1.Das Selbst
Wenn man im Internet nach Wörtern, die mit „Selbst“ beginnen, sucht, findet man unter anderem den folgenden Eintrag mit der Überschrift: „445 Wörter von ‚selbstabdichtend‘ bis ‚Selbstüberzeugung‘“.
Auch wenn ein üppiger Teil der Begriffe nicht wirklich mit unserem „Selbst“ zu tun hat, gibt es doch eine Menge Wörter, die unser Verhältnis zu unserem Inneren zu beschreiben versuchen. Wie stehen wir eigentlich zu uns selbst und wie drücken wir das aus? Wie leben wir das aus? Welchen Einfluss hat diese Einstellung auf unser Leben und wie verändert sie unsere täglichen Entscheidungen?
1.1Was unser Selbst beeinflusst
Das Selbst ist ein Konstrukt, vielleicht ein Image, das wir mehr oder weniger aktiv erschaffen haben. Ein Bild, wie wir gern wahrgenommen werden möchten. Wie wir uns selbst sehen. Dem zugrunde liegt das sogenannte Selbstkonzept.
Die Selbstkonzeptforschung unterscheidet zwischen dem gegenwärtigen Selbst und möglichen Selbsts, die man zukünftig sein könnte. Das vergangene Selbst bezieht sich auf frühere Lebensabschnitte. Außerdem gibt es auch weniger gewünschte Versionen des Selbst, die man befürchtet zu werden, aber auf keinen Fall werden möchte. Wir designen unser Selbst also ständig neu.
Zudem sehen wir uns selbst stets anders als andere: Die Selbstwahrnehmung ist grundsätzlich anders als die Wahrnehmung von außen. Manchmal sind wir regelrecht erschüttert darüber, wie positiv andere uns wahrnehmen und wie selbstkritisch wir im Gegensatz dazu sind.
Der Neuropsychologe Chris Niebauer schreibt in seinem Buch „No Self, No Problem“, dass es im Gehirn keine konkrete Lokalisation für das Selbst gibt. Dafür ist aber die linke Gehirnhälfte tätig. Pausenlos interpretiert sie Erlebnisse und erfindet förmlich das Selbst – wir denken, dass es ein Selbst gibt, und leben es im Kern gar nicht.
Erst durch das Loslassen dieser ständigen Bewertungen und Konzepte kommen wir uns selbst näher: unserer Intuition, unserer Gefühlswelt, unserem Wesen. Chris Niebauer unterstreicht außerdem die Parallele zur Idee des „Non-Self“ im Buddhismus, das sich zum Beispiel durch Meditation und im besten Fall durch Erleuchtung einstellt. Wir sind dann ins Große und Ganze eingebunden – das Selbst spielt dann keine Rolle mehr.
Das Selbst existiert also gar nicht? Vielleicht ist das Loslassen des Selbst der erste selbstempathische Schritt.
Das Selbst in der neurologischen Forschung
Der Neurowissenschaftler und Arzt Joachim Bauer beschreibt allerdings neuronale Netzwerke, die das Selbst formen. Diese Forschung ist erst wenige Jahre alt. Er beschreibt ein Trieb- oder Basissystem, welches für unsere Affekte und Launen zuständig ist. Das Basissystem besteht aus Belohnungssystem, Angstzentren und Hypothalamus. Es sorgt dafür, dass wir Impulsen schnell nachgeben. Die Kontrollinstanz liegt im präfrontalen Cortex: Dieser Teil beobachtet unsere Impulse, wägt ab, wechselt die Perspektive und prüft auf soziale Angemessenheit. Das Selbst in Aktion besteht also immerfort aus dem Dialog dieser beiden Instanzen im Gehirn. Genau diese Zwiesprache nutzen wir, um selbstempathisch zu werden.
Das Selbst aus dem Gleichgewicht
Unsere Gesellschaft schreit nach narzisstischer Selbstüberhöhung: Wir sollen immer noch besser, noch schneller, noch leistungsfähiger, noch schöner, noch reicher und noch erfolgreicher werden. Zufriedenheit stellt sich selten ein. Zahlreiche Methoden versprechen eine wundersame Veränderung des Lebens: mehr Selbstwert, mehr Selbstliebe, mehr Selbstbewusstsein in fünf Schritten. Das Selbst wird pepimpt, gepusht, frisiert. Selbstoptimierung ist ein großer Teil unseres Zeitgeistes. So wie wir gerade sind, ist es nicht gut genug. Dabei wäre es vielleicht besser, einmal auf die Bremse zu treten und genauer hinzusehen. Müssen wir uns laufend selbst optimieren? Fehlt dem Selbst tatsächlich der Glanz?
Wenn wir mal nicht am Selbst herumschrauben, damit es noch besser wird, dann ist es in Wirklichkeit manchmal ganz klein, ganz bedürftig und verloren: Eigentlich finden wir uns oft gar nicht wieder in all der Hektik, der Digitalisierung, in unserem hohen Lebenstempo. Das Selbst wird still, leise, schüchtern – es genügt einfach nicht, egal, was es tut. Aus dieser Überforderung entsteht dann das, was uns schwächt: Selbstverurteilung, Selbstabwertung, Selbstzweifel. Diese unangenehmen Zustände betäuben wir dann mit Alkohol, Drogen und noch mehr Arbeit.
Gerade sehr empathische Menschen, in der angloamerikanischen Literatur oft „Empaths“ genannt, die die Ansprüche anderer oder die der Gesellschaft besonders stark wahrnehmen, geraten dann in gefährliches Fahrwasser.
Das Selbst online
Die sozialen Medien tragen eine Menge zur Verwirrung des Selbst bei. Jeder möchte gut dastehen und tolle Botschaften verbreiten, während wir gleichzeitig in Selbstzweifeln ertrinken. Wir erschaffen ein virtuelles, künstliches Selbst: So möchten wir gern wahrgenommen werden. Dieser narzisstische Spiegel verzerrt unser Sein, und häufig wird die Kluft zwischen dem, wie wir uns fühlen, und dem Bild, das wir nach außen entwerfen, zu groß. Dann entstehen Ängste und Depressionen – wir werden dem nicht mehr gerecht, was wir selbst anzetteln.
Aus diesen unterschiedlichen Ängsten heraus werden wir auch unerbittlich gegenüber anderen Menschen. Unsicherheit macht hart, Egos prallen aufeinander, jeder meint dann, sich gegen den anderen verteidigen zu müssen, um noch besser dazustehen.
Ich male dieses Bild bewusst ein wenig düster, denn zu oft erlebe ich, wie schlecht Menschen sich selbst behandeln. Ich glaube, mit diesem Weg laufen wir in eine Sackgasse, aus der es keinen einfachen Ausweg gibt. Außer einem.
Innehalten und beobachten
Geht es auch anders? Fühlt sich das, was gerade von mir gefordert wird und was ich mit mir selbst anstelle, überhaupt richtig an? Wie geht es mir gerade überhaupt? Um mir diese Fragen zu beantworten, muss ich einmal innehalten und in mich hineinhorchen. Wenn ich innehalte, kann ich für einen Moment verhindern, dass mich die Dinge überrollen und ich an mir selbst vorbeilebe. Das ist der erste wichtige Schritt in ein selbstempathisches Leben und damit zu mehr Lebensfreude, Gelassenheit und tatsächlich auch zu mehr Erfolg.
Empathie und Selbstempathie
Wir sprechen heutzutage zum Glück viel über Empathie – sie ist salonfähig geworden. Es steigt das Bewusstsein, dass wir besser miteinander leben, wenn wir empathisch sind.
Nur kurz zur Klärung: Was ist Empathie eigentlich? Tatsächlich gibt es hier eine ganze Menge sehr unterschiedlicher Definitionen, je nachdem, wo man danach sucht: in der Psychologie, in der Kommunikationspsychologie, in der Philosophie, in der Pädagogik und so weiter. Empathie ist ein zwar sehr populäres, aber nicht ganz klar definiertes Wort. Aber dafür eins mit extremer Kraft.
Klar muss zunächst mal sein, was Empathie nicht ist:
Alles für den anderen tun. Diese Definitionen wären das Ergebnis einer einfachen Gleichung: Empathie minus Selbstempathie.
Empathie wird gemeinhin so definiert: die Gefühle und Bedürfnisse eines anderen erkennen, verstehen und angemessen handeln.
Allerdings: Nur wenn wir diesen Maßstab zuerst auf uns selbst anwenden, können wir wahrhaftig empathisch handeln, denn sonst ist Empathie schier sinnlos: Selbstaufgabe, empathischer Stress, emotionale Ansteckung – all das kann uns passieren, wenn wir die Gefühle anderer aufsaugen wie ein Schwamm, uns selbst aber komplett übergehen. Im schlimmsten Fall biegen wir uns dann ins Leben eines anderen Menschen hinein und geben uns und unsere Wünsche dabei auf.
Was bedeutet das?
1. Selbstempathie ist ein unersetzlicher Teil der Empathie.
2. Selbstempathie ist wie ein Filter, der prüft, was ich für andere geben und leisten kann.
3. Selbstempathie stellt sicher, dass ich mein Leben lebe, auch wenn es anderen vielleicht schlecht geht.
4. Selbstempathie schaut zuerst nach innen und fängt uns da auf, wo wir uns schlecht fühlen, wo wir Hilfe und Unterstützung brauchen.
5. Selbstempathie gibt mir langfristig die Kraft, die ich dafür benötige, für andere da zu sein.
Eigene Gefühle erkennen, verstehen und angemessen handeln – das ist Selbstempathie. Sehr empathische Menschen nehmen sich allerdings oft selbst extrem zurück, weil sie die Gefühle anderer so gut nachempfinden können. Sie bringen für jedes noch so abwertende Verhalten Verständnis auf. Was daraus wachsen kann, erahnst du sicher oder du hast es bereits erlebt: ungesunde, toxische, einseitige Beziehungen, in denen die eine Seite stets mehr gib...