Der Ort der Tiere auf der Bühne und im Film
Mit Pavlov ins Kino
Die Orte der Tiere im sowjetischen Montagefilm der 1920er Jahre
Lars Nowak
Im sowjetischen Montagekino der 1920er Jahre traten Tiere an zwei Stellen in Erscheinung: Sie spielten erstens eine wichtige Rolle in den Filmen selbst und bildeten zweitens einen impliziten Bezugspunkt in den filmtheoretischen Überlegungen der damaligen Regisseure, die sich regelmäßig auf jene biologische Reflexlehre bezogen, welche seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von verschiedenen russischen Forschern, darunter Ivan Pavlov, ausgearbeitet worden war. Diese beiden unterschiedlichen Lokalisierungen der Tiere innerhalb des Montagekinos sind in der bisherigen Forschungsliteratur nur isoliert betrachtet worden. Der folgende Aufsatz unternimmt hingegen den Versuch, sie aufeinander zu beziehen und dadurch einen Zusammenhang herzustellen, in dem sich Film- und Wissenschaftsgeschichte kreuzen. Dabei werde ich mich im theoretischen Bereich auf Sergej Eisensteins Montageästhetik konzentrieren, während ich auf der praktischen Ebene drei Beispielfilme herausgreifen möchte: Streik (Стачка, UdSSR 1924) und Die Generallinie (Генеральная линия, UdSSR 1929), den ersten und den letzten der vier stummen Spielfilme Eisensteins, sowie Wsewolod Pudowkins populärwissenschaftlichen Dokumentarfilm Mechanik des Gehirns (Механика головного мозга, UdSSR 1925–26). Wie sich zeigen wird, kamen in allen vier Fällen wiederum zwei verschiedene Arten von Räumen zum Tragen. Denn zum einen wurde stets auf bestimmte physische Räume Bezug genommen, die von Menschen geschaffen worden waren und in denen auch die Tiere der menschlichen Kontrolle unterlagen. Und zum anderen wurden die Tiere in einen konzeptuellen Raum gestellt, in dem sich ihr Verhältnis zu den Menschen völlig anders darstellte, weil hier an die Stelle der Hierarchisierung diverse Überschreitungen der zwischen beiden Gruppen verlaufenden Grenze, insbesondere Annäherungen der Menschen an die Tiere, traten. Bei den drei Filmen erfuhren diese abstrakten Annäherungen mitunter auf einer dritten räumlichen Ebene eine Verstärkung, da die humanen und die animalischen Figuren gelegentlich auch in den formalen Räumen dieser Filme, ihren Handlungs- und Bildräumen, zusammengeführt wurden. Der Widerspruch zwischen beiden Behandlungen des Tieres ist aber bereits im marxistischen Denken angelegt, auf das sich die Vertreter des sowjetischen Montagekinos beriefen. Denn einerseits gehören die Tiere jener Natur an, deren Ausbeutbarkeit durch den Menschen für den Marxismus außer Frage steht; und andererseits wird hier der Mensch selbst nicht dem Tierreich gegenübergestellt, sondern in dieses eingegliedert. Mithin schlug sich die materialistische Weltanschauung der sowjetischen Montagefilmer auch in ihrer paradoxen Haltung zum Tier nieder.
In Streik, der von der Niederschlagung eines Fabrikarbeiterstreiks im zaristischen Russland handelt, begegnen wir Tieren im sozialen Raum der Stadt. Das geschieht zunächst in einer Zoohandlung, in der einer der Polizeispitzel, welche die Arbeiter ausspionieren, einen dressierten Bären erwirbt. Um sich eine Tarnung für seine Tätigkeit zu verschaffen, tritt der Spitzel mit dem Bären auf der Straße auf, wo er ihn zu Drehorgelmusik tanzen lässt. Der Bär ist aber nicht das einzige Tier, zu dem der Spion in Beziehung tritt. Vielmehr werden in der Zoohandlung noch andere Tiere zum Verkauf angeboten. Unter diesen befindet sich auch eine Bulldogge, die an einer Stelle mit dem Kopf des Spitzels überblendet wird, welcher sich dadurch an den Hund angleicht, dass er wie dieser hechelt; die Identifizierung mit dem Tier wird durch den unmittelbar folgenden Zwischentitel bestätigt, der den Decknamen des Mannes – ‚Bulldogge‘ – angibt. Direkt davor sind bereits drei andere Spitzel mit animalischen Tarnnamen, der ‚Fuchs‘, die ‚Eule‘ und die ‚Meerkatze‘, in der gleichen Weise – durch eine Überblendung vom jeweiligen Tier auf die entsprechende Person und die anschließende Nennung des Pseudonyms – vorgestellt worden. Dabei lässt sich im Fall der ‚Meerkatze‘ insofern eine umgekehrte Angleichung des Tieres an den Menschen beobachten, als das Äffchen genau wie der Agent aus einer Flasche trinkt. Pascal Bonitzer hat in diesem Zusammenhang von einer Ausstattung der Spione mit Totemtieren gesprochen, die sich teils metonymischer, teils metaphorischer Mittel bediene. Tatsächlich werden alle vier Spitzel mit ihren tierlichen Namensgebern zunächst durch die Montage zweier Einstellungen verknüpft, wobei die Überblendungen für eine Mischung aus Juxta- und Superposition sorgen. Dabei entstammen der Fuchs und die Eule zwar einem extradiegetischen Raum, der von dem durch die Agenten definierten Raum der Diegese losgelöst ist. Doch die Meerkatze und die Bulldogge gehören in dem Maße, wie sie in der Tierhandlung feilgeboten werden, demselben Handlungsraum wie die Spitzel an. Und die Bulldogge ist ebenso wie der Tanzbär sogar mehrfach in derselben Einstellung und damit im selben piktoralen Raum wie der beiden zugeordnete Spion zu sehen. Die formale Hervorhebung der beiden letztgenannten Tiere ist kein Zufall, sondern verweist auf deren besondere Beziehung zu Pavlovs Reflexlehre. Denn auch Pavlov entwickelte seine Theorie hauptsächlich durch Experimente an Hunden und interessierte sich dabei ebenfalls vorrangig für bedingte Reflexe, wie sie unter anderem durch die Abrichtung von Tieren gebildet werden.
Bonitzer zufolge stehen die Totemtiere der Polizeispitzel für eine „soushumanité“, die genauso abstoßend wie die „surhumanité“ der im Luxus schwelgenden Fabrikbesitzer sei; beides aber werde der schlichten „humanité“ der Arbeiter gegenübergestellt. Im Widerspruch hierzu hat David Bordwell behauptet, Streik assoziiere die Kapitalisten mit Tieren, die Arbeiter dagegen mit Maschinen. Damit verkennen aber beide Autoren, wie weit Eisensteins Einsatz der Tiere hier tatsächlich reicht, werden diese doch außer mit den Spitzeln auch mit den Soldaten, welche den Streik niederschlagen, den Fabrikaufsehern und nicht zuletzt den Arbeitern verknüpft.
Letztere teilen sich bereits ihre Wohnsiedlung mit einer ganzen Reihe von Tieren, bei denen es sich im Unterschied zu denen der Zoohandlung nicht mehr nur um Haus-, sondern auch um Nutztiere handelt, da zu ihnen neben Katzen auch Schweine, Gänse und Hühner gehören. Während diese Tiere am idyllischen Anfang des Streiks noch auf den Außenraum zwischen den Häusern beschränkt bleiben, werden sie in den folgenden Tagen, an denen die idyllische einer angespannten Stimmung weicht, auch im Inneren der Behausungen sichtbar. Wichtiger als dieses Eindringen in die Wohnungen der Arbeiter ist aber, dass die Tiere auch die Fabrik erobern, die, obwohl normalerweise den Menschen vorbehalten, infolge des Streiks leer steht. So läuft eine Katze durch die verlassenen Flure der Fabrik, während sich auf den stillstehenden Produktionsmaschinen und dem verstummten Signalhorn Vögel niederlassen. Weil die Tiere damit Orte besetzen, die normalerweise von den Arbeitern eingenommen werden, werden sie mit diesen nun nicht mehr – wie noch in der Wohnsiedlung – bloß assoziiert, sondern identifiziert. Diese Strategie der Identifizierung mittels Lokalisierung wird auch auf zwei der Gegenspieler der Proletarier, die beiden Fabrikaufseher, übertragen – nur mit dem Unterschied, dass der übereinstimmende Ort jetzt mobil ist. Denn nachdem die rebellierenden Arbeiter den Aufsehern Jutesäcke übergestülpt und sie in Schubkarren zum Fluss gefahren haben, wird dieser Vorgang von ihren Kindern nachgespielt, die dazu einen Ziegenbock in einen Sack stecken und in einer Schubkarre umherfahren.
Schließlich wird die Animalisierung der beiden gegnerischen Parteien des Klassenkampfes am Ende des Streiks noch einmal aufgegriffen, an dem sich die anfängliche Idylle vollends in ihr Gegenteil, ein Blutbad, verkehrt. Allerdings wird sie nun mit anderen Mitteln herbeigeführt und aufseiten des Kapitals auf eine andere Instanz bezogen. Denn obgleich erneut Tiere in einen ihnen fremden Raum vorstoßen, handelt es sich jetzt um Pferde, auf welchen Soldaten sitzen, die in ein anderes Wohnhaus der Arbeiter, eine mehrstöckige Mietskaserne, eindringen und dort laut einem anklagenden Zwischentitel wie wilde Bestien wüten. Umgekehrt werden die aus dem Wohnhaus vertriebenen und zum Fluss laufenden Arbeiter mit Schlachtvieh verglichen: Eine Parallelmontage lässt Totalen von den fliehenden Proletariern und den schießenden Soldaten sich mit Nah- und Großaufnahmen abwechseln, die die Schlachtung von Rindern zeigen. Da das Schlachthaus nicht zur Diegese des Films gehört, bleiben die Rinder allerdings räumlich genauso von ihren menschlichen Entsprechungen getrennt wie jener Fuchs und jene Eule, die einem Teil der Spitzel ihre Decknamen gaben.
Mit dem Verkaufen von Haustieren in einer Zoohandlung sowie dem Halten und Schlachten von Nutztieren in der Arbeitersiedlung und einem Schlachthaus stellt Streik vornehmlich die wirtschaftliche Verwertung von Tieren dar. Doch werden diese hier zugleich in vielfältige Analogisierungen mit den Menschen verstrickt, die zwar grundsätzlich unabhängig davon sind, ob sich die Tiere und die Menschen denselben Handlungsraum teilen oder nicht. Kommt es jedoch zu einer Parti...