz auf sie, aber wir wollen es nicht mit großen Worten sein, sondern mit der Tat.
Wir gedenken ihrer in Trauer, wir gedenken ihrer in Stolz, wir gedenken ihrer im Willen zur Tat. Denn Dankbarkeit und Treue zeigt sich in der Tat. /5/ Der Wille zur Tat bedeutet Opferwille. Denn sie haben ihr Leben geopfert. Für wen? Für uns, für Deutschland. Und ist dies Deutschland der Gegenwart, das wir um uns sehen, des Opfers wert? Mit tiefer Beschämung müssen wir sagen: nein. Dies Deutschland, in dem immer noch die einen die andern verachten, in dem die einen es sich wohl sein lassen auf Kosten der andern, in dem Leichtsinn und Üppigkeit und auf der andern Seite Not und Neid regieren. Nein, dies Deutschland ist der Opfer nicht wert. Aber wenn wir der Opfer wert sein wollen, so müssen wir an das Deutschland der Zukunft glauben. An ein Deutschland, in dem Recht und Gerechtigkeit herrschen, an ein Deutschland, das eine wirkliche Gemeinschaft des Volkes ist, an ein Deutschland, in dem alles Gemeine bezwungen wird von allem Edlen und Großen. Ein Deutschland, das deshalb durch seine ganze Existenz dazu beiträgt, daß der Welt der Frieden erhalten werde.
Ein solches Deutschland brauchte sich der Opfer nicht zu schämen. Wenn wir der Gefallenen so gedenken, so muß es uns mit Schmerz erfüllen, wie wenig ein solches Deutschland heute besteht. Der Schmerz ist heute ein doppelter, da es nicht einmal möglich gewesen ist, daß wir heute gemeinsam /6/ unsere Trauerfeier halten. Sogar in das Gedenken der Toten mischt sich Zwietracht und Streit. Wir empfinden es mit Schmerz. Aber wir wollen rein sein von Schuld. Und wir wollen nicht diese Stunde entweihen dadurch, daß wir uns in Anklagen gegen die andern ergehen. Wir wollen an das Deutschland der Zukunft glauben. Wenn ein Mensch etwas Großes will, so muß er auch einen großen Glauben haben. Und in solchem Glauben wollen wir uns zusammenfinden und in der ruhigen Überzeugung, daß wir uns zum Banner Schwarz-rot-gold bekennen, weil wir in ihm das Zeichen sehen, in dem Recht und Freiheit für unser Volk siegen wird. Und in solchem Bekenntnis wollen wir in dieser Stunde auch des Mannes gedenken, der an der Spitze unserer geliebten Republik gestanden, der seine Lebenskraft für das Deutschland der Zukunft eingesetzt hat, den uns jetzt der Tod entrissen hat, Friedrich Eberts.15 Er ist es wert, daß wir in der Stunde, da wir der Gefallenen gedenken, auch seiner dankbar gedenken. Auch er hatte den großen Glauben an Deutschlands Zukunft.
Aber an Deutschlands Zukunft sollen wir nicht nur glauben, sondern mit der Tat dafür wirken, damit das Opfer der Gefallenen nicht umsonst sei. An unsere /7/ Pflicht wollen wir denken. Dazu gehört in erster Linie unsere politische Pflicht, daß wir mutig eintreten für unsere Überzeugung, für Republik und Demokratie. Aber wir wollen an dieser Stätte und in dieser Stunde keine pol...