Fleisch
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Weshalb es die Gesellschaft spaltet

  1. 216 Seiten
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Weshalb es die Gesellschaft spaltet

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Noch nie haben wir so viel Fleisch produziert und konsumiert wie heute. Mit der industriellen Massenproduktion häuften sich Lebensmittelskandale, ökologische Probleme, Gesundheitsschäden und führten zu einer tief gespaltenen Gesellschaft. Fleisch: Kein Nahrungsmittel polarisiert stärker.Dabei hat die Frage, wer wann wie viel Fleisch essen darf, schon immer die Gemüter erregt. Von den Jägern und Sammlern über die ersten Agrargesellschaften zur agrarischen und zur industriellen Revolution bis hin zum Fleischboom der Nachkriegszeit: Die Geschichte des menschlichen Fleischkonsums ist eine Geschichte der Macht, der Tabus, des Glaubens und der Gebote – und zugleich ein entscheidender Faktor in der Entwicklung unserer Zivilisation. Überraschend und erhellend zeigt Ilja Steffelbauer, wie die einstige Mangelware Fleisch den Homo Sapiens mitsamt seinen Kulturen, Religionen, Moralvorstellungen geprägt hat. Und warum die Frage, ob man ein Schnitzel essen darf oder nicht, an den wahren Problemen der Überflussgesellschaft vorbeigeht.

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Information

Bauern und Viehzüchter

Von agrarischen Systemen und Nahrungsmittelregimen
Im Mostviertel – der Grenzregion zwischen Nieder- und Oberösterreich, in der der Autor in den 1970ern geboren wurde – war die vorherige Generation mit einer Diät aus gekochten Kartoffeln mit Butter und Salz, Milch und Speck aufgewachsen, die sie als kulinarische Tradition, ohne viel darüber nachzudenken, an die nächsten Generationen weitergab, wie das mit Traditionen eben so ist.
Aus historischen Studien wissen wir, dass die Kombination aus Kartoffeln, Milchprodukten und etwas fettem Schwein einen sicher vor dem Verhungern bewahrt und insgesamt eine durchaus hinreichende Ernährung darstellt, wenn man gelegentlich etwas Obst und Gemüse im Speiseplan unterbringt. Im 19. Jahrhundert hatten die entrechteten und im eigenen Land zu Pächtern und Landarbeitern gemachten katholischen Iren das englische Joch auf Basis einer solchen Diät auch recht gut überstanden. Sie haben sich sogar so sehr vermehrt, dass sie wenig später die gesamte New Yorker Polizei und mehrere Regimenter im amerikanischen Bürgerkrieg stellen konnten, nachdem so viele von ihnen durch das landwirtschaftliche Missmanagement derselben Engländer gezwungen worden waren, nach Amerika auszuwandern.
Kartoffeln, Milchprodukte und etwas geräucherter Schweinespeck sind ein sogenanntes Nahrungsmittelregime. Dieser Begriff umfasst nicht nur die Lebensmittel selbst, sondern auch das ursächlich mit der Ernährungsweise verbundene agrarische System sowie die spezifische Einschränkung des Nahrungsmittelangebots durch die gesellschaftliche Stellung des so Ernährten. In diesem Falle ist das agrarische System postkolumbisch (schließlich enthält es Kartoffeln) und es erfordert die Haltung von Milchkühen und Schweinen. Wenn wir die Essgewohnheiten unserer Vorfahren während des agrari -schen Zeitalters verstehen wollen, ist es essenziell, den Zusammenhang zwischen Ernährung, der dahinterstehenden Ökonomie und der jeweiligen ökologischen und sozialen Umwelt der so Ernährten zu analysieren.
Die natürliche Umwelt – Böden, Klima, Vegetationsperioden – bestimmt, welche Kulturpflanzen und Nutztiere in einer bestimmten Region mehr oder weniger gut gedeihen und wie sich diese effektiv kombinieren lassen, um aus dem verfügbaren Land einen stabilen, nachhaltigen und ausreichend krisensicheren Ertrag zu generieren, damit die Bevölkerung auf lange Sicht überleben oder sogar gedeihen kann. Die vielfältige soziale Umwelt – Grundbesitz, Erbregelungen, das Besteuerungssystem, Marktzugang, Haushaltsgröße, Siedlungsweise, Jagdgesetze – bestimmt, welche Kombination aus den potenziell geeigneten Kulturpflanzen und Nutztieren sowie anderen Nahrungsquellen für bestimmte Bevölkerungsgruppen zugänglich sind. So ergeben sich verschiedene agrarische Subsysteme: von der Ziege, den paar Hühnern und dem Gemüsegarten des Häuslers über die Getreide- und Kartoffelfelder und die Kuhweide des Bauern bis zu den Weingärten, der Pferde- und Stallrinderhaltung und der Waldwirtschaft des Großgrundbesitzers. Gemeinsam bilden sie, verbunden durch Märkte und andere Austauschbeziehungen, das agrarische Gesamtsystem einer Gesellschaft.
Die agrarischen Systeme unterschiedlicher Regionen stehen dann oft über Handelsbeziehungen im Austausch miteinander. Bereits 1817 begründete David Ricardo in seinem klassischen Werk Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung sein Eintreten für den Freihandel damit, dass die unterschiedlichen klimatischen Bedingungen Länder für unterschiedliche agrarische Produkte prädestinieren – Portugal für Wein, England für Schafwolle – und es daher zum Vorteil aller sei, wenn diese Länder ihre gottgegebenen Güter frei austauschen können. Das nannte er komparativen Kostenvorteil, und der klingt an sich wie eine gute Idee, wenn man dabei dezent verschweigt, dass die Terms of Trade natürlich durch den diktiert werden, dessen Royal Navy alle Seehandelsrouten der Welt kontrolliert. Was also schlussendlich durch Eigenproduktion und Handel an Nahrungsmitteln verfügbar ist, kommt – abhängig wiederum von der gesellschaftlichen Stellung derer, die an ihm Platz nehmen – als Nahrung auf den Tisch. Das, was über einen längeren Zeitraum auf den Tisch kommt, abhängig von Jahreszeit, Marktzugang und diversen kulturellen Traditionen, ist das Nahrungsmittelregime.
Auf den Tisch der Familie des Autors kam auch in den 70erund 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts regelmäßig eine Kombination von Nahrungsmitteln, welche in seiner Kindheit und für die besagten Iren während des gesamten 19. Jahrhunderts die Basis des Nahrungsmittelregimes gewesen ist. Das hieß bei uns einfach nur „Heiße Erdäpfel“ und findet sich so sicher in keinem Kochbuch. Oft greift man zur historischen Rekonstruktion von Nahrungsmittelregimen auf Kochbücher zurück. Diese waren aber durchwegs für die bürgerliche und Oberschicht verfasst, geben also nicht wieder, wie sich die Mehrheit der Bevölkerung ernährte.
Die historisch sicher auch nicht dokumentierten „Heißen Erdäpfel“ wurden in der Schale gekocht. Dazu gab es ein etwa nussgroßes Stück Butter, etwas Salz und einen Streifen Speck, der damals definitiv mehr aus Fett als aus Fleisch bestand und der, weil sonst schwer zu kauen, ganz fein aufgeschnitten wurde. Das traditionelle Getränk zu alldem war Buttermilch oder Sauermilch. Je nach Jahreszeit und Verfügbarkeit wurde mit Paprika, Rettich, Zwiebel oder Knoblauch ergänzt und manchmal wurde Topfen (Quark) mit Schnittlauch oder anderen Kräutern dazu gereicht.
Die Mengenverhältnisse erweisen sich in der Rückschau als geradezu exemplarisch für ein bäuerliches Essen im agrarischen Zeitalter. Auf vier bis fünf Kartoffeln (und damit nahe an den 70 Prozent der so verzehrten Kalorien) kam noch etwas Fett in Gestalt der Butter und des Specks; das heißt, es gab gerade so viel Fleisch, wie der Fleischanteil im Speckstreifen war, und die tierischen Fette und Proteine wurden hauptsächlich durch die Milch in einer ihrer haltbareren Formen (Sauermilch) oder als Nebenprodukt der Butterherstellung (Buttermilch) gedeckt. Salz als essenzielles Lebensmittel war ebenfalls sparsam, aber ausreichend vorhanden. Gemüse wurde vor allem in Form lagerbarer Sorten – Zwiebel und Knoblauch – genossen, das Frischgemüse stammte aus dem heimischen Garten.
Verfolgen wir ausgehend von diesem Gericht dieses Nahrungsmittelregime zu seinen Wurzeln zurück. Kartoffeln waren auf dem Land im Österreich der Zwischen- und Nachkriegsjahre die billigste Kohlehydratquelle. Ihre Bedeutung kann man daran ermessen, dass in den Kellern ein eigener Raum mit einem Sandboden versehen war, in dem man sie zur Lagerung über den Winter in großer Menge eingraben konnte.
Kartoffeln waren immer schon die Freunde der Armen gewesen. Die Bauern Schlesiens und der Mark Brandenburg überlebten den Siebenjährigen Krieg angeblich hauptsächlich deswegen, weil die im Boden verborgenen Kartoffeln zum einen nicht wie reife Getreidefelder vom Feind (oder den eigenen Leuten, um besagten Feind die Nahrungsgrundlage zu entziehen) einfach abgebrannt werden konnten, und weil sie auch von plündernden Soldaten, anders als Kornspeicher, in ihren „Bodenverstecken“ leicht übersehen wurden. Schon die Bauern des Rheinlandes hatten die Knolle deswegen zu schätzen gelernt, nachdem die durchziehenden spanischen Truppen, die sie aus Amerika mitgebracht hatten, sie auf dem Weg in den langen Unabhängigkeitskrieg der Niederlande dort zuerst hingebracht hatten. Die andine Knollenfrucht hat außerdem den Vorteil, dass sie, anders als Getreide, keine großen Felder und schweres Gerät wie Pflug und Pferd braucht, um effektiv kultiviert werden zu können. Kartoffeln kann man auch im Garten, oder wie ambitionierte Balkongärtner regelmäßig vorführen, in einem Kübel heranzüchten. Alles was man braucht, ist eine Hacke und gute Bandscheiben. Kartoffeln konnten also auch von den Ärmsten hinter dem Haus kultiviert werden, denn einen Gemüsegarten hatte auf dem Land jeder – und bis vor Kurzem lebte auch fast jeder auf dem Land.
Milch, vor allem die länger haltbaren und Nebenprodukte der Milchverarbeitung, war auf dem Land ebenfalls relativ leicht und kostengünstig verfügbar. Pasteurisierte Milch, Butter, Rahm und Käse wurden vor allem für städtische Abnehmer produziert, Nebenprodukte wie Buttermilch, Molke und die oft Zuhause hergestellte Sauermilch waren damit leicht verfügbar. Die Kuh war in erster Linie ein Milchtier, kein Fleischtier. Rindfleisch war daher auf dem Speiseplan selten und vorzugsweise gekocht. Das einzige Fleischtier, das in unserer Geschichte vorkommt, ist das Schwein. Lassen Sie uns daher mit ihm beginnen.

Schwein

Das Schwein wurde, wie die meisten Nutztiere des altweltlichen Agrarsystems, im Nahen Osten domestiziert. De facto war es jedoch mit der Verhaustierung des Schweines lange Zeit nicht weit her. Schweine wurden bis in die frühe Neuzeit nicht im Stall, sondern im Freien gehalten und oft zur Eichelmast in die Wälder getrieben, wo sie es bisweilen mit ihren wilden Verwandten trieben, weswegen sie auch noch lange Zeit recht haarig blieben und beeindruckende Hauer aufwiesen. Ein Eber war eine bedrohliche Erscheinung und hatte mit dem heute populären Bild vom rosa glänzenden Glücksferkel wenig gemeinsam.
Schweine sind unter den Nutztieren eher ungewöhnlich. Sie lassen sich nicht melken, produzieren auch keine Wolle, sind schlecht zu Fuß, bevorzugen Wälder und Feuchtgebiete statt Steppen und brauchen demnach viel Wasser. Sie fressen auch kein Gras, sondern sind Allesfresser, die ein Nahrungsspektrum bevorzugen, das dem des Menschen erstaunlich ähnlich ist, was miteinschließt, dass sie, wie das Filmpublikum seit Hannibal mit Anthony Hopkins als Dr. Lecter weiß, auch Fleisch nicht verschmähen.
Überspitzt gesagt hält sich der Mensch mit dem Schwein einen Nahrungskonkurrenten, was im ersten Moment nicht nach einer so wahnsinnig schlauen Idee klingt. Die Weisheit der Lebensgemeinschaft von Mensch und Schwein erweist sich aber am Sautrog. Das war in ländlichen Haushalten bis in die jüngste Vergangenheit ein Behälter, in dem alles gesammelt wurde, was an Nahrungsresten und Nebenprodukten der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelverarbeitung so anfiel. Man konnte so gut wie alles in den Sautrog werfen, da Schweine ein derart robustes Verdauungssystem haben, dass sie eigentlich alles verstoffwechseln können, was in ihr Maul passt: das harte oder schimmlige Brot, die Essensreste aus der Küche, die Kartoffelschalen, die sauer gewordene Milch, die ranzige Butter, die Reste von den Maiskolben, auf denen maximal noch ein paar Körner hingen, holzige Rüben, fauliges Fallobst – alles wanderte in den Sautrog. Nachdem der Inhalt noch einmal zur besseren Bekömmlichkeit aufgewärmt und durchgerührt worden war, verwandelten die grunzenden Mitbewohner den ungenießbaren Abfall langsam, aber sicher in Speck.
Die Sau produzierte mit etwas Unterstützung durch den Saubär auch noch regelmäßig einen ganzen Wurf kleiner Schnitzelmaschinen. In erfreulich kurzer Zeit wuchsen diese auf der Basis von Müll und für Menschen nicht essbaren Eicheln, Bucheckern, Wurzeln, Pilzen und was sie sonst noch aus dem Waldboden wühlten, so weit heran, dass man sie in diverse äußerst haltbare, fettreiche Nahrungsmittel wie Speck, Würste, Schinken und dergleichen umwandeln konnte. Das Schwein ist tatsächlich das einzige Nutztier, das allein seines Fleisches wegen gehalten wird. Es konnte diese Rolle als Hausgenosse des Menschen deswegen so erfolgreich ausfüllen, weil es eben so gut wie alles frisst, was auch der Mensch isst, aber nicht mehr essen mag, und noch einiges dazu.
In historischen Agrarsystemen waren Schweine auch deswegen besonders interessant, weil sie flexibel waren. Anders als Grasfresser sind sie nicht davon abhängig, dass Gras auf den Weiden steht, was für nicht nomadische Viehhalter oft einiges an Mühe und saisonalen Arbeitsspitzen mit sich bringt, wie wir später noch sehen werden. Da sie nahe dem Haus gehalten werden, hat man sie immer gut im Blick und ihre Versorgung ist ebenfalls berechenbar. Wird die Speisekammer leer, ist es Zeit für das Schwein zu sterben, weswegen Schweinschlachtungen traditionell im Herbst (nachdem man wusste, wie viel die Ernte für den Winter eingebracht hat) oder im Spätwinter (wenn klar wurde, wie viel noch übrig war) stattfanden.
Diese Termine liegen im liturgischen Kalender der katholischen Kirche erstaunlich treffsicher in den Wochen unmittelbar vor den 40-tägigen Fastenzeiten vor Weihnachten und Ostern. Wer das als Gottesbeweis gelten lassen will, dem sei das unbenommen, ansonsten ist es ein Hinweis, wie eng und sinnvoll in allen Agrargesellschaften der religiöse Festkalender an die Zyklen des bäuerlichen Jahreskreises gebunden war. Dafür noch ein Beispiel: Das Fest der Demeter von Eleusis, bei dem traditionell Jungschweine geopfert wurden, begann im klassischen Athen am 15. des Monats Boedromion, das heißt Anfang Oktober.
Die kalte Jahreszeit war überhaupt wegen der Haltbarkeit für Schlachtungen prädestiniert. Die Schlachtplatte besteht in deutschen Landen daher traditionell aus den Produkten des Schweins – etwa Blut- oder Leberwurst –, die man nicht lange aufbewahren konnte, und wird mit Sauerkraut und Kren (Meerrettich) serviert, beides hiesiges, lagerbares Wintergemüse mit hohem Vitamingehalt und daher sehr vorteilhafter Wirkung in der Schnupfenzeit.
Blutwurst – weil wir schon in Eleusis waren und es von dort zum Peloponnes nicht weit ist – war auch das Nationalgericht der antiken Spartaner. Deren Nachkommen in der Landschaft Lakonien sind bis heute in Griechenland für ihren „Lakonischen Schinken“ bekannt. Dieser ist eine Art Selch- oder Pökelfleisch vom Schwein. Schweinehaltung ist überhaupt das Markenzeichen der Landschaft um Sparta, was uns den Blick auf ein anderes, klug kombiniertes Agrarsystem und davon abhängiges Nahrungsmittelregime eröffnet: Lakonien und das angrenzende Messenien sind bekannt für ihre Speiseoliven. Der Ort Kalamata ist nach der Griechenlandurlaubsbegeisterung der 1970er-Jahre auch hierzulande zum Markennamen geworden. Olivenhaine bedecken daher einen nicht unbeträchtlichen Teil der lakonischen und messenischen Landschaft links und rechts des trennenden Taygetos-Gebirges. Solche Olivenhaine sind menschengemachte Versionen der Eichenwälder, welche man historisch hier auch finden konnte, in denen statt Eicheln Oliven von den Bäumen den Schweinen direkt vor den Rüssel fallen. Falloliven werden nicht verarbeitet und die Schweine lassen die Früchte am Baum in Ruhe. Nach der Olivenernte kann man die weniger schönen Speiseoliven an sie verfüttern und nach der Ölherstellung den Pressabfall. Oliven und Schweine ergänzen sich also vortrefflich und bildeten daher seit wohl 3.000 Jahren die Basis eines lokalen Agrarsystems und des darauf aufgesetzten Nahrungsmittelregimes, das die Spartiaten mit ihrer berüchtigten Blutsuppe versorgte.
Griechenlandreisende fühlen angeblich öfter den Hauch der Geschichte, meist angesichts von Tempeln und Ruinen. Auch der Autor fand sich an einem regnerischen Wintertag kurz nach der Jahrtausendwende in einem steinigen Olivenhain auf der Mani plötzlich Auge in Auge mit einem beeindruckenden, urtümlich borstigen Schwein wieder, das lakonisch auf dem Fallobst herumkaute. Wie seine historischen Vorgänger war es offensichtlich in erster Linie daraufhin gezüchtet, eine dicke Speckschicht zu entwickeln, für die auch andere jüngst wieder unter Gourmets beliebt gewordenen halbwild gehaltenen alten Rassen wie Patanegra oder Mangalitza bekannt sind. Wegen dieser Fettschicht ist Schweinefleisch ideal zur Herstellung von lagerbaren Fleischprodukten geeignet. Gepökelt, getrocknet oder geräuchert waren Speck, Lardo, Prosciutto, Pršut, Serrano-Schinken und ihre weniger dehydrierten Verwandten, die Kochschinken, für lange Zeit vor allem deswegen wichtig, weil sie es ermöglichten, Fett und Proteine aufzubewahren. Somit konnten spätere Hungerperioden überstanden werden, oder sie dienten einfach dazu, Fett und Fleisch als kulinarische Komponenten zur Verfügung zu haben, wenn gerade nicht geschlachtet werden konnte. Wer oben aufgepasst hat, weiß jetzt auch, warum wir Osterschinken essen … Na, wie lange liegt das vor der Fastenzeit geschlachtete Schwein wohl in der Pökellake?
Dem mageren Schweinefleisch, das die gesundheitlichen Folgen der Schnitzelorgien der Wirtschaftswunderzeit uns dann eingebrockt haben, hätten unsere Vorfahren wenig abgewinnen können. Die klassischen Rezepte für die Zubereitung der mageren Stücke vom Schwein – zum Beispiel Filet Wellington oder der Osterschinken im Brotteig – hüllen diese daher auch in Teig ein, damit sie nicht zu trocken werden, oder sie werden sicherheitshalber gleich wieder mit einem Speckmantel umgeben. Und wie alle Haustierarten wurde historisch das Schwein vom Rüssel bis zum Ringelschwanz vollständig verzehrt. Geselchter Sauschädel war in Österreich – nicht nur wegen seines glückver -heißenden Potenzials – ein traditionelles Essen zu Silvester und gekochte Schweinefüße erfreuen sich von Irland (Crurbeens) über den ganzen breiten Waldgürtel Eurasiens, wo Schweine bevorzugt gehalten wurden, bis nach Korea (Jokbal) großer Be -liebtheit. In Norwegen sind sie als Syltelabb das traditionelle Weihnachtsgericht. Das Leibgericht des Großen Vorsitzenden Mao, um die Beliebtheit des Schweins auf der anderen Seite des Kontinents noch etwas zu unterstreichen, soll Hong Shao Rou – geschmorter Schweinebauch – gewesen sein.
Was nach all diesen Zubereitungen vom Schwein noch übrig war, kam in die Wurst, eine weitere effektive Methode, neben der Schinken- und Speckherstellung, um Fleisch lagerfähig zu machen. Des Weiteren konnten auch die Borsten des Schweins verarbeitet werden. Aus ihnen wurden Bürsten, Pinsel und dergleichen hergestellt, oder sie gaben als Faserstoff dem Lehmputz auf den Wänden Stabilität. Das Schweineleder, welches bei der Schlachtung des Tiers normalerweise nicht unbedingt vom Fleisch getrennt wurde, musste in einem separaten Vorgang hergestellt werden und war daher teuer. Als besonders ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. INHALT
  4. Einleitung
  5. King Kong und der Killeraffe. Warum wir zu Fleischfressern wurden
  6. Nimrods Äon. Unsere Vorgeschichte als Sammler und Jäger
  7. Abels Herde. Von den Anfängen des Ackerbaus und der Domestizierung
  8. Kains Erbe. Was der Ackerbau mit uns machte
  9. Bauern und Viehzüchter. Von agrarischen Systemen und Nahrungsmittelregimen
  10. Fleischeszucht und Völlerei. Fleisch in Kultur und Gesellschaft
  11. Zeitalter der Schlachthöfe. Die Agrarrevolution und ihre Folgen
  12. Pièce de Résistance. Warum wir gerade so viel über Fleisch reden
  13. Literatur
  14. Impressum