Generation Maybe
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Generation Maybe

Die Signatur einer Epoche

  1. 192 Seiten
  2. German
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Generation Maybe

Die Signatur einer Epoche

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Oliver Jeges lieferte 2012 in der WELT mit seinem Essay Generation Maybe das neue Schlagwort einer Generation. Sein Artikel, der sich auf die inzwischen verbotene Werbekampagne von Marlboro "Don't be a Maybe" bezieht, wurde auf Facebook fast 100.000 Mal geteilt. In den Medien kursiert seitdem die Diskussion um das Erwachsenwerden in unserer Multioptionsgesellschaft. Jeges traf den Nerv der Zeit. Doch was zeichnet die Generation Maybe aus? Sie strebt nach Glück, Sicherheit und Freiheit. Sie will atomfreien Strom, glückliche Hühner und fairen Kaffee. Ihr Lebensziel ist ein CO2-freier Fußabdruck und die große Selbstverwirklichung. Alles ist ja heute möglich. Das klappt schon, irgendwie. Oder?Doch was nach außen wie ein Segen scheint, ist für diese Generation ein Fluch. Sie ist in Wohlstand gebettet und hat dennoch rasende Existenzängste. Eine Generation hat ihren Kompass verloren und ringt um Orientierung. Weil plötzlich alles möglich ist, sind alle heillos überfordert. Oliver Jeges fühlt in seiner sehr unterhaltsamem und ehrlichen Reportage den 20- bis 35-Jährigen auf den Zahn, mischt sich unter das Partyvolk, Praktikanten, Professoren und Piraten und befragt schonungslos sich selbst, wie er nur zu einem Maybe werden konnte.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783942989657

ALLES GEHT!

»You have to be unique and different, and shine in your own way.«
— Lady Gaga
»Ich liebe das Freie und Unverbindliche.«
— Philipp Poisel
»Lauf schon so lang, nur weiß nicht wohin.«
— Prinz Pi
Fangen wir mit Marie an.
Marie ist eine junge kreative Frau. Das findet nicht nur sie selbst. Auch andere sehen das Talent in ihr, von dem sie selbst weiß. Sie muss nur noch einen Weg finden, ihr Potential auszudrücken. Sie würde gerne singen oder Schauspielerin werden. Doch eine Kehlkopfkrankheit lässt das nicht zu. Wenig später entdeckt Marie ihre Liebe zur Malerei. Sie geht nach Paris, lernt das Handwerk. Nach nur kurzer Zeit schafft sie bereits Bilder, die die Leute beeindrucken. Bald darauf hängen die ersten Werke von ihr in Pariser Museen. Doch so richtig glücklich macht sie all das nicht. Sie sagt sich, dass da noch mehr sein muss. Ihre Erfahrungen, ihre
Gefühle, ihre Verzweiflung notiert sie hin und wieder in ihrem Blog: »Ich habe es satt, unbedeutend zu sein. Ich modere im Schatten dahin. Die Sonne, die Sonne, die Sonne! Los geht’s – lasst uns mutig sein. Die Zeit ist eine Reise, die mich dorthin führt, wo es mir gut geht. Bin ich wahnsinnig? Oder vom Schicksal auserwählt? So oder so, ich bin gelangweilt!« Wenig später schreibt Marie den Satz, den heute jede zweite Biografie über sie als Titel trägt: »Ich will alles sein!« Mit 25 stirbt sie an Tuberkulose. Sie hatte nicht mehr die Chance, alles zu werden, alles zu sein. Wir schreiben das Jahr 1884.
Marie Bashkirtseff, so ihr voller Name, hat zu jener Zeit natürlich keinen Blog geschrieben. Aber so etwas Ähnliches. Man nannte es damals Tagebuch. Drei Jahre nach ihrem Tod werden ihre Aufzeichnungen veröffentlicht und avancieren zu einem Bestseller. Junge Frauen über den ganzen europäischen Kontinent verstreut lesen, was Marie gedacht, geschrieben, gefühlt hatte. Wikipedia spricht sogar von einem »Kultbuch« der damals jungen Frauengeneration. Fast jede, die eine Kopie des Tagebuchs in die Hand bekam, verschlang es über Nacht. Viele Leserinnen erkannten sich in den Notizen der Marie Bashkirtseff wieder. Nicht nur die Betuchten, die, so wie Marie, ein Leben im Wohlstand des Landadels verbrachten, fühlten sich angesprochen.
Heute, mehr als ein Jahrhundert später, gilt der Spruch »Ich will alles sein!« immer noch. Vielleicht sogar mehr als je zuvor. Aber das trifft auch für ihr anderes Bekenntnis zu: »Ich bin gelangweilt.« Wer es heute mit jungen Menschen wie mir zu tun hat und den allermeisten ab 1980 Geborenen, sieht diese zwei Aussagen der Marie Bashkirtseff wie ein Déjà-vu vor sich aufziehen. Wir wollen alles, darunter machen wir es selten.
Woran wir knabbern, ist der Traum vom perfekten Leben. Irgendwann haben wir begonnen zu glauben, dass alles möglich sei. Dass Träume wahr werden können. Dass wir nicht nur ein gutes, sondern ein ultimatives Leben führen können, wenn wir uns nur genügend anstrengen und die richtigen Entscheidungen treffen. Aber genau damit tun wir uns so schwer: Entscheidungen treffen.
So geht es nicht nur mir. Ich sehe es bei Freunden und Zufallsbekanntschaften. Uns alle eint die Sorge, nicht dahin zu gelangen, wo wir uns in unserer Vorstellung sehen. Die Sorge, dass wir vielleicht die falschen Entscheidungen treffen. Wir wollen unsere Träume wahr werden lassen, haben aber nie gelernt, was zu tun ist, wenn das nicht klappen sollte.
Glaubt man Klaus Hurrelmann, dann war das nicht immer so. Klar, Ängste hatten die Menschen auch früher. »In Zeiten des Wohlstands aber von Existenzängsten geplagt zu werden, das ist neu«, sagt der Professor. Klaus Hurrelmann ist Jugendforscher. Wann immer im Fernsehen, in Zeitungen oder im Radio über die junge Generation gefachsimpelt wird, ist Hurrelmann als Experte zur Stelle und zerbricht sich den Kopf. Er betreut seit mehreren Jahren die Shell-Jugendstudie, die alle vier Jahre herauskommt. In diesen Analysen geht es um die 12- bis 25-Jährigen. Jene Altersgruppe, die man heute als Jugend zusammenfasst. Wobei das mit der Jugend gar nicht so einfach ist.
»Die Lebensphase Jugend dauert heute rund fünfzehn Jahre«, sagt Hurrelmann, »und damit so lange wie noch nie zuvor.« Eine genaue Definition, wann Jugend beginnt und wann sie endet, gibt es nicht. Seit dem Jahr 1800 hat sich der Beginn der Pubertät dramatisch nach vorne verschoben. Damals setzte die Pubertät etwa mit siebzehn ein. Heute schon oft vor dem zwölften Lebensjahr. Das hat viele Gründe, hängt aber mit der immer besser gewordenen Lebensqualität zusammen. »Für den Austritt aus der Jugend haben wir allerdings kein biologisches Kriterium«, sagt der Professor. Früher habe die Jugend mit einer sogenannten Adoleszenzkrise geendet. »Das heißt, wenn der Selbstfindungsprozess und die körperliche Entwicklung beendet sind, man sich von den Eltern abgelöst hat und auf den eigenen Beinen steht. Wenn das alles geschehen ist, dann ist man aus der Lebensphase Jugend heraus«, sagt Hurrelmann. Würde man den Austritt aus der Jugend heute an Faktoren wie einem eigenen Arbeitsplatz und einer eigenen Familie festmachen wollen, so geriete man ins Schwimmen. Denn da herrsche heute alles andere als Eindeutigkeit. Die Jugend sei heute ein eigener Lebensabschnitt für sich.
Das war vor hundert Jahren, also zu der Zeit von Marie Bashkirtseff, noch nicht so. Damals gab es Kinder und Erwachsene. Jugend ist eine Erfindung der Moderne. Die Zeiten haben sich seither im Turbo-Boost geändert. Und eine Sache, die unsere Zeit definiert, macht uns ganz besonders zu schaffen: Es gibt keine Sicherheit mehr. Wir kriegen so viele befristete Arbeitsverträge wie keine Generation vor uns, wir haben den Lebensabschnittspartner erfunden und sind überzeugte Wechselwähler. Wer heute in die Welt blickt weiß: Nichts ist mehr sicher. In London gibt es Stadtteile, die sehen aus, als wäre man gerade in Mumbai. Auf der Arabischen Halbinsel gibt es Städte, die sehen aus, als wäre man gerade in den USA. Beim Burgergiganten McDonald’s bekommt man inzwischen Kaffee und Kuchen, der Computerhersteller Apple produziert Telefone, am Kiosk kann man Pakete verschicken, Zeitungen berichten in Form von Videos, Fernsehserien sind die neuen Romane, der US-Präsident ist Hawaiianer mit kenianischem Migrationshintergrund, eine Frau aus dem Osten ist Bundeskanzlerin von Gesamtdeutschland, Berlin ist das neue New York. Es gibt einen Papst, der Homosexuelle und Atheisten ziemlich sympathisch findet. Es gibt männliche Feministen und Frauen, die Hausarbeit wieder gut und eine Frauenquote doof finden. Die arabische Welt entdeckt vielleicht die Demokratie, und in Europa schwärmen so manche für das chinesische Unterdrückermodell. Nein, es gibt keine Gewissheit mehr. Wo man auch hinsieht.
Die Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten vom Kopf auf die Füße gestellt. Oder andersrum, von den Füßen auf den Kopf. Wir leben in einer Zeit, in der sich alles so schnell und stark verändert wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Der Wandel vollzieht sich zum Teil so rasant, dass wir gar nicht hinterher kommen, um uns den neuen Gegebenheiten anzupassen. Und warum sollten wir das überhaupt? Morgen könnte doch schon wieder alles ganz anders sein. Herkömmliche Grenzen verschwimmen. Neue Grenzen gibt es keine. Alles ist möglich. Alles steht uns zur Verfügung. Oder wie Julianne Moore in Boogie Nights ruft: »You can do everything, you can do everything!«
Das alles klingt nach einer platten Binse. Aber ist es das? Kommen wir wirklich so gut zurecht mit dem Dauerrauschen unserer Zeit? Ist das alles schon so selbstverständlich, dass es uns gar nicht mehr kitzelt? Niemand ist von den gegenwärtigen Veränderungen so massiv betroffen wie unsere Generation. Wir sind entwicklungsmäßig auf dem Niveau eines Kleinkindes, das gerade seine Umgebung neu entdeckt. Das Tempo, in dem der gesellschaftliche, technologische und kulturelle Wandel voranschreitet, macht uns Freude, weil die Welt, wie wir sie aus Sciencefiction-Filmen kennen, schneller Wirklichkeit wird, als wir dachten. Es ist doch verdammt cool, dass es den Tagespropheten aus der Harry-Potter-Welt in Form des iPads nun wirklich gibt. Zeitungsartikel mit beweglichen und verschiebbaren Bildern. Michael Knight konnte mit seinem K.I.T.T. noch über seine Uhr kommunizieren. Auch diese schlauen Uhren gibt es schon, sie heißen Smart-watches. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir unser Auto damit fernsteuern können.
Dieser Fortschritt, so fantastisch er ist, bereitet uns aber auch Kopfzerbrechen, Unbehagen und Sorge. Ganz einfach aus dem Grund, weil es keinen Plan gibt für das Jetzt. Keinen Plan für die Zeit, in der wir leben. Wir können uns nicht mehr an unseren Eltern und Großeltern orientieren wie an einer Gebrauchsanweisung, um in der neuen Welt zu bestehen. Die Regeln haben sich seit Oma und Opa, seit Mama und Papa geändert. Ja, oft gibt es gar keine Regeln mehr.
Man muss das so sehen: Kein Mensch hat je schwimmen gelernt, indem er sich ins offene Meer wirft und drauflos strampelt. Niemand nimmt ein Musikinstrument zur Hand und beherrscht es auf Anhieb. Kinder lernen Sprache, indem sie nachahmen, was sie um sich herum hören. Imitation und Übung waren schon immer Formen, um sich an die Wirklichkeit anzupassen. Wonach sollen wir uns aber richten?
Unsere Generation wurde in eine Zeit geworfen, für die es keine Anleitung gibt. Es gibt nichts, was man nachahmen könnte. Die alten Pfade sind ausgetrampelt. Das Leben durch Copy & Paste zu vereinfachen funktioniert nicht mehr, weil sich die Welt beinahe täglich neu erfindet. Und das in einem Tempo, das uns manchmal schwindelig werden lässt. Und dieser Schwindel ist schon so normal, dass wir ihn kaum mehr registrieren. Wie der Seekranke, nachdem er sich dreimal ordentlich ausgekotzt hat. Die Seekrankheit bleibt, nur scheint sie nicht mehr so virulent zu sein.
In Unterhaltungen merke ich immer wieder, dass jeder alles für selbstverständlich nimmt, ich inklusive. Und dass man gerne belächelt wird für in der Tat inhaltsleere Sätze wie: »Die Zeiten ändern sich« oder »Wir leben in einer schnelllebigen Zeit«. Das darf uns aber nicht davon abhalten, trotzdem genau hinzusehen. Unsere Großeltern erlebten teilweise noch die Ausläufer des Postkutschenzeitalters. Unsere Eltern hatten womöglich noch alte Nazis, die sich irgendwie aus dem Dritten Reich sanft rübergerettet hatten in die Bundesrepublik, als Lehrer in der Schule. Und wir? Wir stehen am Anfang einer digitalen Epoche, in der unzählige Daten und die weltweite Kommunikation wie in einer Matrix im Hintergrund dahinrattern. Man muss sich das vorstellen wie ein Tweetdeck, nur abermillionenfach schneller. Wir stehen auf der Schwelle zu einer zweiten Moderne, einer Nachmoderne, einer Postmoderne, oder wie auch immer man dieses neue Zeitalter nennen mag. Wir können unsere Alten nicht fragen, wie das geht. Wir können uns da nur gegenseitig durchhelfen.
Das hervorstechendste Merkmal dieser neuen Spanne lässt sich auf zwei Worte reduzieren: Anything goes! Alles geht! Wir haben heute alle Möglichkeiten zur Verfügung. Wir leben in der totalen Multioptionsgesellschaft.
Dabei muss ich immer wieder an eine Szene denken, die ich vor einigen Jahren beobachten konnte. Eine unspektakuläre Szene zwar. Aber eine, die in ihrer Skurrilität den Zeitgeist offenbart, wenn es so etwas wie einen Zeitgeist überhaupt gibt.
Während meines Studiums habe ich in einem Lokal gekellnert. Wir verkauften Bagels und Kaffee, Muffins und Shakes. Es war eine schöne Zeit. Man trifft viele Leute und kommt schnell ins Gespräch. Man macht die Leute sofort glücklich, in dem man ihnen was Süßes oder Salziges vor die Nase stellt. Eine Szene von damals hat sich fest in meine Gehirnwindungen eingebrannt.
Das Geschäft lief immer am Vormittag besonders gut. Die Lauf- und Stammkundschaft bestand aus jungen Kreativen, geldstarken Managern, aus prekären Studenten und blassen Angestellten. Alle bekamen am Morgen schnell ihren heiß geliebten Coffee-to-go. An einem eher mauen Vormittag kamen in nur kurzem Abstand zwei Gäste in das Lokal, die den Zeitgeist in unfreiwilliger Komik zum Ausdruck brachten.
Zuerst betrat ein alter Mann den Laden, gestützt auf einen Gehstock. Er muss um die Achtzig gewesen sein. In seiner Begleitung war ein anderer Mann, ungefähr halb so alt. Kaum stand der wackelige Alte mit beiden Beinen fest im Laden, hatte er bereits alle Blicke auf sich vereint. Der Grund: Seine Finger waren mit gut einem Dutzend Silberringen geschmückt, manche hatten Totenschädel als Emblem. Er trug Converse Chucks, eine helle Bluejeans und eine Lederjacke. Alleine diese Aufmachung war bereits der Brüller. Doch zur Formvollendung trug der Alte noch ein Kleidungsstück, das alle meine bisherigen Vorstellungen vom Rentnerdasein sprengte: Er hatte ein AC/DC-Shirt an! Ein Bandshirt im Vintage- und Used-Look. Der Typ sah aus wie ein Rockstar. Ein pensionierter zwar, aber doch wie ein Rockstar. Aus irgendeinem Grund wirkte der Alte nicht lächerlich. Von seinem Begleiter ließ er sich eine Stunde lang irgendwelche Sachen auf einem MacBook zeigen, sie tranken beide schwarzen Kaffee.
Während der Alte also von seinem Begleiter etwas auf einem Laptop gezeigt bekam, betrat eine junge Frau das Lokal. Sie kann nicht älter als Mitte zwanzig gewesen sein. Irgendetwas stimmte nicht an ihr. Es ist ja oft so, dass man im ersten Augenblick nicht sagen kann, was an einer Sache nicht stimmt, man muss einige Bruchteile von Sekunden warten, bis man den »Fehler« in einem Kontext erkennt. Aber dann war doch ziemlich schnell alles klar. Die junge Frau war von oben bis unten beige gekleidet, unter ihrem Regenmantel sah man durchfallfarbene Omaschuhe und graubraune Strümpfe hervorschimmern. Das straßenköterblonde Haar hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt. Zur Krönung hing ein Regenschirm von ihrem ausgestreckten Unterarm herunter. Oder ein Sonnenschirm, ich weiß es nicht mehr. Alles in allem sah sie aus wie eine Reinkarnation von Mary Poppins.
Was für ein Bild: Ein Rentner in einer Art Endlife-Crisis versucht sich nochmals als junger Wilder, und eine Mittzwanzigerin wagt den optischen Senioren-Look, um sich selbst visuell zum Verschwinden zu bringen. Man kann aus diesem Einzelfall nicht induktiv eine Haltung auf die Allgemeinheit ummünzen. Schon klar. Dennoch sagt dieses Bild viel über unsere Gegenwart, in der feste Regeln, gesellschaftliche Normen und zwischenmenschliche Codes sukzessive verschwinden.
Ein Blick in die Zeitung (oder das Online-Portal, was immer man auch gerade bevorzugt oder zur Hand hat) reicht, um zu sehen, dass alleine zum Thema Geschlechter gar nichts mehr unmöglich ist. Im Frühjahr 2013 bringt in Berlin-Neukölln ein Mann ein Kind zur Welt. Ein als Frau geborener zwar, aber ein Mann. An den Universitäten heißt es, das biologische Geschlecht sei nur ein soziales Konstrukt. Man werde also nicht als Mann oder Frau geboren, sondern erst durch Erziehung zu Mann oder Frau gemacht. Im Berliner Bezirk Friedrichshain will die Piratenpartei Unisex-Toiletten in öffentlichen Gebäuden verordnen. An der Uni Leipzig sollen nun auch männliche Lehrkräfte in weiblicher Form angesprochen werden, nämlich mit »Herr Professorin«. Was für Menschen jenseits der Vierzig vollkommen irre klingt, stößt in unserer Generation nicht rundheraus auf Ablehnung, sondern oft auf wohlwollendes Verständnis. Was beweist, dass man tatsächlich über alles reden kann. Anything goes!
Für den Soziologen Bernhard Heinzlmaier kennzeichnen unsere Generation vor allem »Pragmatismus, Individualismus und kalkulierte Anpassungsbereitschaft«. Der gebürtige Wiener lebt seit mehreren Jahren in Hamburg und forscht über die Jugend. Neben Klaus Hurrelmann ist er auf diesem Gebiet die Kapazität schlechthin. Wir treffen uns, weil ich wissen will, wie ein Babyboomer über meine Generation denkt. Und weil ich bei Heinzlmaier davon ausgehen kann, dass er, genau wie Hurrelmann auch, aufgrund seiner Profession nicht wild mit Verurteilungen über »die Jugend« auf Stammtischniveau um sich wirft.
Heinzlmaier ist ein lässiger Typ. Jahrgang 1960. Die Schnelllebigkeit unserer Zeit macht auch ihm zu schaffen. Er habe es noch nicht einmal fertiggebracht, erzählt er, das neue Arcade-Fire-Album von vorne bis hinten durchzuhören. Dabei sei das doch so ein Genuss, eine Form der Rezeption, die noch dem Gesamtkunstwerk huldige. Aber es gelinge ihm nicht. Zu wenig Zeit, zu viel zu tun. Ein Forschungsprojekt hier, eine Dozentur da. Und eben erst vor unserem Treffen gab Heinzlmaier dem Radiosender FluxFM ein zweistündiges Interview zum Thema Jugend. Nun aber in medias res:
Ich: »Herr Heinzlmaier, wie tickt meine Generation?«
Heinzlmaier: »Es ist schwer, von einer Generation zu sprechen.«
Ich: »Okay, dann: Was eint uns junge Leute?«
Heinzlmaier: »Ich wüsste nicht, wodurch bei den Jungen der Zusammenhang gestiftet werden soll.«
Damit wäre eigentlich schon alles gesagt. Keine Generation da. Keine Gruppendynamik. Keine Scharniere, die den ganzen unübersichtlichen Haufen zusammenhalten. Aber dann holt Heinzlmaier doch noch aus: »Wovon sich diese Generation von denen davor unterscheidet, ist, dass diese Generation um einen Plan ringt, sie will unbedingt einen Plan haben. Nicht als solche, sondern jeder für sich.« Ich werfe ihm hin, dass Angehörige meiner Generation doch oft vollkommen planlos seien. Ja, sagt Heinzlmaier, dieses Phänomen ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Title
  3. Coypright
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. Alles geht!
  7. Ich poste, also bin ich
  8. Wer war dieser Holocaust?
  9. Hogwarts ist überall
  10. Liebe, Sex und Zärtlichkeit
  11. Das Ende der Popkultur
  12. Du bist, was du isst
  13. Moderne Zeiten im Maschinenraum
  14. Politisch korrekt gegen die Gummiwand
  15. Nachwort
  16. Dank
  17. Glossar