DIE
E-IDEENSCHMIEDE
MIT TATENDRANG UND INNOVATIONSFÄHIGKEIT HABEN MARKUS RIESE UND HEIKO MÜLLER AUS EINER GARAGENFIRMA EIN VERITABLES MITTELSTÄNDISCHES UNTERNEHMEN MIT 450 MITARBEITERN GEFORMT. 2009 STIEG RIESE & MÜLLER IN DIE ELEKTRIFIZIERUNG VON FAHRRÄDERN EIN. SEIT 2012 BAUEN DIE HESSEN NUR NOCH E-BIKES – UND DAS BIRDY.
TEXT: MARTIN HÄUSSERMAN
FOTOS: PHILIPP HYMPENDAHL, MARTIN HÄUSSERMANN, RIESE & MÜLLER
Deutschland ist Ingenieurland. Da wundert es schon ein wenig, dass man bei der Elektromobilität so hinterherhinkt. Stopp. Das stimmt natürlich nicht so ganz. Denn bei der Elektromo- bilität auf zwei Rädern ist Deutschland ganz vorn dabei. 980.000 E-Bikes wurden laut Statistik im Jahr 2018 hierzulande verkauft – während in der gleichen Zeit nicht einmal 70.000 Elektroautos und Plug-in-Hybride neu zugelassen wurden. Zu dieser Erfolgsgeschichte des E-Bikes haben auch zwei höchst kreative deutsche Ingenieure maßgeblich beigetragen: Markus Riese und Heiko Müller, die vor gut einem Vierteljahrhundert ein Unternehmen gründeten, das heute jährlich rund 60.000 Premium-E-Bikes baut und in die halbe Welt verkauft.
Daran haben die beiden vermutlich nicht einmal ansatzweise gedacht, als sie 1992 in der elterlichen Garage an einem höchst innovativen Zweirad tüftelten. Kein E-Bike, das war damals kein Thema. Die beiden Maschinenbauer, die sich in den 80er-Jahren an der TU Darmstadt kennenlernten, waren beide auch aktive Radfahrer – Heiko eher der Racer, während Markus das Mountainbike bevorzugte. Und irgendwie waren sie auf der Suche nach einem Fahrrad, das sich einerseits so klein machen konnte, dass es problemlos in der Bahn oder im Auto mitgenommen werden konnte. Andererseits wünschten sich die ambitionierten Biker auch sehr gute Fahreigenschaften. Die damals erhältlichen Klappräder mit einem Faltgelenk im Rahmen erschienen den beiden buchstäblich zu klapprig und deutlich zu instabil. Bis Markus die Idee kam, man könnte doch beide Räder federnd lagern und die Drehgelenke der Federungen gleichzeitig auch zur Faltung nutzen: Das Birdy war geboren.
Die Premiumbikes von Riese & Müller entstehen in einer hochmodernen Fertigungsstätte im hessischen Mühltal.
VOM FALTRAD- ZUM E-BIKE-SPEZIALISTEN
In zehn Tagen – und diversen Nachtschichten – entwickelten und schraubten die beiden Tüftler einen Prototyp zusammen, der nach einer Idee von Heiko beim »Hessischen Innovationspreis 1993« vorgestellt werden sollte – und dort prompt einen Sonderpreis gewann. Eigentlich hätte ja nicht nur die Konstruktion einen Preis verdient gehabt, sondern auch die Namensgebung: Birdy wurde das vollgefederte Faltrad genannt, weil es nach der Meinung seiner Erbauer einem Vögelchen gleich über den Asphalt schwebte. Die Kreativität bei Produkten und Namensgebung ist bis heute gleich geblieben: Ein sportliches E-Bike heißt heute Charger, ein motorisiertes Lastenrad Load. Nur beim Firmennamen blieben die beiden sachlich und setzten ihn aus ihren beiden Nachnamen zusammen. Gemeinsam mit der promovierten Kauffrau Sandra Wolf, Ehefrau von Heiko Müller, bilden die beiden Ingenieure aktuell die Geschäftsleitung von Riese & Müller. Dabei sind die Aufgabenfelder klar verteilt: Markus Riese zeichnet für die technische Entwicklung der Produkte verantwortlich, Heiko Müller steuert das operative Geschäft, und Sandra Wolf widmet sich der Strategie und der Markenbildung.
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IN MÜHLTAL TRIFFT FAHRRADBEGEISTERUNG AUF INGENIEUR- UND ORGANISATIONSKUNST.
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RIESE & MÜLLER
Gründung: 1993 in Darmstadt
Mitarbeiter (2019): 450 (aus 40 Nationen)
Umsatz (GJ 18/19): 145 Millionen Euro (+ 38 % im Vergleich zum Vorjahr)
Geschäftsführung: Markus Riese, Heiko Müller, Dr. Sandra Wolf
Produktionsstätte: Seit 2019 in Mühltal bei Darmstadt
Grundstücksfläche: 40.000 Quadratmeter
Arbeits-, Produktions- und Lagerfläche: 22.000 Quadratmeter
Markus Riese (links), Heiko Müller (Mitte) und Dr. Sandra Wolf bilden das Führungstrio des E-Bike-Herstellers Riese & Müller.
Der Erfolg des Birdy motivierte die beiden Gründer, weitere vollgefederte Fahrräder zu entwickeln, 1997 die beiden Komfort-Cruiser Culture und Avenue, ein Jahr später kam das sportliche Delite hinzu. Fortan verkauften die Hessen ihre Bikes unter dem Firmenslogan »Gefedert radfahren«. Das Delite bildete auch die Basis für das erste Speed-Pedelec, das 2009 vorgestellt wurde. E-Bikes bekamen alle den Namenszusatz Hybrid. Die ersten Schritte in Richtung Elektrifizierung tat Riese & Müller mit Radnabenmotoren des kanadischen Herstellers BionX, die aber den hohen Qualitätsansprüchen der beiden Ingenieure nicht dauerhaft standhalten konnten. So war auch das BionX-getriebene Birdy nur kurzzeitig im Verkaufsprogramm.
Dennoch entschieden Markus Riese und Heiko Müller im Jahr 2012, sich künftig auf E-Bikes zu konzentrieren. Eine zukunftsweisende Entscheidung in einem Jahr, in dem gerade einmal 380.000 E-Bikes in Deutschland verkauft wurden. Nicht ganz zufällig fällt die Entscheidung mit Markteinführung der Antriebe Active Line (City- Antrieb) und Performance Line (Touren/Sport) des Herstellers Bosch zusammen, der 2009 in den E-Bike-Markt eingestiegen war. Seitdem setzt Riese & Müller zu 100 Prozent auf die Mittelmotoren von Bosch und ist seinerseits mit der bereits erwähnten Jahresproduktion von 60.000 E-Bikes ein wichtiger Abnehmer. »Wir sind vom Mittelmotor überzeugt und sind auch von der Qualität überzeugt, die Bosch liefert«, sagt Heiko Müller, und Markus Riese ergänzt: »Das sind technisch hervorragende Produkte, die im Übrigen auch bei unseren Kunden einen guten Ruf haben.«
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HEUTE SETZT RIESE & MÜLLER ZU 100 PROZENT AUF MITTELMOTOREN VON BOSCH.
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Das Faltrad Birdy – hier eines der ersten Generation – ist die Keimzelle des Fahrradherstellers (oben). Das Delite bildete die Basis des ersten S-Pedelecs.
Start ins E-Zeitalter mit dem Birdy der zweiten Generation (links), dem futuristischen Culture (Mitte) und dem Delite.
Pulverbeschichtete Aluminiumrahmen warten darauf, in den Montageprozess eingespeist zu werden.
DIE PRODUKTPALETTE UMFASST 21 MODELLE
Wir haben die beiden Gründer in ihrem neuen Domizil in Mühltal vor den Toren Darmstadts getroffen, gar nicht so weit entfernt von der Garage, in der alles begann. Rund 30 Millionen Euro hat das Unternehmen in den modernen Firmensitz investiert, der Anfang 2019 in Betrieb genommen wurde. Bis zu 700 Fahrräder kann Riese & Müller hier pro Tag bauen. Derzeit liegt man noch deutlich unter der Kapazitätsgrenze. Aber erstens wäre die mit der aktuellen Belegschaft von 450 Mitarbeitern gar nicht zu schaffen. Und zweitens war zum Zeitpunkt unseres Besuchs gerade Serienanlauf des 2020er-Modelljahres. Da werden Taktzeiten bewusst etwas verlängert, weil sich Abläufe erst einspielen müssen und die Qualität nicht leiden darf. Wobei: Als uns Pressesprecher Jörg Lange durch die Produktionshallen führt, gewinnen wir den Eindruck, dass hier eigentlich alles schon ganz gut flutscht. Aufgeregtheit oder gar Stress beobachten wir jedenfalls nicht, während wir durch die Halle gehen. Riese & Müller setzt auf eine stark arbeitsteilige Linienproduktion. Gerade wird eine Charge des Modells Supercharger für den englischen Markt gefertigt. Insgesamt 26 Stationen braucht es, bis aus dem nackten Rahmen ein fahrbereites E-Bike entstanden ist, das nach der Qualitätskontrolle am Ende der Produktionslinie gleich in den Ve...