Vom Himmel in die Hölle
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Vom Himmel in die Hölle

Zeitzeugenbericht eines Nachtfernaufklärers

  1. 208 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Vom Himmel in die Hölle

Zeitzeugenbericht eines Nachtfernaufklärers

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Über dieses Buch

Gerhard Ehlert gehört zu den wenigen Überlebenden der Elite-Flugeinheit der Nachtfernaufklärer für den Bereich Russland im Zweiten Weltkrieg. Obwohl er aus einem Elternhaus kommt, das sich gegen das Nazi-Regime ausspricht, meldet er sich freiwillig. 22 Feindflüge besteht er, landet sein Flugzeug oft blind mitten im Nebel. Im Juni 1944 wird er abgeschossen und gerät in russische Kriegsgefangenschaft. Die Zeit in dem Lager wird sein Leben für immer verändern. Dieser Zeitzeugenroman beruht auf den Erinnerungen eines überlebenden deutschen Fliegerleutnants.

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Information

IV. Gefangen

Gefangennahme bedeutet Prügel, Tritte in den Unterleib, gegen den Kopf. Wilde Schreie, Stiche mit dem Bajonett, Schläge mit dem Gewehrkolben ins Gesicht, bis die Schädeldecke springt, Plünderung bis auf die nackte Haut – was Ehlert und Burr über den »bolschewistischen Untermenschen«, so nennt die Nazi-Propaganda die Rotarmisten, und über die ersten Minuten der Gefangenschaft schon alles gehört haben, lässt ihre Fantasie munter Achterbahn fahren.
Ehlert steht der Angstschweiß auf der Stirn, bei Burr könnte der auch vom Fieber kommen. Beide rechnen mit dem Schlimmsten. Doch nichts passiert. Nichts Dramatisches werden sie später ihren Kindern und Enkeln erzählen können, falls sie denn diesen Scheißkrieg überleben, nichts, außer dass sie von ein paar sauberen, ruhigen Soldaten in erdbraunen, frisch gebügelten Uniformen durchsucht werden. Es ist das erste Mal, dass sie richtig gefilzt werden, und das gleich von vier, fünf Soldaten gleichzeitig. Jeder will etwas ergattern.
»Uuuuhrräh, Uhrrrähhh?«, fragen die Russen. Burr rückt ohne Widerstand – was hätte der auch gebracht –, seine Armbanduhr heraus. Dann zerren drei Mann am Lederband um Ehlerts rechten Arm, bis es reißt. Die Enttäuschung ist den Russen ins Gesicht geschrieben, als sie erkennen müssen, dass daran nur der Kompass befestigt ist. Ein anderer Soldat mit mongolischen Gesichtszügen, der sich bisher zurückgehalten hat, durchsucht nochmals gelassen alle Taschen der beiden Deutschen, nachdem die anderen von ihnen abgelassen haben, und wird tatsächlich fündig. Nie wird Ehlert den Gesichtsausdruck des Mongolen vergessen, als er aus einer Tasche einen Bleistift herausfischt. Mit einem glücklichen, freudestrahlenden und verklärten Blick wendet er sich mit seinem Schatz von den beiden Fliegern ab.
Der russische Kommandeur des Unternehmens, ein Hauptmann, nimmt sich als Trophäe Ehlerts 08 und steckt sie lässig und ohne sich die Waffe genauer anzusehen in seinen Gürtel – eine standesgemäße Beute, wie man an seinem Gesichtsausdruck ablesen kann. Dann packen die Russen ihre Siebensachen zusammen. Die meisten schultern ihr Gewehr, und der Mongole zeigt mit seiner Maschinenpistole die Straße entlang. »Dawei!«
Der lange Weg der beiden deutschen Flieger in die Gefangenschaft beginnt mit einer Lastwagenfahrt auf der Straße, auf der sie sich unvorsichtigerweise Richtung Frontlinie, in Richtung Heimat, bewegt haben. Jetzt bringt sie der Lastwagen in die entgegengesetzte Richtung. Burr, der immer noch Schmerzen hat, starrt mit leerem Blick vor sich auf die Ladefläche des Lkw. Ehlert schaut sich ihre russischen Bewacher an, einen nach dem anderen. Wie fremd sie doch sind, wie seltsam ihre Gesichtszüge wirken. Und doch, ihr Lachen ist wie das unsere, denkt sich Ehlert, der seltsam ruhig wird. Er schaut auf den Zahnersatz aus Edelstahl, den viele der Russen im Mund haben. Sogar Schneidezähne sind aus Edelstahl nachgeformt. Alles riecht neu und fremd, der Treibstoff, den der Lkw verbrennt, die Luft, durch die sie hier in diesem dunklen Wald fahren, die Uniformen der Russen, die auf der Ladefläche genauso durchgeschüttelt werden wie ihre deutschen Gefangenen. Oft kommt dabei einer der Russen Ehlert sehr nahe, und so kann er intensiv ihren Geruch wahrnehmen.
Wenn sie durch Wälder fahren, ist es stockdunkel auf dem Lkw, aber zwischen Wiesen und Äckern glimmt noch das letzte Licht der Dämmerung. Die Deutschen sehen am Wegesrand die fremden Panzer und Geschütze stehen. Sie sehen, für sie etwas absolut Neues, bewaffnete Frauen in der gleichen Uniform wie die männlichen russischen Soldaten. Alles, wirklich alles ist fremd, und Ehlert fragt sich, was er in diesem Land soll, was er auf diesem Lkw tut und warum er überhaupt jemals nach Russland gekommen ist, wo doch alles so fremd ist. Nur einen Geruch, den kennt der deutsche Offizier schon, den von Machorka, dem Tabak, den alle Russen rauchen.
Nach ein paar Kilometern hält der kleine Gefangenentransport vor einem Holzhaus an, in dem offenbar eine Kommandantur untergebracht ist. Rundum brennen Lagerfeuer, Zelte sind zu sehen, und Ehlert denkt an ein Jugendlager der Pfadfinder. Es ist wie im Frieden, wären da nicht überall die nagelneuen Waffen, die Munitionsbehälter, die Geschütze und die Panzerfahrzeuge.
Die Russen springen von der Ladefläche ihres Lkw, begrüßen lauthals andere Russen, lachen, fluchen und feixen. Beinahe hätten sie die beiden Deutschen vergessen, wäre da nicht der Hauptmann, der ein paar Befehle bellt und sich dann aus dem Staub macht. Zwei Russen bringen Ehlert und Burr in das Holzhaus, das hell erleuchtet ist. Sie werden in einen Raum geführt, in dem nur ein Tisch und ein Stuhl dahinter zu sehen sind. Nichts hängt an den Wänden, nichts Überflüssiges steht herum. Eine Petroleumlampe erleuchtet das Zimmer.
Die Russen machen schnell klar, was sie von den Gefangenen wollen. Ausziehen, bis auf die Haut! Jetzt beginnt das eigentliche Filzen. Ihre beiden Bewacher nehmen den Deutschen alles ab, zuletzt sogar die Unterwäsche, die längst nicht mehr weiß ist, wie es sich für einen deutschen Leutnant und einen Feldwebel gehören würde. Sie ist eher feldgrau wie die Uniformen des Heeres.
Ehlert lächelt, als er die Verbindung zu den Grabenkriegern herstellt. Jetzt geht es uns auch nicht besser als denen, uns feinen Pinkeln von der Luftwaffe, denkt er bei sich. Doch sein Lächeln gefriert in der nächsten Sekunde, als einer der Russen den kleinen Abnäher in Ehlerts Hosensaum entdeckt und das, was sich darin befindet.
»Talisman?«, fragt einer der Soldaten, und Ehlert nickt in der Hoffnung, der Russe könnte ein bisschen Gefühl zeigen, Gefühl für die Wichtigkeit eines so privaten Gegenstandes. Doch der Elfenbein-Elefant von Riele wandert in die Hosentasche des russischen Soldaten. Für Gerhard Ehlert ist er für immer verloren. Zum ersten Mal ist er so richtig niedergeschlagen. Eine Beklommenheit überfällt ihn, dass er am liebsten losheulen würde. Doch weinen, das hat er weder bei der Mutter noch beim Vater je gelernt. Er wird es noch lernen müssen.
Nachdem die Russen alles fein säuberlich durchsucht haben, bekommen die Deutschen ihre Klamotten zurück. Dann lässt man sie in dem hell erleuchteten Raum einfach stehen. Die Russen machen sich aus dem Staub, Ehlert sieht aber, dass sich einer von ihnen vor der Tür postiert.
Es mag Mitternacht sein, als sie endlich abgeführt werden. Ein Russe stopft die beiden Deutschen mit seinem Gewehrkolben in ein Erdloch, ihr Lager für die Nacht. Trotz oder gerade wegen ihrer Niedergeschlagenheit schlafen Burr und Ehlert sofort ein. Die Nacht ist lau, das Erdloch trocken, und es riecht nach frischem Gras und warmen Steinen. Die erste Nacht in Gefangenschaft könnte schlimmer sein.
Erst spät am nächsten Morgen, die Sonne steht bereits handbreit über dem Horizont, werden sie geweckt. »Dawei, dawei
Ein Soldat führt sie durchs Lager. Da wird den beiden Deutschen klar, warum dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen ist. Es ist ein Getriebe wie in einem Bienenstock. Das, was sie aus ihrem Fernaufklärer aus der Luft schon seit Monaten als bedrohlich ausgemacht haben, wirkt hier am Boden geradezu überwältigend. Hunderte von bestens ausgerüsteten Soldaten, massenhaft Kriegsgerät, bis unter die Decke gefüllte Munitionszelte, volle Suppentöpfe, Rotarmisten in Marschformation, Rotarmisten in kleinen Gruppen, Rotarmisten in langen Schlangen, Rotarmisten, soweit das Auge reicht. Und mitten drin die beiden Deutschen und ein einzelner Soldat, der an seiner Zigarette zieht und ihnen mit einem einzigen Blick die Richtung weist, in die sie gehen werden. Einer gegen zwei. Es hätte wohl auch ein halber Bewacher gereicht, denn wo sollen die beiden Gefangenen schon hin in diesem Meer aus Roter Armee.
Langsam stolpern Burr und Ehlert durch einen Wald. Vor ihnen liegt ein breiter Feldweg, hinter ihnen geht ein laut singender Rotarmist mit nie ausgehender Zigarette und einem Flachmann in der Tasche, aus dem er alle paar Minuten trinkt, nein, vorsichtig nippt, als wäre es der letzte Wodka, den Russland in diesem Krieg zu bieten hat. Der Wald wird immer dichter, der Weg langsam schmäler und der Russe leiser. Ehlert sieht, wie er den letzten Tropfen aus dem Flachmann heraussaugt und sich seine Miene verdüstert. Stumm und mürrisch stapft der Russe hinter seinen beiden Gefangenen her.
Ehlert kommen Gedanken, die ihn beunruhigen. Was, wenn es dem Russen zu blöd wird, die Deutschen hier durch diese Wildnis zu führen? Was, wenn der Rotarmist stolpert oder eine falsche Bewegung mit seiner Maschinenpistole macht? Vielleicht, so Ehlert zu sich, vielleicht sollten sie den Kerl mit seinen schmalen Augen und noch schmaleren Lippen, diesen unsympathischen Wodkatrinker, einfach überwältigen. Hier ist der Wald so dicht, und sie sind schon so weit vom russischen Feldlager entfernt, dass niemand den Handstreich bemerken würde. Und als ob Burr derselbe Gedanke just in dieser Sekunde durch den Kopf gehen würde, sieht er Ehlert vielsagend an. Doch die beiden haben die Rechnung ohne den russischen Wodkawirt gemacht. Der ahnt wohl, dass die beiden Deutschen etwas im Schilde führen, flucht laut und brüllt etwas, das Ehlert und Burr auch nach der dritten Wiederholung nicht verstehen. Dann lädt der Russe seine Maschinenpistole durch – eine Ansage, die jeder Soldat auf der Welt, egal welcher Sprache, versteht.
Es dauert nur noch ein paar Minuten, dann stehen die drei plötzlich auf einer gewaltigen Lichtung. Die beiden Gefangenen ahnen, dass ihre Flucht spätestens hier geendet hätte. Von diesem Frontabschnitt aus gibt es kein Entkommen, das ist Ehlert und Burr jetzt klar. Hier sind die Russen überall. Hier ist Russland. Mit offenem Mund blicken sie auf das Geschehen vor ihnen. Sie stehen am Rand eines riesigen Flugfelds, auf dem Hunderte Maschinen stehen, jetzt aber offensichtlich gerade nicht viel Betrieb herrscht. Ein paar Flugschüler drehen mit ihren Doppeldeckern Platzrunden.
Auch nicht anders als bei uns, denkt Ehlert. Wie eine halbe Ewigkeit kommt es ihm vor, dass er selbst Flugschüler gewesen ist, damals, 1941 in Werder bei Potsdam. Tausend Jahre ist es her, dass er selbst in einem Doppeldecker gesessen hat, damals in der Luftkriegsschule in Werder. Jetzt kommt er sich steinalt vor unter all diesen 18-jährigen Russen, die gerade das Fliegen lernen. Und doch ist die Erinnerung an seine Ausbildung nicht verblasst, vor allem deswegen nicht, weil er aufregende Monate an der Schule verbrachte. Nie wird er jenen Tag im Juni vergessen, an dem er nur knapp dem Fliegertod entronnen ist, weil er vergessen hatte, einen kleinen Hebel umzulegen. 30 Starts und Landungen mit dem Fluglehrer auf dem Rücksitz hatte er schon hinter sich auf der Bücker 131 Jungmann, 30 Alleinflüge auf dem Doppeldecker, der so solide gebaut ist wie kein anderer seiner Zeit. 180 Sachen kann man aus der Maschine herausholen und das machte er immer, wenn ihn der Fluglehrer am Boden aus den Augen verlor. Oder er nahm das Gas weg, wenn er über die Mädchen hinwegflog, die sich im Badeanzug rund um die Flugschule den angehenden Piloten präsentierten. Dann gingen die jungen Offiziersanwärter auch schon mal in den Tiefflug über und schauten sich die jungen Damen genauer an.
Mittlerweile wusste Ehlert genau, was er tun musste, um die Maschine auf Kurs zu halten. Er wusste, dass er immer leicht nach rechts steuern musste, weil der Drall des Propellers den Doppeldecker immer ein bisschen nach links zieht. Ehlert kannte das Verhalten der Maschine beim Turn nach links oder rechts, bei der Rolle wie beim Rückenflug. Schon früh war der Kunstflug Bestandteil der Ausbildung, denn die Lehrer wollten, dass ihre Schüler mit dem Fluggerät geradezu verwuchsen.
Am Ende der ersten Ausbildung waren sie alle prima Piloten, so gute, dass sie leichtsinnig wurden. In dieser Phase passieren die meisten Unfälle, weil die jungen Männer sich überschätzen oder aber einfach ihr Hirn ausschalten. Zu den Besten gehörte Ehlert, und so war es kein Wunder, das er einen der fünf Doppeldecker fliegen sollte, als seine Ausbildungsgruppe mit den sechs Lehrern und den 30 Flugschülern von Werder nach Borkheide verlegt wurde.
Vier der fünf eingeteilten Piloten waren schon abgeflogen, die anderen Kameraden mit dem Bus unterwegs. Nur Ehlert, der Lehrgangsleiter, ein grimmiger, strenger Oberleutnant, ein paar Mechaniker und ein Fahrer waren noch auf dem Flugplatz in Werder. Der Lehrgangsleiter gab mit dem Fähnchen die Startbahn frei, und Ehlert ging von der Bremse. Steil stieg der Doppeldecker in die Lüfte, und der junge Pilot machte alles genauso, wie er es gelernt hatte. Der Propeller schnitt durch die Luft, der Motor lief wie geschmiert. Schnell war er auf 150 Metern Höhe, nahm mehr und mehr Fahrt auf. Die Luft blies dem Piloten um die Ohren.
Denen traute er eine Sekunde später nicht mehr. Ein seltsames Geräusch kam ihm von vorn entgegen. Der Motor spuckte, der Propeller stand. Waagerecht. Maschine aus. Für einen geübten Piloten ist das eigentlich kein Problem. Segelflug ist angesagt. Und auch Ehlert wusste trotz seiner noch jungen Pilotenkarriere genau, was zu tun war. Sofort flog er eine weite Kurve, um zum Flugfeld zurückzukehren. Doch die kostete ihn so viel von seiner geringen Höhe, dass der Doppeldecker nach ein paar Metern schon fast die ersten Baumwipfel berührte. Da half auch kein Ziehen am Steuerknüppel und kein Fluchen. Ehlerts Maschine sank rapide und raste auf einen Wald zu. Der Pilot versuchte alles, um dem Doppeldecker noch eine andere Richtung zu geben. Zu spät. Mit lautem Krachen rasierte die untere Tragfläche den ersten Baumwipfel ab, schlug in den nächsten zwanzig Sekunden beim Fall in die Tiefe einen Ast nach dem anderen ab, knickte kleine Bäume und splitterte Holz in kleine Stücke. Zum Schluss bohrte sich der Motor in die Walderde. Der Propeller, unversehrt, stand immer noch waagerecht. Dann wurde es still. Ehlert sah und hörte nichts. Doch er roch etwas. Wunderbarer Harzgeruch stieg ihm in die Nase, und da wusste er, dass er noch lebte. Riesenmassel gehabt. Er war fast unversehrt.
In der gleichen Minute machte sich vom Flugplatz aus ein Bergungstrupp auf den Weg. Die Überreste der Maschine sollten so schnell wie möglich heimgeholt, der tote Pilot geborgen werden. Doch das Erstaunen war groß, als die Männer bei Ehlert eintrafen. Der Bruchpilot saß auf seinem Fallschirm neben dem Trümmerhaufen und war bester Dinge.
Den Lehrgangsleiter stieß Ehlerts gute Laune, die nur dadurch getrübt war, dass der Propeller heilgeblieben war und er ihn nicht als Trophäe mit nach Hause nehmen konnte, sauer auf. Er ahnte schon, was passiert war. Ein Blick auf den sogenannten Brandhahn, den Benzinhahn des Flugzeuges, und es war klar: Ehlert hatte geschlampt. Kein Tropfen Sprit hatte den Motor mehr erreicht, weil der Pilot vergessen hatte, den Hahn zu öffnen. Das bedeutete zwei Tage mittleren Arrest bei Brot und Wasser und drei Monate Kürzung der Fliegerzulage – Ehlert verging das Grinsen schnell.
Doch es gibt noch einen weiteren Grund, aus dem er diesen Tag nie mehr vergessen wird. Es ist der 22. Juni 1941. Aus den Lautsprechern ertönt in ganz Deutschland ein Motiv aus Franz Listzs »Les Préludes«, und die Stimme von Propagandaminister Joseph Goebbels ist zu hören: »Soldaten der Ostfront. In diesem Augenblicke vollzieht sich ein Aufmarsch, wie ihn die Welt zuvor noch nie gesehen hat.«
Der Überfall auf die Sowjetunion hatte begonnen. Seitdem sind drei Jahre vergangen, drei Jahre, in denen Ehlert Soldat geworden, in denen er in den Krieg gezogen ist, in denen er aber nie so wirklich Gelegenheit gehabt hat, den Krieg so zu verinnerlichen, wie ihn der Infanterist, der Panzersoldat, der Pionier und der Sanitäter kennen. Diese Männer sieht er jetzt in den russischen Lagern in langen Kolonnen Richtung Osten ziehen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit von Staub, Schweiß und Schmutz verschmiert, in zerschlissenen Uniformen ohne jede Farbe, mit blutigen Verbänden um die Gliedmaßen, die nackten, geschwollenen Füße mit ein paar Lumpen umwickelt. All das deprimiert ihn zutiefst, und Burr neben ihm geht es nicht anders. Beim Anblick der deutschen Gefangenen ist ihnen zum Heulen zumute. Das hier ist der wirkliche Krieg, der Krieg der Bodenkrieger, der sich seit Stalingrad im Januar 1943 so schlecht und immer schlechter für die Wehrmacht entwickelt. Das hier ist ganz anders als in der Luft, wo es den Kampf von Angesicht zu Angesicht nicht gibt. In der Luft muss man nicht jede Minute seines Lebens damit rechnen, von einer russischen Kugel zwischen den Augen getroffen oder von einer Granate zerrissen zu werden.
Wenn er ehrlich ist, dann muss er zugeben, dass er in seiner Do 217 bis auf seine eigene kleine 08 und bis auf Burrs MG nicht einmal eine richtige Waffe an Bord hatte. Wir schießen mit Blitzlicht und Kamera, das ist wie Krieg mit Wattebäuschchen, hustet er in sich hinein und spuckt ein Lachen aus, von dem ihm selbst übel wird. Dann denkt er an den toten Professor und daran, dass Schlotter vermisst wird. Noch immer weiß er nicht, dass dessen Überreste am verbrannten Blech der Trümmer seiner Maschine in den Pripjetsümpfen kleben.
Der russische Bewacher legt Ehlert eine Hand auf die Schulter und rüttelt ihn wach. Sie stehen vor den Doppeldeckern der Flugschüler der Roten Armee und fühlen sich ein bisschen wie zu Hause. Burr und Ehlert nehmen neben den jungen Fliegern Platz. Sofort kommt ein Gespräch in Gang – mit Händen und Füßen, mit Fetzen aus Russisch und Brocken aus Deutsch. Die Rotarmisten fassen immer wieder die Fliegerkombi der beiden deutschen Piloten an: »Errrsatz, Errrsatz«, johlen sie abfällig. Die Propaganda hat ihnen weisgemacht, Deutschland sei am Ende, die Bekleidung sei aus minderwertigem Material. Und wirklich, wenn Ehlert so an sich herunterblickt, merkt er, dass mittlerweile auch die deutschen Uniformen den russischen unterlegen sind. Der Feind hat Millionen Stiefel aus den USA bekommen. Die Verbündeten jenseits des großen Teichs liefern Lkw, Munition, Panzer und Uniformstoff – ein unerschöpfliches Reservoir aus Kriegsmaterial, das am Eismeerhafen Murmansk angelandet und von dort aus oft direkt in die Schlacht geworfen wird. Während in Deutschland die Städte und Fabriken brennen, hat die Rote Armee einen üppig gefüllten Kolonialwarenladen direkt im Hinterhof.
Bald kommt ein schmächtiger Offizier, ein Major, zu den beiden deutschen Fliegern. Er soll sie die ganze nächste Woche begleiten. Doch dann machen zwei großgewachsene Rotarmisten laut Meldung vor dem Major. Einer reicht ihm einen schriftlichen Befehl, der nichts Gutes verheißt, denn Burr wird daraufhin von den beiden Hünen abgeführt. In den letzten Tagen sind Burr und Ehlert eng zusammengewachsen. Der Absturz, ihre Rettung aus der brennenden Maschine, die zunächst glückliche Flucht vor den Russen, Burrs Brandverletzungen, um die sie sich beide gekümmert haben, ihre Gefangennahme und der Marsch durch den Wald, Hunger und Durst, das Hochgefühl des Gejagten, der noch nic...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Worum geht es im Buch?
  5. Inhalt
  6. I. Flug ohne Wiederkehr
  7. II. Asche
  8. III. Sümpfe
  9. IV. Gefangen
  10. V. Schlaraffenland
  11. VI. Verlorene Jahre, verlorener Kompass
  12. VII. Eisige Hölle
  13. VIII. Der Letzten einer
  14. IX. Fremder in der Heimat
  15. Nachwort
  16. Der Autor
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