←50 | 51→ Zweites Kapitel Arbeitszeitrechtliche Einordnung
Die ArbZRL determiniert den Arbeitszeitschutz, den das ArbZG und das BUrlG in nationales Recht umsetzen. Die Betrachtung mobiler Erreichbarkeit muss sich daher streng an den Vorgaben des Unionsrechts orientieren. Sofern das ArbZG bestimmte Flexibilisierungsmittel zur Verfügung stellt, lautet die erste Frage stets, ob sich diese im Rahmen des europarechtlich Zulässigen bewegen. Erst anschließend subsumiert dieses Kapitel daher die einzelnen Aspekte der mobilen Erreichbarkeit. Reformappelle mag man zwar an den nationalen Gesetzgeber richten, das Unionsrecht bindet ihm aber die Hände, sofern sie seine Grenzen überschreiten.
I. Rechtsquellen
1. EU-Grundrechtecharta und europäisches Primärrecht
Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta verschafft dem Arbeitnehmer ein Grundrecht57 auf tägliche, wöchentliche und jährliche Ruhezeiten.
Da die Europäische Union die Grundrechtecharta erst mit dem Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 anerkannt hat (Art. 6 Abs. 1 EUV), kommt es mitunter zu Widersprüchlichkeiten zwischen älteren Richtlinien und der EUGRC. Im Rahmen des persönlichen Anwendungsbereichs der ArbZRL wirft das einerseits die Frage auf, ob Art. 17 Abs. 1 ArbZRL gegen Art. 31 Abs. 2 EUGRC verstößt.58 Das ist dann der Fall, wenn jeder Arbeitszeitschutz fehlt.
Zusätzlich muss dem Problem nachgegangen werden, ob richtlinienwidriges nationales Recht gleichzeitig gegen Art. 31 Abs. 2 EUGRC verstößt. Zwar entfaltet Art. 31 Abs. 2 EUGRC keine unmittelbare Wirkung für Private.59 Wohl aber erkennt der EuGH seit der Rechtssache Kücükdeveci60 eine negative Wirkung der Grundrechte an. Darüber hinaus ist diese Entscheidung bemerkenswert, weil der EuGH feststellt, die Gleichbehandlungsrichtlinie konkretisiere ←51 | 52→den allgemeinen Grundsatz des Verbots der (Alters-) Diskriminierung.61 Damit rückt die Frage, inwieweit Richtlinien Grundrechtsnormen konkretisieren, in den Fokus. Der Rechtsfigur der „grundrechtskonkretisierenden Richtlinie“62 steht die Literatur sehr kritisch gegenüber, da eine Richtlinie nicht den Umfang eines Grundrechts bestimmen könne.63 Diese Ansicht verdient nur bedingt Zustimmung, denn jedenfalls der Mindestschutz des Art. 31 Abs. 2 EUGRC ist aus der Vorgängerrichtlinie64 der ArbZRL übernommen. Der Konvent verweist ausdrücklich auf diese Richtlinie,65 aus der die ArbZRL die Vorgaben zur täglichen und wöchentlichen Ruhezeit, wöchentlichen Höchstarbeitszeit und zum Jahresurlaub (Art. 3–7 RL 93/104/EG) wortgleich übertragen hat.66 Das nimmt dem Unionsgesetzgeber natürlich nicht die Möglichkeit, diese Vorgaben weiter auszugestalten, umfasst gleichwohl ein Rückschrittverbot.67 Anders lässt sich die Existenz des Art. 31 Abs. 2 EUGRC auch dogmatisch nicht begründen, denn hätte er keinen konkreten Bezug, wäre er angesichts der Formulierung des Abs. 1 („gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen“) nahezu redundant.68 Hinsichtlich der Anforderungen an tägliche und wöchentliche Ruhezeiten, wöchentliche Höchstarbeitszeiten und den Jahresurlaub dient die ArbZRL also als „sekundärrechtlicher Transmissionsriemen“. Bleibt das nationale Recht hinter diesen Mindeststandards zurück, verstößt es gleichzeitig gegen die EUGRC.
Art. 151 AEUV enthält die primärrechtliche Zielsetzung der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Art. 153 Abs. 1 lit. a AEUV schafft die für den Arbeitszeitschutz notwendige unionsrechtliche Kompetenz.69
←52 | 53→ 2. Nationales Verfassungsrecht
a) Recht auf Nichterreichbarkeit
Die Forderung eines Rechts auf Nichterreichbarkeit sorgt v.a. in der politischen Auseinandersetzung für erhebliche Kontroversen. Dessen Befürworter möchten dem Arbeitnehmer dadurch Zeiträume schaffen, innerhalb derer er ganz gewiss sein darf, von der Arbeitssphäre völlig unbehelligt zu sein.
In der rechtswissenschaftlichen Literatur herrscht Konsens, der Arbeitnehmer sei nicht per se zur Erreichbarkeit verpflichtet, vielmehr bestehe eine entsprechende Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB, keine überobligatorischen Leistungen zu verlangen.70
Dieses Recht auf Nichterreichbarkeit hat zwei verschiedene Dimensionen. Einerseits dient es als Überlastungsschutz der Gesundheit des Arbeitsnehmers. Andererseits schafft es Zeiträume, in denen der Arbeitnehmer seine Persönlichkeit – von seinem Vertragspartner unbehelligt – frei entfalten kann. Der Arbeitgeber hat auf diese Belange Rücksicht zu nehmen.
Quelle der Rücksichtnahmepflicht sind der Gesundheitsschutz des Art. 2 Abs. 2 GG bzw. das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, das Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG entspringt und dem Arbeitnehmer ein Recht auf Privatsphäre, also einen „autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann“,71 verschafft. Dazu zählt „auch das Recht, in diesem Bereich ‚für sich zu sein‘ [und] ‚sich selber zu gehören‘ “. Grundrechte, die eine objektive Werteordnung aller Rechtsbereiche ausdrücken,72 entfalten zwischen Privaten mittelbare Drittwirkung – ihre Wertungen sind bei der Auslegung der zivilrechtlichen Generalklauseln zu beachten.73 Mehr noch: Die Grundrechte strahlen durch die zivilrechtlichen Generalklauseln in die Rechtsverhältnisse Privater.74 Neben dem hoheitlich überwachten öffentlich-rechtlichen Arbeitszeitschutz hat der Gesetzgeber mit §§ 241 Abs. 2, 618 BGB zivilrechtliche ←53 | 54→Generalklauseln geschaffen, über die der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber schon auf vertraglicher Ebene Unerreichbarkeit einfordern darf.
Beim Recht auf Nichterreichbarkeit handelt es sich also um ein verfassungsfestes Recht, das die Gerichte bei der Inhaltskontrolle des Arbeitsvertrags beachten müssen. Mit den Regelungen des öffentlich-rechtlichen Arbeitszeitrechts statuiert der Gesetzgeber zugleich dessen Mindestumfang. Bei arbeitszeitrechtswidriger Anforderung mobiler Erreichbarkeit darf der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung gem. § 273 Abs. 1 BGB zurückbehalten und hat darüber hinaus die Möglichkeit, den Arbeitgeber im Wege der vorbeugenden Unterlassungsklage zu verpflichten, von solchen Anweisungen künftig Abstand zu nehmen.75 Soweit mobile Erreichbarkeit gegen geltendes Arbeitszeitrecht verstößt, steht dem Arbeitnehmer ein verfassungsfestes Recht auf Nichterreichbarkeit zu.
b) Sonn- und Feiertagsschutz
Das Grundgesetz schreibt den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe in Art. 140 GG iVm Art. 139 WRV fest. Daraus ergibt sich nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG kein (subjektiv-klagbares) Grundrecht.76 Indes seien die Bestimmungen der Weimarer Kirchenartikel „funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt“,77 die auch für die Sonn- und Feiertagsgarantie gelte. Diese Garantie verortet das BVerfG aber keineswegs ausschließlich religiös-christlich, vielmehr gehe sie mit einer „dezidiert sozialen, weltlich-neutral ausgerichteten Zwecksetzung“78 einher. Indem Art. 139 WRV regelmäßige Tage der Arbeitsruhe gewährleiste, diene er eben auch der körperlich-geistigen Regeneration (Art. 2 Abs. 2 GG), dem Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und der Versammlungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), ja sogar der Menschenwürde, weil er „dem ökonomischen Nutzendenken eine Grenze zieht und dem Menschen um seiner selbst willen dient“79 (Art. 1 Abs. 1 GG). Es handelt sich um die Garantie der verfassungsrechtlichen Institution des arbeitsfreien Sonn- bzw. Feiertags, die darauf abzielt, die Grundrechte zu stärken.80 Das BVerfG lädt also die o.g. ←54 | 55→Grundrechte um den Sonn- bzw. Feiertagsschutz auf, so dass Arbeitnehmer den Sonn- und Feiertagsschutz über den Umweg einer entsprechenden Grundrechtsrüge verfassungsfest für sich reklamieren können. Dieses Vehikel hat in die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte Eingang gefunden und wird vom BVerwG offenbar als so selbstverständlich betrachtet, dass es auf umfangreichere Ausf...