Professor Unrat
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Professor Unrat

Oder: Das Ende eines Tyrannen

  1. 310 Seiten
  2. German
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Professor Unrat

Oder: Das Ende eines Tyrannen

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Über dieses Buch

Der bekannteste Roman Manns ist eine böse Satire auf das Deutsche Kaiserreich und die herrschende Doppelmoral. Der tyrannische Lehrer Raat – von allen nur Professor Unrat geschimpft – ist seinen Schülern in herzlicher Abneigung zugetan. Überkorrekt und überpenibel macht er ihnen das Leben schwer, selbst wenn diese schon die Schule verlassen haben.Das Unheil naht, als sich Raat, in der Absicht, einige Schüler beim Fehltritt zu ertappen, in eine anrüchige Spelunke verirrt, wo er die fortan an nur noch "Künstlerin" genannte Barsängerin Rosa Fröhlich kennenlernt: Ein liederliches Frauenzimmer, wild, unabhängig, ganz und gar nicht schicklich und sich ihrer Wirkung auf die Männer wohl bewusst. Kurz: eine Frau, für die die Zeit noch nicht reif war.Unrat, der ewige Witwer, verliebt sich und öffnet damit einer Lawine von Katastrophen Tür und Tor. Er macht sich zum Gespött, sein gesellschaftlicher Abstieg beginnt.Der Roman war Grundlage für einen der größten deutschen Kinoerfolge überhaupt: "Der blaue Engel" von 1930. Der Film zeigte den ersten starken, unabhängigen und ikonenhaften Frauencharakter überhaupt auf einer Leinwand und bildete das ewige Fundament für die Weltkarriere der Marlene Dietrich.Null Papier Verlag

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783962818197

VI.

Am Mor­gen tra­fen Ertz­um, Kie­se­lack und Loh­mann ein­an­der mit blei­chen Ge­sich­tern. In­mit­ten der lär­men­den Klas­se kam je­der der drei sich vor wie der Ver­bre­cher, der einen Brief mit sei­nem Na­men un­ter­wegs weiß an den Staats­an­walt, und sei­ne Um­ge­bung ist ah­nungs­los. Nach Mi­nu­ten zählt die Frist … Kie­se­lack hat­te an der Tür des Di­rek­tor­zim­mers ge­horcht und be­haup­te­te, Un­rats Stim­me dar­in ge­hört zu ha­ben. Er prahl­te nicht mehr, er flüs­ter­te Ertz­um hin­ter der Hand, mit schie­fem Mun­de zu: »O weih, Mensch!« Loh­mann hät­te für die kom­men­de Stun­de gern mit ei­nem der Ärms­ten im Geist ge­tauscht.
Un­rat trat has­tig ein und mach­te sich so­fort atem­los über sei­nen Ovid her. Er ließ das aus­wen­dig Ge­lern­te her­sa­gen und fing beim Pri­mus Angst an. Dann ka­men die Schü­ler mit B. Bei E an­ge­langt, sprang er ab, nach M hin. Ertz­um stieß einen Seuf­zer aus. Kie­se­lack und Loh­mann stell­ten be­frem­det fest, dass K und L ver­schont blie­ben.
Beim Über­set­zen traf kei­nen von ih­nen eine Fra­ge. Sie lit­ten dar­un­ter, ob­wohl sie »ihrs nicht prä­pa­riert« hat­ten. Es ward ih­nen zu­mu­te, als sei­en sie aus­ge­sto­ßen aus der mensch­li­chen Ge­sell­schaft, hät­ten schon den bür­ger­li­chen Tod er­lit­ten. Was konn­te Un­rat pla­nen? In der Pau­se mie­den die drei ein­an­der, aus Furcht, man kön­ne ah­nen, es ver­ket­te sie ein un­heil­vol­les Ge­heim­nis.
Drei Stun­den bei an­de­ren Leh­rern ver­stri­chen un­ter häu­fi­gem Er­schre­cken. Ein Schritt auf dem Hof, ein Knar­ren der Trep­pe: der Di­rek­tor! … Aber es kam nichts. Und die grie­chi­sche Stun­de ließ Un­rat hin­gehn wie die la­tei­ni­sche. Kie­se­lack ge­riet in Gal­gen­stim­mung und reck­te eine Hand in die Höhe, ob­wohl er nicht hät­te ant­wor­ten kön­nen. Un­rat über­sah ihn. Da­rauf schwenk­te er sei­ne blaue Pfo­te bei al­len Fra­gen durch die Luft und knall­te mit den Fin­gern. Loh­mann gab das War­ten auf und öff­ne­te un­ter dem Tisch die »Göt­ter im Exil«. Ertz­um, von der Schu­le wie­der un­ter­wor­fen und klein ge­macht, war, wie im­mer, schwit­zend be­müht, der Klas­se zu fol­gen, und blieb zu­rück, wie im­mer.
Beim Weg­ge­hen wa­ren sie dar­auf ge­fasst, der Ku­stos wer­de sie zum Di­rek­tor ru­fen, mit ei­nem Schlim­mes ver­spre­chen­den Lä­cheln. Nein, der Mann mit der Glo­cke nahm ganz schlicht die Müt­ze ab vor den jun­gen Her­ren. Drau­ßen sa­hen sie ein­an­der an, mit ei­nem Ju­bel, der sich fürch­te­te vorm Aus­bre­chen. Kie­se­lack war der Ers­te, der ihn stei­gen ließ.
»Seht ihr wohl! Ich hab’ gleich ge­sagt, er wagt es nicht!«
Loh­mann war är­ger­lich, weil er sich hat­te ängs­ti­gen las­sen.
»Wenn der Mensch meint, er kann mich an der Nase füh­ren –«
Ertz­um sag­te:
»Es kann ja noch kom­men.«
Und mit jä­her Wild­heit:
»Es soll nur kom­men! Ich weiß, was ich tu’!«
»Ich kann mir den­ken«, sag­te Loh­mann. »Du prü­gelst Un­rat durch. Dann kop­pelst du dich mit der Fröh­lich zu­sam­men, und ihr springt ins Was­ser.«
»Nein – das nicht«, sag­te Ertz­um er­staunt.
»Men­schens­kin­der, ihr habt ja ’n Spleen«, sag­te Kie­se­lack. Und sie trenn­ten sich. Loh­mann er­klär­te noch:
»Mir lag ei­gent­lich nichts mehr an dem Blau­en En­gel. Aber ban­ge ma­chen gilt nicht: jetzt geh’ ich gra­de hin.«
Am Abend ka­men er und Ertz­um fast gleich­zei­tig vor dem Hau­se an. Sie war­te­ten noch auf Kie­se­lack. Ihn lie­ßen sie im­mer vor­an­ge­hen, zu­erst in die Gar­de­ro­be der Künst­ler tre­ten, den Mund zu­erst auf­ma­chen, zu­erst ge­müt­lich wer­den. Ohne Kie­se­lack wäre dies al­les nicht ge­gan­gen, sie brauch­ten ihn und sei­ne Frech­heit. Er hat­te kein Geld, sie muss­ten für ihn be­zah­len, und Kie­se­lack hü­te­te sich, sie mer­ken zu las­sen, was sie al­les be­zahl­ten, und dass es sei­ne, Kie­se­lacks, ge­hei­me Freu­den wa­ren, für die Rosa von ih­nen Blu­men, Wein und Ge­schen­ke ent­ge­gen­nahm.
Er traf end­lich ein, ohne sich ih­ret­we­gen zu be­ei­len, und sie gin­gen ins Haus. In­des­sen vom Wirt er­fuh­ren sie, im Künst­ler­zim­mer sit­ze ihr Leh­rer. Da­rauf sa­hen sie be­stürzt ein­an­der an und drück­ten sich.
*
Als Un­rat ges­tern Nacht glück­lich wie­der zu Hau­se an­ge­langt war, hat­te er sei­ne Ar­beits­lam­pe an­ge­zün­det und sich vor sein Schreib­pult ge­stellt. Der Ofen wärm­te noch, die Uhr tick­te, Un­rat blät­ter­te in sei­nem Ma­nu­skript und sag­te sich:
»Das Wah­re ist nur die Freund­schaft und die Li­te­ra­tur.«
Er fühl­te sich der Künst­le­rin Fröh­lich ent­ron­nen und fand die »Ne­ben­din­ge«, mit de­nen der Schü­ler Loh­mann sich ab­gab, auf ein­mal tief gleich­gül­tig.
Aber beim Er­wa­chen in dunk­ler Frü­he merk­te er, es sei nicht in Ord­nung, be­vor er nicht den Schü­ler Loh­mann »ge­fasst« habe. Er mach­te sich gleich­wohl wie­der an die Par­ti­kel bei Ho­mer, aber die Freund­schaft und die Li­te­ra­tur konn­ten ihn nicht mehr fes­seln. Sie konn­ten ihn nie­mals mehr fes­seln, fühl­te er, so­lan­ge Loh­mann un­ge­hin­dert bei der Künst­le­rin Fröh­lich saß!
Ei­nen Weg, dies zu ver­hin­dern, hat­te die Künst­le­rin Fröh­lich selbst an­ge­ge­ben; sie hat­te ge­sagt: »Aber Sie müs­sen mor­gen wie­der­kom­men, sonst ma­chen Ihre Schul­jun­gen hier Un­fug« … Wie ihm die Wor­te wie­der ein­fie­len, er­rö­te­te Un­rat. Denn die Wor­te brach­ten auch die Stim­me der Künst­le­rin Fröh­lich zu­rück, ih­ren kit­zeln­den Blick, ihr gan­zes bun­tes Ge­sicht und die zwei leich­ten Fin­ger, mit de­nen sie un­ter Un­rats Kinn ge­tas­tet hat­te … Un­rat sah sich scheu nach der Tür um und beug­te sich, wie ein Schü­ler, der »Ne­ben­din­ge« ver­birgt, mit ge­heu­chel­tem Ei­fer über sei­ne Ar­beit.
Das hat­ten die drei Ver­wor­fe­nen – frei­lich denn nun – durch die rote Gar­di­ne er­blickt. Und wenn Un­rat es un­ter­nahm, sie vor dem Tri­bu­nal des Herrn Di­rek­tors zur Re­chen­schaft zu zie­hen, dann wa­ren sie, sich ver­lo­ren se­hend und die letz­te Scham ab­wer­fend, im­stan­de, das Er­blick­te öf­fent­lich zu be­kun­den! In der Lis­te der Ver­bre­chen des Loh­mann stand auch der von ihm be­zahl­te Wein – von dem Un­rat ge­trun­ken hat­te … Der Schweiß brach ihm aus. Er sah sich ge­fan­gen. Die Wi­der­sa­cher wür­den be­haup­ten, nicht Un­rat habe Loh­mann »ge­fasst«, son­dern Loh­mann ihn … Und das Be­wusst­sein, in ei­nem mehr als je­mals hit­zi­gen und völ­lig ein­sa­men Kampf zu ste­hen ge­gen das Heer der em­pör­ten Schü­ler, mach­te Un­rat stark, gab ihm die Ge­wiss­heit, er wer­de noch man­chem von ih­nen die Lauf­bahn er­schwe­ren, wenn nicht un­mög­lich ma­chen. Mit lei­den­schaft­li­cher Ent­schlos­sen­heit trat er den Schul­weg an.
Die drei Ver­bre­cher »hin­ein­zu­le­gen«, fehl­te es wahr­haf­tig nicht an Ge­le­gen­heit. Was Loh­mann an­ging, so ge­nüg­te vollauf sein un­ver­schäm­ter Klas­sen­auf­satz. In der Wo­che vor den Zeug­nis­sen wür­de Un­rat ih­nen Fra­gen stel­len, an de­nen sie schei­tern muss­ten. Er dach­te sich schon wel­che aus … Als er das Stadt­tor hin­ter sich hat­te, ka­men ihm Be­den­ken; und je mehr er sich dem Schul­ge­bäu­de nä­her­te, in eine umso dro­hen­de­re Zu­kunft blick­te er. Die drei Auf­stän­di­schen hat­ten nun wohl schon die Klas­se auf­ge­wie­gelt, in­dem sie ihr vom Blau­en En­gel er­zählt hat­ten. Wie wür­de sie Un­rat emp­fan­gen. Die Re­vo­lu­ti­on brach aus! … Die Pa­nik des be­droh­ten Ty­ran­nen durch­spreng­te ihn schon wie­der, kreuz und quer, wie ge­schla­ge­ne Rei­ter. Er schiel­te mit gif­ti­ger Angst um die Stra­ßen­e­cken, nach Schü­lern, nach At­ten­tä­tern.
Er war nicht mehr der An­grei­fer, als er das Klas­sen­zim­mer be­trat. Er war­te­te ab; er trach­te­te sich da­durch zu ret­ten, dass er die Er­eig­nis­se des gest­ri­gen Abends still­schwei­gend leug­ne­te, die Ge­fahr ver­heim­lich­te, die drei Ver­bre­cher über­sah … Un­rat be­zwang sich, als ein Mann. Er ahn­te nicht, was Kie­se­lack, Ertz­um und Loh­mann für Angst aus­stan­den; aber auch sie ahn­ten nichts von sei­ner.
Nach Schul­schluss be­kam er, ge­ra­de wie sie, sei­nen Mut zu­rück. Loh­mann soll­te nicht frohlo­cken! Er muss­te von der Künst­le­rin Fröh­lich fern­ge­hal­ten wer­den: es war eine Macht­fra­ge für Un­rat und eine An­ge­le­gen­heit sei­ner Selb­st­ach­tung, dies zu be­wir­ken. Wie? »Sie müs­sen mor­gen wie­der­kom­men«, hat­te sie ge­sagt. Es blieb nichts an­de­res üb­rig; wie Un­rat das er­kann­te, er­schrak er. Und in sei­nem Er­schre­cken war et­was Sü­ßes.
Er konn­te nicht zu Abend es­sen, so er­regt war er, und ver­ließ trotz des Wi­der­spruchs sei­ner Wirt­schaf­te­rin so­gleich das Haus, um der ers­te zu sein im Ka­buff – in der Gar­de­ro­be der Künst­le­rin Fröh­lich. Loh­mann durf­te nicht bei ihr sit­zen und Wein trin­ken: das war Aufruhr, Un­rat er­trug es nicht. Wei­ter war ihm nichts be­wusst.
Wie er has­tig auf den Blau­en En­gel zu­sch­lich, be­merk­te er nicht gleich den far­bi­gen Zet­tel im Hau­stor und such­te ihn ei­ni­ge Se­kun­den lang, völ­lig kopf­los … Gott­lob, da war der Zet­tel. Die Künst­le­rin Fröh­lich war also nicht, wie Un­rat eben ge­fürch­tet hat­te, plötz­lich ab­ge­reist, ge­flüch­tet, vom Erd­bo­den ver­schlun­gen. Sie sang noch, war noch bunt, kit­zel­te noch mit ih­rem Blick. Und aus sei­ner Be­frie­di­gung hier­über zog Un­rat eine kur­ze Er­kennt­nis. Nicht nur, dass ihr der Schü­ler Loh­mann fern­blei­ben soll­te: Un­rat selbst woll­te bei der Künst­le­rin Fröh­lich sit­zen … Aber die­se Er­kennt­nis ver­dun­kel­te sich so­fort wie­der.
*
Der Saal war noch leer, fast fins­ter, un­heim­lich weit; und die zahl­lo­sen schmut­zig­wei­ßen Stüh­le und Ti­sche stan­den durch­ein­an­der­ge­scho­ben wie eine Ham­mel­her­de auf der Hei­de. Ne­ben dem Ofen und bei ei­ner klei­nen ble­cher­nen Lam­pe saß der Wirt mit zwei an­de­ren Män­nern; sie spiel­ten Kar­ten.
Un­rat drück­te sich, im Wunsch, nicht ge­se­hen zu wer­den, wie eine Fle­der­maus die schat­ti­ge Wand ent­lang. Wie er schon ins Künst­ler­zim­mer ent­wi­schen woll­te, rief der Wirt, dass es schau­er­lich hall­te:
»’na­bend Herr Pro­fes­ser, das freut mich, dass es Ih­nen in mein’ La­kal ge­fal­len hat.«
»Ich woll­te nur – ich mein­te nur – die Künst­le­rin Fröh­lich …«
»Gehn Sie man rein und war­ten auf ihr, es is ja man eben sie­ben. Ich bring’ Sie auch ’n Bier.«
»Dan­ke«, rief Un­rat zu­rück, »ich bin nicht ge­son­nen zu trin­ken … Aber –« und er streck­te den Kopf aus der Tür – »spä­ter­hin wer­de ich wahr­schein­lich eine grö­ße­re Be­stel­lung ma­chen.«
Da­rauf zog er die Tür zu und tapp­te in die Nacht der Gar­de­ro­be hin­ein. Als es ihm ge­lun­gen war, Licht zu ma­chen, räum­te er Kor­setts und St­rümp­fe von ei­nem Stuhl, setz­te sich an den Tisch, auf dem es noch wie ges­tern aus­sah, nahm sei­ne Leh­rer-Agen­da aus der Rock­ta­sche und be­gann, aus den Num­mern hin­ter je­dem Schü­ler­na­men die vor­läu­fi­ge Be­wer­tung der Leis­tun­gen zu bil­den. Bei E an­ge­langt, sprang er ei­lig zu M über, ge­ra­de wie am Mor­gen in der Klas­se. Hin­ter­her be­sann er sich, schlug zu­rück und ver­sah Ertz­ums Na­men mit ei­nem wü­ten­den Un­ge­nü­gend. Kie­se­lack kam an die Rei­he, dann Loh­mann. Das Zim­mer war laut­los und si­cher, und Un­rats Mund ge­krümmt von Rach­sucht.
Nach ei­ner Wei­le schie­nen sich im Saal die ers­ten Gäs­te nie­der­zu­las­sen. Er ge­riet in Un­ru­he. Die di­cke Frau von ges­tern trat ein, un­ter ei­nem schwar­zen Hut mit wil­der Krem­pe, und sag­te:
»Ja was denn, Sie, Herr Pro­fes­sor? Das sieht ja aus, als ob Sie hier über­nach­tet hät­ten!«
»Lie­be Frau, ich kom­me we­gen ge­wis­ser Ge­schäf­te«, be­lehr­te Un­rat sie. Aber sie droh­te mit dem Fin­ger:
»Ihre Ge­schäf­te kann ich mir leb­haft vor­stel­len.«
Sie hat­te Boa und Ja­cke ab­ge­legt.
»Nu müs­sen Sie aber er­lau­ben, dass ich mir die Tall­je aus­zieh’.«
Un­rat stam­mel­te et­was und sah weg. Sie kam in ei­nem stark er­grau­ten Fri­sier­man­tel und klopf­te ihn auf die Schul­ter.
»Dass ich es man sage, Herr Pro­fes­sor, ich wun­de­re mich nicht ’n biss­chen, dass Sie schon wie­der hier sit­zen. Das sind wir bei Rosa nicht an­ders ge­wöhnt. Wer die mal rich­tig ken­nen­lernt, der muss sie lieb­ha­ben, da gib­t’s nischt. Und mit Recht, denn es is doch ’n rei­zend­schö­nes Mäd­chen.«
»Das mag ja denn – im­mer mal wie­der – ganz rich­tig sein, lie­be Frau, aber – nicht dar­um …«
»Nee. Auch we­gen dem Her­zen, was das Mäd­chen hat. Das is so­gar die Haupt­sa­che. Gott ich sage –!«
Sie leg­te die Hand auf ihr ei­ge­nes Herz, un­ter dem klaf­fen­den Fri­sier­man­tel. Da­bei him­mel­te sie, und ihr Dop­pel­kinn schwank­te vor Rüh­rung.
»Die schnei­d’t sich ja oft ge­nug selbst in ’n Fin­ger, aus pu­rer Men­schen­lie­be! Es muss da­von kom­men, weil ihr Va­ter Kran­ken­pfle­ger war. Ob Sie es nu glau­ben oder nicht, Rosa hat im­mer ’ne Schwä­che für die äl­te­ren Her­ren ge­habt. Und nich bloß we­gen dem …«
Sie rieb Dau­men und Zei­ge­fin­ger an­ein­an­der.
»Son­dern weil ihr Herz mal so is. Denn die äl­te­ren Her­ren ha­ben ’ne lie­be­vol­le Be­hand­lung am nö­tigs­ten … Manch­mal is sie wirk­lich gut­mü­ti­ger, als von der Po­li­zei er­laubt is. Sehn Sie, ich kenn’ sie ja von Kin­des­bei­nen. Von mir ha­ben Sie al­les aus ers­ter Hand.«
Sie setz­te sich auf die Tisch­kan­te, eng­te Un­rat ein zwi­schen ih­rer mäch­ti­gen Per­son und der Leh­ne sei­nes Stuh­les, schi­en ihn ganz in Be­schlag zu neh­men und zu um­hül­len mit der At­mo­sphä­re des­sen, was sie er­zähl­te.
»Wie das Mäd­chen noch nich sech­zehn war, ging sie schon egal ins Pan­op­ti­kum und zu den Ar­tis­ten, die da ar­bei­ten. Sie be­grei­fen, was mal von Hau­se aus Künst­le­rin is … Na, da war ’n al­ter Herr, der woll­te sie aus­bil­den las­sen. Die Aus­bil­dung kennt man ja, die fängt ganz von vorn an bei Adam und Eva und bei dem sau­ern Ap­fel. Als sie den in­tus hat­te, kommt sie zu mir und heult. Ich sag’ na­tür­lich, du, dem Ol­len zie­hen wir die Kan­da­re an, du bist ja erst in zwei ’ner hal­b­en Wo­che sech­zehn, der muss ble­chen, bis ihm die Luft aus­geht. Aber sie will nicht! Hat man von so was ’n Be­griff. Sie hat zu viel Mit­leid ge­habt mit dem Greis, ich hab’ sie nicht rum­krie­gen kön­nen. Im Ge­gen­teil, sie is von sel­ber wie­der zu ihm hin­ge­gan­gen; das lässt doch tief bli­cken. Auf der Stra­ße hat sie ’n mir ge­zeigt: ’n rich­ti­ger Krip­pen­set­zer. Aber kein Ver­gleich, nich die Boh­ne von Ver­gleich mit Ih­nen, Herr Pro­fes­sor!«
Sie tipp­te ihn mit zwei Fin­gern ge­ra­de ins Ge­sicht. Da er ihr noch nicht ge­nü­gend an­ge­regt schi­en, be­stand sie auf dem Ge­sag­ten.
»Nich die Boh­ne, be­haup­t’ ich! Und über­haupt war das ’n Ekel. Bald drauf ist er ge­stor­ben, und was mei­nen Sie, was er Rosa ver­macht hat? Sei­ne Fo­to­gra­fie, un­ter dis­kre­tem Ver­schluss. Nu platz’ vor Glück! Nee, da muss doch ’n ge­ne­ree­ser Mann, der noch gut er­hal­ten is und auch wirk­lich Herz hat für so’n Mä­chen, der muss doch noch ’n be­deu­tend tiefern Ein­druck ma­chen, sag’ ich.«
»Frei­lich denn wohl –« aber Un­rat such­te nach ei­nem schwie­ri­gen Über­gang. »Sei dem nun aber wie im­mer ihm wol­le, so ist doch dies –«
Sein Lä­cheln sah vor Ver­le­gen­heit gif­tig aus.
»– kein Ein­wand da­ge­gen, dass ihr ein jun­ger Bursch, wel­cher des Geis­tes ei­ner­seits und des Ge­mü­tes an­de­rer­seits nicht völ­lig er­man­gelt, im­mer­hin noch mehr zu­sa­ge.«
Die Frau fiel leb­haft ein:
»Wenn Sie sonst kei­ne Schmer­zen ha­ben, denn macht es nischt. Die Jun­gen, die hat un­se­re Rosa bis hier raus, das glau­ben Sie mir
Sie schüt­tel­te Un­rat stark an der Schul­ter, um ihm die Wahr­heit kör­per­lich fühl­bar zu ma­chen. Dann ließ sie sich vom Tisch auf den Bo­den plump­sen und sag­te:
»Da ver­plau­dert man sich. Jetzt muss ich aber an die Ar­beit, Herr Pro­fes­sor, ein an­der­mal wid­me ich mich wie­der Ih­nen.«
Sie setz­te sich vor den Toi­let­ten­spie­gel und rieb sich das Ge­sicht mit Fett ein.
»Nu sehn Sie lie­ber wo­an­ders hin, scheen is es nicht.«
Un­rat sah ge­hor­sam weg. Er hör­te auf dem Kla­vier ei­ni­ge Töne an­schla­gen. Der Saal rausch­te dumpf, als sei er halb ge­füllt.
»Und Ihre Schul­jun­gen«, warf die Frau hin, mit ei­nem Ge­gen­stand zwi...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Impressum
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Danke
  5. Anmerkungen zur Bearbeitung
  6. I.
  7. II.
  8. III.
  9. IV.
  10. V.
  11. VI.
  12. VII.
  13. VIII.
  14. IX.
  15. X.
  16. XI.
  17. XII.
  18. XIII.
  19. XIV.
  20. XV.
  21. XVI.
  22. XVII.
  23. Das weitere Verlagsprogramm