1857
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1857

Flaubert, Baudelaire, Stifter: Die Entdeckung der modernen Literatur

  1. 462 Seiten
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Flaubert, Baudelaire, Stifter: Die Entdeckung der modernen Literatur

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Über dieses Buch

Drei bedeutende Werke der Weltliteratur am Beginn der Moderne.Das Jahr 1857 ist literaturgeschichtlich betrachtet von großer Bedeutung: Mit Gustave Flauberts "Madame Bovary", Charles Baudelaires "Les Fleurs du Mal" und Adalbert Stifters "Nachsommer" erscheinen drei epochale Werke der modernen europäischen Literatur. Dabei gab es unter den Zeitgenossen mit Friedrich Nietzsche vermutlich nur einen einzigen Leser, der tatsächlich alle drei Bücher kannte und sie außerordentlich schätzte.Wolfgang Matz geht in seiner Studie der Frage nach, ob dem gleichzeitigen Erscheinen der Werke nicht doch mehr zugrunde liegt als der Zufall. Alle drei Werke zeichnen sich durch eine äußerst markante Konstellation von ästhetischen Konzepten, Schreibweisen und biographischen Wegen zur Literatur aus, die für die gesamte Moderne prägend wurde. In seiner überraschenden Studie zeigt Matz auf, wie in einem historisch entscheidenden Augenblick drei Autoren zu ihrem Werk finden und wie drei Werke auf diesen Augenblick antworten. Durch die Verschränkung von Ästhetik und Biographie wird 1857 mit diesen drei grundverschiedenen Büchern zum Schlüsseljahr der Moderne.Durchgesehene Neuausgabe.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783835345911
DRITTER TEIL
Der Märtyrer der Poesie
Charles Baudelaire und Les Fleurs du Mal
ERSTES KAPITEL

Der Bauer von Paris

Baudelaires Leben war ein Leben in Paris. Dort, rive gauche, wurde er am 8. April 1821 geboren, dort, rive droite, ist er am 31. August 1867 gestorben. Einige wenige Reisen – Besuche bei seiner Mutter in Honfleur, die frühe unfreiwillige Schiffahrt zu den Antillen, das späte freiwillige Exil in Brüssel –, sonst hat er seine Heimatstadt weder verlassen noch, erst recht, verlassen wollen. Paris besitzt die Eigenschaft der Metropolen, Stammbäume weitgehend zu ignorieren. Wenn einer nur in Paris geboren ist, dort lebt und die Stadt in sich aufnimmt, so ist er Pariser, entstammt seine Familie vielleicht auch der tiefsten Provinz. In der Provinz selber gälte das nicht. Wird einer auch etwa in Rouen geboren – solange er nicht seit Generationen dort fest verwurzelt wäre, könnten er und die Seinen nie behaupten, »dass wir in Rouen das sind, was man eine Familie nennt«. Baudelaires Mutter war keine Pariserin, seine – so muss man es sagen –, seine Väter waren keine Pariser. Der tiefe Bruch zum Herkommen, die Wahrnehmung Baudelaires als eines zutiefst Fremden, als eines Solitärs und Einsamen, als eines Menschen, der eine im rigorosen Sinne eigene Welt erschafft, indem er sich trennt von der Welt, in der diejenigen lebten, die seinen natürlichen Lebenskreis gebildet hätten, dieser tiefe Bruch hat hier seinen Ursprung.
Baudelaires Leben war ein Leben in Paris, seine Eltern waren Provinzler. Höchst kurios sind die familiären Verhältnisse seiner unmittelbaren Vorfahren, und kurios ist es, dass diese Verhältnisse am klarsten sind bei jenem Menschen, der seinerzeit nur den kürzesten Einfluss auf Charles ausüben konnte: bei François Baudelaire, seinem Vater. Er wurde 1759 im Département Haute-Marne geboren, begann eine Verwaltungslaufbahn, bekam in erster Ehe 1814 seinen Sohn Alphonse, doch seine Frau Rosalie starb bereits 1814. Am 9. September 1819 heiratete er mit sechzig Jahren die noch nicht ganz fünfundzwanzigjährige Caroline DufaŸs, bei der nicht einmal die Schreibweise des Familiennamens sicher ist; zum Stolz auf die junge Ehefrau kam der Stolz auf einen Sohn, denn achtzehn Monate später wurde Charles Baudelaire geboren. François Baudelaire wiederum starb am 10. Februar 1827. Seine Witwe heiratete am 8. November 1828 ein zweites Mal, diesmal in noch größerer Eile, denn schon einen Monat später brachte sie in aller Heimlichkeit ein totes Mädchen zur Welt. Der Gatte war Jacques Aupick, ein im Jahr der Großen Revolution geborener Berufssoldat, der es bis zum General bringen sollte. Weder von Baudelaires Mutter, die als Madame Aupick in die Literaturgeschichte eingegangen ist, noch von seinem Stiefvater, dem General Aupick, hat es je eine Geburtsurkunde gegeben, ihre Genealogie ist mysteriös, seine führt auf geradem Wege nach Irland. Diese Familienverhältnisse aber stehen nicht umsonst hier, denn sie hatten keinen geringen Einfluss auf Charles Baudelaires Leben. Darüber hinaus geben sie ein seltsames Vexierbild: Der General und Madame Aupick spielen nicht nur in Baudelaires Korrespondenz, sondern auch in der Nachwelt, im Mythos seines Lebens und Sterbens, häufig genug die Rolle der engstirnigen Provinzler gegenüber dem weltläufigen Pariser Dichter. Natürlich ist diese Charakterisierung nicht ganz falsch, aber ebendeshalb ist sie auch nicht ganz richtig. Die Aupicks waren gewiss Provinzler, und sie wählten sich das bretonische Städtchen Honfleur zum ländlichen Alterssitz; die militärische und politische Karriere des Generals aber hatte sie nicht nur in verschiedene Städte Frankreichs und für lange Jahre nach Paris geführt, sie hatte Charles’ Mutter jene Welt sehen lassen, die ihr Sohn fast nur vom Hörensagen kannte. Immerhin ging der General als »Envoyé extraordinaire et ministre plénipotentiaire« nach Konstantinopel und später als Botschafter nach Madrid; er beendete seine Laufbahn als Senator in der Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts. Charles Baudelaire dagegen – ist es so ganz unzutreffend, ihn mit Aragons Wort als einen »Paysan de Paris« zu bezeichnen? Baudelaire bewohnte Paris wie ein Bauer seine Scholle; die Stadt war der fruchtbare Boden für seine Arbeit, und was außerhalb der Stadt geschah, interessierte ihn wenig. Über andere Länder wusste er nicht viel mehr als ein Landmann aus der Normandie, und bestimmt weniger als die verhassten Bürger, Notare und Militärs aus dem Bekanntenkreis der Aupicks. Die wenigen Reisen, die ihn aus Paris hinausführten, endeten regelmäßig im Fiasko. Und den langen Aufenthalt in Brüssel am Ende seines Lebens hatte er sich selbst als Purgatorium auferlegt, zu dem ihn keiner zwang und mit dem er die letzten Reserven an Bürgerhass aus sich herauspresste.
Gerade bei einem, der so großen Wert legte auf seine stolze Einsamkeit, auf seine Unabhängigkeit von allen natürlichen Banden, ist es bemerkenswert, wie stark er ein Leben lang bezogen war auf die engsten Familienangehörigen. Baudelaire hat sich nie getrennt von seiner Familie. Die Mutter war, in Anziehung und Abstoßung, der einzige Mensch, der dieses Leben in seiner vollen Länge begleitete und bis zum bitteren Ende; sie war die wichtigste Adressatin in seiner Korrespondenz, und der Kampf um ihre Zuneigung und Liebe war immer wieder die stärkste affektive Kraft, die ihn antrieb. Sein Stiefvater, der General, war dazu das notwendige Gegenbild, auch über die naheliegende und deshalb nicht allzu weit führende psychologische Schlussfolgerung hinaus, er habe als Nebenbuhler dem Siebenjährigen die Liebe seiner Mutter geraubt. Hätte ein Dichter, ein Bohémien und Dandy, sich jemanden erwählen können zum Inbegriff der verachteten Ordnung und ihrer Macht, wer hätte sich besser dazu geeignet als ausgerechnet dieser General in seiner prunkvollen Uniform? Naturgemäß waren es auch praktische, materielle Gründe, was Baudelaire dauerhaft an seiner Familie festhalten ließ, doch als Begründung reicht das nicht hin. Baudelaire vermochte ohne seine Mutter nicht zu leben, und hätte er seinen Stiefvater zwar auch am liebsten sofort aus seinem und das heißt: aus seiner Mutter Leben entfernt, so tat dieser ihm doch gute Dienste als Personifizierung seines Hasses. In der Familienkonstellation zeigt sich zum ersten Mal jener seltsame Zug Baudelaires, gerade das zu suchen, was ihn am stärksten bedrängte.
Eine besondere Rolle spielte jener Mann, den Charles kaum gekannt hat: sein leiblicher Vater François, und schon allein weil Baudelaire ihn in späteren Jahren gern gegen den verachteten General ausspielte. François Baudelaire hatte eine Karriere durchlaufen, wie sie vielleicht nur möglich war in den wechselhaften Zeiten von Ancien Régime, Revolution, Empire und Restauration. 1759 geboren, hatte er an der Sorbonne Philosophie und Theologie studiert, war 1783 oder 1784 zum Priester geweiht worden, hatte eine Stelle als Hauslehrer beim Duc de Choiseul-Praslin gefunden und endlich, im November 1793, also nach der Revolution, seine Priesterschaft niedergelegt und die Verwaltungslaufbahn eingeschlagen. Rosalie Janin, die er 1797 heiratete, war von Beruf Malerin, und auch er selbst dilettierte zeitlebens als bildender Künstler. François Baudelaire verstand sich wohl zuallererst als Humanist und Philosoph, und als solchen wollte auch Charles ihn posthum verstanden wissen. Es läge nahe, in der künstlerischen Tätigkeit von François und seiner ersten Frau einen Grund für diese nachgetragene Zuneigung zu suchen, doch dafür gibt es keinen Anhaltspunkt. In Baudelaires Bild von seinem Vater mischten sich undeutliche Erinnerungen des Kindes mit dem Wunsch des Erwachsenen, eine Gegenfigur zu schaffen zu dem, der seine Stelle eingenommen hatte; François Baudelaire war vor allem eines: der Nicht-General.
»Meine Vorfahren, Schwachsinnige oder Irre, in feierlichen Gemächern, und alle Opfer schrecklicher Leidenschaften.« So heißt es in einer Tagebuchnotiz der Fusées, vermutlich aus den späten fünfziger Jahren. Baudelaire hat über seine Vorfahren kaum etwas gewusst. Ob es sich in der Notiz nun um eine Improvisation handelt oder um eine Invektive gegen den General und Madame – denn auch sie allein könnten gemeint sein mit den »ancêtres« –: Der Satz gehört zu den zahlreichen Selbstmystifikationen des Dichters. Zumindest in den ihm und uns überschaubaren Generationen gibt es keine Anzeichen von Schwachsinn, Irrsinn und schrecklichen Leidenschaften; es sei denn, er extrapoliere hier eigene Bizarrerien seiner reifen Jahre. Wie wenig diese »fusée« zumindest die empirische, außerliterarische Wirklichkeit trifft, zeigt sich an Charles’ eigener Jugendgeschichte, die wenig erraten lässt von schrecklichen Leidenschaften und von künstlerischer Begabung. Im Gegenteil, Baudelaires Kindheit ist offenbar von erstaunlicher Normalität, und in und aus ihr ist keine Ursache abzuleiten für den Ausbruch des schöpferischen Impulses. Doch wie viel von dem, was die innere Wirklichkeit eines Kindes ausmacht, mag tatsächlich eingehen in nachlesbare Dokumente? Baudelaires erste Briefe richten sich an seinen älteren Halbbruder Alphonse, und sie stammen aus dem Jahre 1832. Der Oberstleutnant Aupick war im November 1831 zum Chef d’état major der 7. Division in Lyon ernannt worden, und im Januar waren auch Charles und seine Mutter dorthin übersiedelt; die vier Jahre bis zur Rückkehr nach Paris, im März 1836, sind die längste Zeitspanne, die Baudelaire außerhalb der Hauptstadt verbracht hat.
Die Nachwelt ist leicht geneigt, im Sinne der bekannten Finalität ihrer Geschichte bestimmte Details überzuinterpretieren. Überinterpretieren sollte man auch nicht, als erstes Anzeichen von Unbotmäßigkeit, jene schulische Rebellion, von der Charles am 25. März 1833 seinem Bruder berichtet und die er bereits mit den »Barrikaden von Paris« vergleicht. Auf der anderen Seite war dieser Aufruhr gegen die Lehrerschaft, diese »Rache an denen, die ihre Rechte missbraucht haben«, ein Vorbote jenes Konflikts, der später Charles’ Entfernung vom Collège in Paris zur Folge haben sollte und damit einen ersten tiefen lebensgeschichtlichen Bruch. Wie stark auch immer er gewesen sein mag, der Impuls zur Revolte des jungen Baudelaire wird erkennbar schon lange vor jeder künstlerischen oder literarischen Neigung; der Wunsch zum Ausbrechen entsteht früher als die Mittel, mit denen dies dann tatsächlich gelingt, die Haltung früher als ihr poetischer Ausdruck. Revolte und Revolution sind Phänomene, von denen mehrere europäische und besonders französische Generationen begleitet worden sind, und an Charles’ Brief ist zu erkennen, welche Rolle der Mythos und die Realität der Revolution auch in der seinen spielte. Bei den »Barrikaden von Paris« dachte der Zwölfjährige wahrscheinlich sogar eher an 1789 als an 1830, denn die Julirevolution, die zur Herrschaft Louis-Philippes führte, hat keine Spuren bei ihm hinterlassen. Jacques Aupick hatte diese Epoche im Generalstab in Algerien verbracht, war also nicht beteiligt an den Pariser Kämpfen. Ein Jahr später war das vollkommen anders: Als er im November 1831 überstürzt nach Lyon versetzt wurde, da war der Aufstand der »canuts« der dringende Anlass. Lyon, die zweitgrößte Stadt Frankreichs, war zugleich auch diejenige, die zwischen den Revolutionsjahren 1830 und 1848 die unruhigste blieb, und die beiden »Révoltes des canuts«, 1831 und 1834, waren die gefährlichsten quasi-revolutionären Ereignisse jener Epoche. Den Canuts, also den in der Seidenproduktion beschäftigten Heimarbeitern Lyons, hatte der Umsturz von 1830 keinerlei Verbesserung ihrer miserablen Lebensbedingungen gebracht, und so war ihre Rebellion weniger ein politischer als ein vom puren Hunger diktierter Akt: »Vivre en travaillant ou mourir en combattant« war ihr Kampfruf.
Die Aufstände wurden mit äußerster Brutalität niedergeschlagen, und Aupick erwarb sich dabei in den Augen seiner Vorgesetzten bleibende und der Karriere äußerst nützliche Verdienste. Für seinen Stiefsohn sah das anders aus. Zwar deutet in seinen Briefen nichts darauf hin, dass er für die Aufständischen Partei ergriffen hätte, und er macht weiter den Eindruck eines ehrgeizigen Schülers, der von sich nur zu sagen weiß: »Ich arbeite, büffle, ich komme auf gute Plätze.« Doch wenn es im gleichen Brief an Alphonse, vom 27. Dezember 1835, bereits heißt, »ich langweile [je m’ennuie] mich sehr«, so entspricht das der späten autobiographischen Notiz von 1862: »Nach 1830 das Collège in Lyon, Schläge, Schlachten mit Lehrern und Mitschülern, schwere Anfälle von Melancholie.« Wie Charles, der spätere permanente Révolté, diese frühen Ereignisse tatsächlich erlebt hat, lässt sich unmittelbar nicht rekonstruieren; Indizien wie die »Barrikaden von Paris«, die ambivalente Stimmung von »ennui« und »büffeln«, sprechen jedoch dafür, dass die einer Revolution nahekommenden Kämpfe tiefe Spuren in ihm hinterlassen und eine Spannung erzeugt haben, die dann in seiner sozialistischen Phase von 1848 zum Ausbruch kamen. Dass Aupick jedenfalls auf seiten der Ordnung, Macht und Gewalt stand, hat er ihm nie vergessen und auf den Barrikaden von 1848 dann zumindest symbolisch heimgezahlt. Man kann sich Charles’ Verfassung jener Jahre nur als tief zweideutig vorstellen, denn einerseits müsste man ihm eine erhebliche, fast monströse Verstellungskunst zutrauen, wollte man seine Briefe an die Mutter tatsächlich als taktisch verstehen, andererseits wäre der Umschwung von 1839/1840 sonst ein vollkommener Riss in seiner Biographie.
Die Aupicks kehrten Anfang 1836 zurück nach Paris, und Charles kam als Pensionär in das renommierte Collège Louis-le-Grand, wo er blieb, bis man ihn im April 1839 wegen Insubordination von der Schule verwies. Am 12. Mai 1839 fallen in Paris Schüsse, und Baudelaire erlebt mit dem von Barbès und Blanqui angeführten Aufstand ein weiteres Mal die Gewalt der Geschichte aus nächster Nähe. Im August endlich absolviert er sein Baccalaureat als Externer. In jener Zeit werden die ersten Züge des erwachsenen Baudelaire erkennbar, fraglich bleibt, ob sie tatsächlich erst jetzt entstanden. Und erkennbar wird jene Eigenschaft, die er sein Leben lang mit Bewusstsein und Absicht kultivieren wird: Baudelaire will seine Individualität, seine Haltung, seine Biographie pflegen, planen und inszenieren wie ein Kunstwerk, noch bevor er selbst ein Künstler geworden ist. Mehr noch: Er wird seine Kunst nie losgelöst sehen von seiner Biographie, seiner Lebensführung; ein Dichter wird für ihn nicht einer sein, der Gedichte schreibt und sonst ein Leben führt wie jeder andere, sondern sein Leben hat ihn vom Leben der anderen ebenso zu unterscheiden wie es die Dichtung selber tut. Dichter sein – das ist keine berufliche, es ist eine existentielle Wahl. Und diese fundamentale Eigenschaft bewirkt, dass bei dem Dichter Baudelaire die Biographie eine so ungewöhnlich große Bedeutung bekommt. Man würde das ganz besondere Wesen seines Dichtertums verfehlen, ignorierte man die von ihm so bewusst gewählte Haltung der gelebten Dichtung zugunsten einer reinen Werkgeschichte.
Einer seiner Lehrer notierte im März 1839, Charles habe »seit einigen Tagen sein Benehmen voll von Bizarrerie wiederaufgenommen«, doch mit dem Ende der Schulzeit und dem Beginn seines »freien Lebens in Paris« wird dieser Charakter Baudelaire vollkommen dominieren. Mit einem S...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. ERSTER TEIL. Der unästhetische und der ästhetische Zustand. Drei Leben und ihre Bücher
  5. ZWEITER TEIL. Der Heilige des Romans. Gustave Flaubert und Madame Bovary
  6. DRITTER TEIL. Der Märtyrer der Poesie. Charles Baudelaire und Les Fleurs du Mal
  7. VIERTER TEIL. Der König von Polen. Adalbert Stifter und Der Nachsommer
  8. FÜNFTER TEIL. Nur Narr! Nur Dichter! Drei Bücher und ihr Leser
  9. Anhang
  10. Anmerkungen
  11. Impressum