Zeitbewusstheit
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Zeitbewusstheit

Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten

  1. 256 Seiten
  2. German
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Zeitbewusstheit

Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten

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Den Zeitraum von neun Tagen, den ein Tropfen Wasser durchschnittlich in der Atmosphäre verbleibt, können wir leicht nachvollziehen. Aber die Hunderte von Jahren, die sich ein Molekül Kohlendioxid, das den Klimawandel antreibt, darin erhält, überschreiten die Grenzen unserer Vorstellung. Doch gerade die Prozesse, die weit vor uns lagen, prägen unsere Gegenwart, und unser heutiges Verhalten wird noch über Generationen hinweg gravierende Folgen für den Zustand der Erde haben. In Zeitbewusstheit zeigt Marcia Bjornerud eindrucksvoll, wie die Geologie als Biografin unseres Heimatplaneten anhand der Messungen von Erosion und Gebirgsbildung, aber auch von Ozean- und Atmosphärenveränderungen ein Verständnis für die Tiefenzeit und den Rhythmus der Erde bereithält, das wir in unserer Epoche der Beschleunigung dringend brauchen, wenn wir Lösungen für die drohende Umweltkatastrophe finden wollen. Die Lebensdauer der Erde mag im Vergleich zu der eines Menschen ewig erscheinen, doch zur Sicherung des Überlebens beider bleibt uns in Wirklichkeit nur wenig Zeit.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783751803274
Auflage
2
Thema
History

KAPITEL 1

MEHR ZEITBEWUSSTHEIT!

Omnia mutantur, nihil interit
(Alles wandelt sich, nichts geht unter)
.
– Ovid, Metamorphosen, AD 8

EINE KURZE GESCHICHTE DER ZEITVERLEUGNUNG

Als Geologin und Professorin spreche und schreibe ich ziemlich unbekümmert über Epochen und Äonen. Einer der Kurse, die ich regelmäßig unterrichte, trägt den Titel »Geschichte der Erde und des Lebens«, ein Überblick über die 4,5 Milliarden umfassende Saga des gesamten Planeten, abgehandelt in einem zehnwöchigen Trimester. Als Mensch jedoch, oder als Tochter, Mutter und Witwe, habe ich wie jeder andere auch damit zu kämpfen, der Zeit aufrichtig ins Gesicht zu blicken. Dies hat zuzeiten durchaus etwas Scheinheiliges.
Eine widerwillige Haltung gegenüber der Zeit trübt das individuelle und gesellschaftliche Denken. Die heute lächerlich erscheinende Millennium-Krise, die zur Jahrtausendwende die globalen Computersysteme und die Weltwirtschaft zu beschädigen drohte, war in den 1960ern und 70ern von Programmierern verursacht worden, die offensichtlich nicht davon ausgingen, dass das Jahr 2000 wirklich eintreten würde. In den letzten Jahren gelten kosmetische Eingriffe zunehmend als gesund, weil förderlich für das Selbstbewusstsein; in Wahrheit aber sind sie Ausdruck für die Angst und den Widerwillen, in der Zeit leben zu müssen. In einer Kultur, die die Zeit als einen Feind behandelt und alles dafür tut, ihr Verstreichen zu leugnen, wird unsere naturgegebene Abscheu vor dem Tod noch verstärkt. Wie Woody Allen sagte: »Die Amerikaner glauben, der Tod sei optional.«
Diese Art der Zeitverleugnung, verwurzelt in einer sehr menschlichen Kombination aus Eitelkeit und Existenzangst, ist wohl die verbreitetste und auch am ehesten entschuldbare Form einer, wie man es nennen könnte, Chronophobie. Es gibt aber auch andere, schädlichere Varianten, die mit dieser eher gutartigen Phobie zusammenwirken und in unserer Gesellschaft zu einem um sich greifenden, hartnäckigen und gefährlichen zeitlichen Analphabetismus führen. Wenn ein Erwachsener mit Schulabschluss heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, nicht in der Lage ist, auf einer Weltkarte die Kontinente zu bezeichnen, zeigen wir uns schockiert, sind gleichzeitig aber ziemlich schmerzfrei, was die Unkenntnis selbst der gängigsten Höhepunkte in der langen Geschichte des Planeten anbelangt (mhm, Beringstraße … Dinosaurier … Pangaea?). Die meisten Menschen, selbst in wohlhabenden und technisch fortgeschrittenen Ländern, haben kein Gefühl für zeitliche Proportionen, für die Dauer der großen Kapitel der Erdgeschichte, die Veränderungsraten in früheren Phasen geringer Umweltstabilität, für die intrinsischen Zeitskalen »natürlichen Kapitals« – etwa die Verweilzeit in Grundwassersystemen. Als Art pflegen wir ein kindliches Desinteresse für die Zeit vor unserem Erscheinen auf der Welt, zum Teil wollen wir sie nicht einmal wahrhaben. Die meisten Menschen haben keine Lust auf Geschichten ohne menschliche Protagonisten und einfach kein Interesse daran, sich mit Naturgeschichte zu befassen. Wir sind also zugleich überheblich und sozusagen zeitenthoben, sprich zeitliche Analphabeten. Wie unerfahrene, aber sich selbst überschätzende Autofahrer brettern wir durch Landschaften und Ökosysteme, ohne auch nur eine Vorstellung von den seit Langem bestehenden Verkehrsregeln zu besitzen, und reagieren dann völlig überrascht, wenn wir für die Missachtung der Naturgesetze bestraft werden. Die Ignoranz der Erdgeschichte gegenüber spottet allen Ansprüchen, die wir gemeinhin an die Moderne stellen. Unbekümmert steuern wir auf unsere Zukunft zu und verlassen uns dabei auf Zeitvorstellungen, die so primitiv sind wie eine Weltkarte aus dem vierzehnten Jahrhundert, wo an den Rändern einer flachen Erde Drachen lauern. Die Drachen der Zeitverleugnung liegen noch in erstaunlich vielen Lebensgebieten auf Lauer.
Unter den zahlreichen Feinden der Zeit spuckt der Junge-Erde-Kreationismus zwar das meiste Feuer, ist aber in seiner Gegnerschaft zumindest berechenbar. In den langen Jahren, die ich an Universitäten lehre, bin ich Studentinnen und Studenten mit christlich-evangelikalem Hintergrund begegnet, die ernsthaft versuchten, ihren Glauben mit einem wissenschaftlichen Blick auf die Erde zu versöhnen. Ich empfinde wirklich Mitgefühl für ihre Not und versuche Wege aus dieser inneren Dissonanz aufzuzeigen. Zunächst betone ich, dass ich mit meinem Beruf keineswegs ihren persönlichen Glauben diskreditieren möchte, sondern die Logik der Erdwissenschaften (die Geologik?) lehre, nämlich die Methoden und Instrumente einer Disziplin, die uns nicht nur befähigt, die Erde in ihrem gegenwärtigen Funktionieren zu verstehen, sondern auch ihre komplizierte und ehrfurchtgebietende Geschichte in allen Einzelheiten zu dokumentieren. Manche Studenten scheinen sich damit zufriedenzugeben, Wissenschaft und Glauben durch diesen methodologischen Schachzug auseinanderzuhalten. Häufig ist es aber so, dass sie, sobald sie lernen, die Landschaft und die Gesteine zu lesen, diese beiden Weltsichten zunehmend weniger miteinander vereinbaren können. In diesem Fall greife ich auf ein Argument zurück, das Descartes in seinen Meditationen anführt, wenn er darüber nachdenkt, ob seine Seinserfahrung wahrhaftig oder nur eine Illusion ist, die ihm von einem bösen Dämon oder Gott vorgegaukelt wird.1
In einem Einführungskurs zur Geologie wird man schon bald erkennen, dass Steine nicht Substantive, sondern Verben sind – sichtbare Belege für Prozesse: ein Vulkanausbruch, das Wachstum eines Korallenriffs, die Hebung einer Bergkette. Wohin man auch blickt, Steine sind die Zeugen von Ereignissen, die sich über lange Zeitspannen hinweg zugetragen haben. Mehr als zwei Jahrhunderte lang wurden die örtlichen Geschichten, die Gesteinsformationen in allen Teilen der Welt zu erzählen hatten, Stück für Stück zu einem großen globalen Wandteppich, der geologischen Zeitskala, zusammengenäht. Diese »Karte« der Tiefenzeit, von Stratigrafen, Paläontologinnen, Geochemikern und Geochronologinnen verschiedener Kulturen und Glaubensrichtungen unter großen Mühen erstellt, repräsentiert eine der großartigen intellektuellen Leistungen der Menschheit. An ihr wird fortlaufend gearbeitet, ständig kommen neue Details hinzu, und die zeitlichen Kalibrierungen werden mit jedem Tag genauer. In mehr als zwei Jahrhunderten hat noch niemand ein anachronistisches Gestein oder Fossil gefunden – kein, wie J. B. S. Haldane sagte, »präkambrisches Kaninchen«2 –, das von einer inneren Inkonsistenz in der Logik der Zeitskala zeugen würde.
Wenn man die methodische Arbeit unzähliger Geologen aus aller Welt (viele davon im Dienst von Ölfirmen) für glaubwürdig hält und an Gott als Schöpfer glaubt, dann hat man die Wahl, entweder die Idee von einer uralten und komplexen Erde zu akzeptieren, deren epische Geschichten vor Äonen von einem wohlwollenden Schöpfer in Gang gesetzt wurden, oder der Vorstellung von einer jungen Erde nachzuhängen, die erst vor ein paar tausend Jahren von einem arglistigen und betrügerischen Schöpfer fabriziert wurde, der, unsere Forschungen und Laboranalysen vorwegnehmend, in jeder Ecke und Spalte Beweise unterbrachte – von Fossillagerstätten bis hin zu Zirkonkristallen –, die für einen uralten Planeten sprechen. Was davon ist häretischer? Daraus folgend könnte man, wenn auch taktvoll und vorsichtig, argumentieren, dass die Schöpfungsgeschichte, verglichen mit der tiefen, reichen, großartigen geologischen Erzählung der Erde, eine beleidigende Verdummung, eine unzulässige Vereinfachung darstellt, die in ihrer Übertreibung einer Geringschätzung der Schöpfung gleichkommt.
Menschen, die mit theologischen Fragen ringen, haben meine ganze Sympathie, keine Toleranz hingegen bringe ich auf für Individuen, die, von (verdächtig gut finanzierten) religiösen Organisationen protegiert, absichtlich hirnvernebelnde Pseudowissenschaft verbreiten. Scheußlichkeiten wie das Creation Museum in Kentucky bringen meine Kollegen und mich zur Verzweiflung, aber auch die entmutigende Häufigkeit, mit der Webseiten der Junge-Erde-Kreationisten auftauchen, sobald Studentinnen und Studenten nach Informationen etwa über radiometrische Datierung suchen. Die ganze Taktik und die weitreichenden Tentakel der »Creation Science«-Industrie erschlossen sich mir allerdings erst, als mich ein einstiger Student darauf aufmerksam machte, dass einer meiner eigenen Artikel, veröffentlicht in einem Journal, das nur von wirklich abgedrehten Geophysikerinnen und -physikern gelesen wird, auf der Webseite des Institute for Creation Research zitiert worden war. Die Zitierhäufigkeit ist ein Maßstab, mit dem die wissenschaftliche Welt ihre aktiven Mitglieder einstuft, und die meisten Wissenschaftler haben sich P. T. Barnums Ansicht zu eigen gemacht, dass es »so etwas wie schlechte Öffentlichkeit« nicht gibt, will sagen, je mehr Zitierungen, desto besser, selbst wenn die eigenen Ideen widerlegt oder angefochten werden. Doch an dieser Stelle zitiert zu werden kam einer Social-Media-Propaganda durch einen besonders verächtlichen Troll gleich.
Der Artikel hatte ungewöhnliche metamorphe Gesteine aus den norwegischen Kaledoniden zum Thema, deren hochverdichtete Mineralstruktur darauf hinweist, dass sie sich zur Zeit der Gebirgsbildung mindestens fünfzig Kilometer tief in der Erdkruste befunden haben müssen. Seltsamerweise treten diese Gesteine in Linsen und Hülsen auf, durchschossen von Gesteinsmassen, die die Transformation zu den kompakteren Mineralstrukturen nicht mitgemacht hatten. Mit meinen Forschungskollegen konnte ich aufzeigen, dass sich die unübliche Metamorphose einer extremen Trockenheit des Ausgangsgesteins verdankt, die einen neuerlichen Kristallisationsprozess verhinderte. Wir folgerten, dass das Gestein mit seinen wenig verdichteten Mineralien offensichtlich einige Zeit tief in der Erdkruste verblieben war, bis sich durch ein oder mehrere starke Erdbeben Risse im Gestein bildeten. Dort eindringende Flüssigkeiten führten dazu, dass lokal lang unterdrückte metamorphe Reaktionen angestoßen wurden. Ausgehend von theoretischen Nebenbedingungen argumentierten wir, dass die punktuelle Metamorphose in diesem Fall nicht wie in anderen tektonischen Szenarien üblich in hunderttausenden oder Millionen Jahren, sondern in tausenden oder zehntausenden Jahren stattgefunden haben könnte. Auf diese »Anzeichen für eine rasche Metamorphose« stürzte sich ein Mitarbeiter des Institute for Creation Research und ignorierte, die Stelle zitierend, völlig, dass das Gestein bekanntermaßen etwa eine Milliarde Jahre alt ist und dass sich die Kaledoniden vor ungefähr 400 Millionen Jahren gebildet haben. Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die genug Zeit, Bildung und Motivation besitzen, das immense Feld der wissenschaftlichen Literatur nach solchen Belegstellen zu durchkämmen, und dass es vermutlich Institutionen gibt, die sie dafür bezahlen, machte mich sprachlos. Ganz offenbar geht es hier um sehr viel.
Bei denen, die die Öffentlichkeit bewusst mit falschen naturgeschichtlichen Darstellungen in die Irre führen und zur Verbreitung von Doktrinen, die ihrem eigenen Geldbeutel oder ihrer politischen Agenda zugutekommen, mit mächtigen religiösen Gruppierungen konspirieren, gelangt meine aus dem Mittleren Westen stammende Freundlichkeit an ihre Grenzen. Am liebsten würde ich ihnen zurufen: »Keine fossilen Brennstoffe für euch (kein Plastik sozusagen). Auf das ganze Erdöl sind wir nur dank eines genauen Verständnisses der Sedimentgeschichte und der geologischen Zeit gestoßen. Und auch keine moderne Medizin für euch, denn die meisten pharmazeutischen, therapeutischen und chirurgischen Fortschritte sind unter anderem Tests an Mäusen geschuldet, was nur aufgrund der Einsicht in ein evolutionäres Verwandtschaftsverhältnis Sinn ergibt. Ihr könnt ja, was die Geschichte des Planeten angeht, an jedem Mythos festhalten, der euch gefällt, aber dann solltet ihr auch mit den Technologien leben, die sich aus eurer Weltsicht ergeben. Und hört bitte damit auf, die nächste Generation mit eurem rückwärtsgewandten Denken zu verblöden.« (Wow! Jetzt fühle ich mich besser.)
Bestimmte religiöse Sekten hängen einer symmetrischen Form der Zeitverleugnung an und glauben nicht nur an eine gestutzte geologische Vergangenheit, sondern auch an eine verkürzte Zukunft, in der die Apokalypse bevorsteht. Die fixe Idee vom Ende der Welt mag als eine harmlose Wahnvorstellung abgetan werden – der einsame, in ein lockeres Gewand gehüllte Mann mit einem warnenden Transparent in der Hand ist eine einschlägige Karikatur –, und wir haben alle möglichen Weltuntergangs-Prophezeiungen unbeschadet überstanden. Wenn aber genügend viele Wähler an diese »Entrückungen« glauben, hat dies ernsthafte politische Konsequenzen. Die, die glauben, dass die letzten Tage der Menschheit bevorstehen, müssen sich keine Gedanken mehr über Klimawandel, schwindendes Grundwasser oder eine schrumpfende Artenvielfalt machen.3 Wenn es keine Zukunft mehr gibt, ist jede Form der Erhaltung paradoxerweise eine Verschwendung.
So ärgerlich professionelle Junge-Erde-Anhänger, Kreationistinnen und Apokalyptiker auch sein können, sie bekunden ihre Chronophobie immerhin völlig offen. Durchdringender und zersetzender sind da schon die beinahe unsichtbaren Formen der Zeitverleugnung, wie sie in die Infrastruktur unserer Gesellschaft selbst eingebaut sind. Zum Beispiel in der Logik einer Ökonomie, in der die Arbeitsproduktivität ständig wachsen muss, um höhere Löhne zu rechtfertigen, und Berufe, die mit zeitaufwendigen Aufgaben wie Erziehung, Pflege oder künstlerischen Inszenierungen betraut sind, ein Problem darstellen, weil sie kaum effizienter gemacht werden können. Ein Haydn-Streichquartett dauert im einundzwanzigsten Jahrhundert ebenso lang, wie es im achtzehnten Jahrhundert gedauert hat; hier wurde kein Fortschritt erzielt! Manchmal wird dieses Phänomen nach dem Ökonomen, der das Dilemma als Erster beschrieben hat, als »Baumol’sche Kostenkrankheit« bezeichnet.4 Dass das Ganze für pathologisch gehalten wird, sagt übrigens viel über unsere Haltung gegenüber der Zeit aus und über den geringen Wert, den wir im Westen Prozessen, Entwicklung und Reifung beimessen.
Geschäftsjahre und Wahlperioden erzwingen eine Scheuklappensicht auf die Zukunft. Kurzfristig Denkende werden mit Boni und Wiederwahl belohnt, während diejenigen, die es wagen, unsere Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen ernst zu nehmen, häufig unterliegen, überstimmt oder aus dem Amt gewählt werden. Nur wenige öffentliche Organe sind imstande, über die Zweijahreshaushalte hinaus Planungen vorzunehmen. Und in einer Zeit wie heute, in der Notlösungen zum Normalfall geworden sind, scheinen sogar zwei Jahre Vorausdenken die Möglichkeiten des Kongresses und der bundesstaatlichen Gesetzgebung zu überschreiten. Einrichtungen, deren Ziele auf lange Sicht angelegt sind – Nationalparks, öffentliche Bibliotheken und Universitäten –, werden zunehmend als Last für die Steuerzahlerin (oder als ungenutzte Chancen für Firmensponsoring) angesehen.
Der Erhalt natürlicher Ressourcen – Böden, Wälder, Wasser – für die Zukunft der Nation wurde einst als patriotische Angelegenheit, als Beweis für Heimatliebe betrachtet. Heute jedoch ist das Bild des guten Staatsbürgers auf seltsame Weise mit Konsum und Monetarisierung verquickt (ein Konzept, das inzwischen auch für Unternehmen gilt). Das Wort Konsument ist mehr oder weniger zum Synonym für Bürger geworden, was offenbar niemanden wirklich beunruhigt. »Bürger«, das bedeutet eigentlich Engagement, einen Beitrag leisten, Geben und Nehmen. »Konsument« bedeutet nur Nehmen, als ob unsere Rolle einzig darin bestünde, wie Heuschrecken, die sich auf einem Kornfeld niederlassen, alles, was wir unter die Finger bekommen, zu verschlingen. Wir mögen über apokalyptisches Denken spötteln, aber die bei Weitem verbreitetere Idee – ja, das ökonomische Credo –, dass die Konsumrate kontinuierlich wachsen kann und sollte, ist mindestens ebenso verblendet. Und während die Notwendigkeit für eine langfristige Sicht der Dinge immer deutlicher wird, schrumpft, da wir in einem hermetischen, narzisstischen Jetzt tweeten und chatten, unsere Aufmerksamkeitsspanne immer weiter.
Auch die akademische Welt trägt, indem sie bestimmte Forschungstypen bevorzugt und damit auf die Öffentlichkeit subtil Druck ausübt, Verantwortung in punkto Zeitverleugnung. Physik und Chemie nehmen aufgrund ihrer quantitativen Genauigkeit die höchsten Ränge in der Hierarchie intellektueller Wissensbestrebungen ein. Eine derartige Genauigkeit bei der Beschreibung der Arbeitsweise der Natur ist jedoch nur unter Bedingungen möglich, die, da sie abgelöst von einer bestimmten Geschichte, einem bestimmten Zeitpunkt erscheinen, stark kontrolliert und völlig unnatürlich sind. Dass sie als »reine« Wissenschaft firmieren, sagt viel aus; sie sind rein, insofern sie zutiefst zeitenthoben sind – unbefleckt von der Zeit und nur darauf aus, universelle Wahrheiten und ewige Gesetze zu ergründen.5 Wie Platons Ideen oder Urbilder werden diese unsterblichen Gesetze oft für wirklicher gehalten als ihre spezifischen Manifestationen (etwa die Erde). Die Biologie und die Geologie hingegen nehmen auf der Stufenleiter der Gelehrsamkeit niedrigere Ränge ein, sind sie doch, da sie von Zeit regelrecht durchdrungen sind und ihnen der aufregende Beiklang der Gewissheit fehlt, äußerst »unrein«. Die Gesetze der Physik und der Chemie gelten auch für Lebensformen und Gesteine und darüber hinaus ist es möglich, aus der Funktionsweise biologischer und geologischer Systeme ein paar allgemeine Prinzipien abzuleiten, doch im Kern dieser Wissenschaften geht es um die idiosynkratische Fülle von Organismen, Mineralien und Landschaften, die im Laufe der langen Geschichte dieses besonderen Winkels des Weltalls entstanden sind.
Als Disziplin hat die Biologie aufgrund ihres molekularen, von Laboratmosphäre und weiß bekittelten Wissenschaftlern gekennzeichneten ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. INHALT
  4. Prolog: Vom Reiz der Zeitlosigkeit
  5. 1 Mehr Zeitbewusstheit!
  6. 2 Ein Atlas der Zeit
  7. 3 Das Tempo der Erde
  8. 4 Es liegt was in der Luft
  9. 5 Große Beschleunigungen
  10. 6 Zeitbewusstheit, utopisch und wissenschaftlich
  11. Epilog
  12. Anhang
  13. I Vereinfachte geologische Zeitskala
  14. II Dauer und Raten der Erdphänomene
  15. III Umweltkrisen der Erdgeschichte: Ursachen und Folgen
  16. Anmerkungen
  17. Register
  18. DANKSAGUNGEN
  19. Impressum