Theoretische Grundlagen
1. Präsenz
1.1 Text
Text jenseits der Repräsentation
Postdramatisches Theater ist, entgegen einem immer noch verbreiteten Missverständnis, keineswegs ein Theater ohne Text. Vielmehr verweist schon sein Begriff, worauf bereits Hans-Thies Lehmann in seinem grundlegenden Essay aufmerksam gemacht hat, auf „den fortbestehenden Zusammenhang und Austausch zwischen Theater und Text“. Gegenüber dem dramatischen Theater entscheidend verändert hat sich jedoch der Status dieses Textes: Er ist nicht mehr das die Szene beherrschende und alle anderen Theatermittel kontrollierende Element, sondern nur noch ein Element der Aufführung neben anderen. Diese Verschiebung bedeutet einen Unterschied ums Ganze, denn sie entreißt den Text der Kette der Repräsentationen und setzt damit die Repräsentationsfunktion des Theaters aufs Spiel. Sie ist jedoch keineswegs ein einfaches Unterfangen: Ebenso wenig wie dem zugrunde liegenden Problem über einen bloß ‚originellen‘ Umgang mit den Theatermitteln beizukommen ist, lässt es sich auf die Ebene der Textvorlagen verlagern. Es bedarf vielmehr eines gegenüber der Konzeption des klassisch dramatischen Theaters gänzlich veränderten Textbegriffs. Während dieses den Text von seinem Status als literarisches Kunstwerk her begreift, das es zur Aufführung zu bringen gilt, geht es jenem darum, ihn konsequent von seinem Vollzug in der Aufführung her zu denken.
Die Arbeiten René Polleschs wie auch Laurent Chétouanes setzen auf je eigene Weise einen gegenüber der Tradition des dramatischen Theaters radikal anderen Umgang mit Text in Szene. Auch wenn es bei beiden Regisseuren eine textliche Grundlage gibt, die den Schauspieler*innen in gedruckter Fassung vorliegt und die im Fall Chétouanes meist sogar eine dramatische Form hat, ist damit keine der Inszenierung und dem darin sich vollziehenden Akt des Sprechens vorausgehende Bedeutung festgeschrieben. Vielmehr ergibt sich Bedeutung erst als ein im Vollzug der Aufführung produzierter nachträglicher Effekt. Der Text in diesen Arbeiten soll hier daher nicht als eigenständiges literarisches Kunstwerk verstanden werden, sondern als der sprachliche Teil eines Aufführungstextes. Eine solche Konzeption, die sich unabdingbar aus der Theaterpraxis beider Regisseure ergibt, setzt einen Begriff von Text jenseits von „Werk“ und „Drama“ voraus, d. h. jenseits eines „fixierten Kernbestands von Bedeutungen“, der in der Inszenierung lediglich in einer bestimmten Weise umgesetzt wird. Ihr zugrunde liegt demgegenüber ein Verständnis des Textes als „Skript“, also eines Bündels von Sprachhandlungen, das zur Aufführung gelangt und das selber wiederum Teil eines die Gesamtheit der Aufführung umfassenden Performance Scripts ist.
Die Bühne dient unter dieser Perspektive nicht mehr wie jene des klassischen dramatischen Schauspiels der Repräsentation eines textlich festgeschriebenen Sinngehalts, der dort auf eine bestimmte Weise dargestellt und interpretiert werden würde. Ein solches „Theater der Interpretation […], der Aufnahme und Übersetzung, der Ableitung aus einem vorgefertigten Text“, das bereits Antonin Artaud als das Wesen der klassisch-okzidentalen Bühne bekämpft hatte, wird vielmehr radikal in Frage gestellt. Es erweist sich als die „Repräsentation all jener Repräsentationen, die die metaphysische Tradition ausmachen“, deren Kern das „Modell einer Sprache [ist], die ein klares und fertiges Denken repräsentiert“. Demgegenüber geht es dem hier untersuchten Theater gerade um die Enthierarchisierung jener metaphysischen Rangordnungen, in denen der Text das fertig vorliegende Ergebnis der Sinnproduktion eines Autors ist und der Schauspieler als das Werkzeug eines Regisseurs dient, um diesen Text gemäß seiner interpretierenden Autorität in eine Inszenierung zu übersetzen. Dabei verliert die „tragende Säule des klassischen Dramas“, nämlich die „Fabel im Sinne einer Geschichte von allegorischer Bedeutsamkeit, die auf der Bühne eine Totalität und ein Äquivalent für den Begriff, ein Wissen, eine Wahrheit bietet“, ihre Macht zur Beherrschung der Szene.
Diese Emanzipation der Szene vom dramatischen logos bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht die Ermächtigung eines Schauspielers, der nun seinerseits zum Subjekt der Bedeutungsproduktion erhoben würde, indem er über die Mobilisierung eigener Erfahrungen zum Interpreten „seiner“ Rolle wird oder gar aus einer vermeintlich spontanen Improvisation unabhängig von einem gegebenen Text zum autonomen Produzenten von Bedeutung würde. Eine solche Praxis hätte nur die Reproduktion der alten Hierarchien unter veränderten Vorzeichen zur Folge. Vielmehr geht es um den viel radikaleren Anspruch, dass überhaupt kein vorgefasster Sinn und keine die Aussage kontrollierende Intention dem szenischen Akt des Darstellens vorausgehen solle. Dies impliziert auf allen Ebenen der Aufführung eine Produktion, die „nichts zu sagen hat“, also „nichts, was dem Akt oder der Geste des Schreibens, des Denkens oder des Spielens auf der Szene vorausgeht“. Natürlich ist dieser Anspruch niemals gänzlich einzulösen, sondern kann allenfalls ein Grenzwert sein, dem sich die Aufführung annähert. Textliche Bedeutung entsteht dann – innerhalb des sehr wohl bewusst gesetzten Rahmens der Aufführung – erst auf der Szene, im Akt des Sagens, welcher dann nicht mehr der Ausdruck einer ihm zugrundeliegenden Intention ist, sondern umgekehrt zum Vollzug des Spiels des Textes wird. Das Paradox besteht also darin, dass es zwar durchaus einen der Aufführung vorangehenden Text oder allgemeiner: ein Skript gibt, dass diesem Skript aber keine kontrollierende Macht über die Aufführung zugeschrieben wird, indem es eben nur repräsentierend wiederholt würde, sondern dass dieses Skript in der Aufführung erst hervorgebracht wird. Um sich einer Lösung dieses Paradoxes anzunähern, bedarf es im Folgenden einiger allgemeiner Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Repräsentation.
Wiederholen, aber anders
Das hier auf dem Spiel stehende Repräsentationsmodell des Theaters findet eine Entsprechung und Grundlage in dem für die traditionelle Sprachwissenschaft maßgeblichen Modell der Sprache, welches das sprachliche Zeichen als die Repräsentation eines an anderer Stelle Anwesenden konzipiert. Es geht davon aus, dass in der Sprache eine Vorstellung repräsentiert wird, die wiederum eine wahrgenommene Sache repräsentiert. Dabei wird „dieser Vorgang der Supplementierung [supplémentation] nicht als Unterbrechung der Anwesenheit, sondern als fortgesetzte, homogene Wiederherstellung und Modifikation der Anwesenheit in der Repräsentation dargestellt“. Das sprachliche Zeichen setzt sich demnach an die Stelle der Sache selbst, ersetzt deren ursprüngliche Gegenwart und bewahrt sie als eine potentiell wieder anzueignende auf. Daraus ergibt sich die Vorstellung, dass in jeder Aussage ein der Intention eines Autors oder eines Sprechers gefügiger Sinn anwesend und transparent sei oder doch auf hermeneutischem Wege vergegenwärtigt und transparent gemacht werden könne. Impliziert wird also „zugleich die Präsenz des Objekts als eines gemeinten und die Selbstpräsenz des meinenden transzendentalen Bewusstseins“. In diesem Sinn ist dramatisches Theater die Repräsentation all dieser Repräsentationen, denn es suggeriert die Vergegenwärtigung des Logos eines Dramas in der Präsenz einer diesen verkörpernden Figur.
Jacques Derrida entlarvt die in diesem Modell zum Ausdruck kommende Vorstellung einer ursprünglichen, ungespaltenen Präsenz als Fiktion. Ihr gegenüber stellt er heraus, dass Sprache weder in einem unmittelbaren Sinn auf Wirklichkeit verweist, noch jemals der Transport einer sich selbst präsenten Bedeutung ist, da sich der Sinn seiner abschließenden Vergegenwärtigung in der Sprache grundsätzlich entzieht. Sprache ist demnach immer bereits die Spur von etwas Gesagtem, das darin niemals statisch präs...