Kakanien im Detail – gestern, heute …? Kaiserstadt ohne Kaiser
Alfred Pfoser
1. Der Untergang der Reichshaupt- und Residenzstadt1
Das Ende des Ersten Weltkriegs ließ Wien mit einer gebrochenen politischen Identität zurück. Die Zukunftsperspektiven, nicht zuletzt wegen des Friedensdiktats von St. Germain, waren düster. Vorbei die Zeiten, als in der Hofburg und in den Ministerien die Fäden für die Verwaltung eines Riesenreiches gezogen wurden, als Stadtplaner wie Otto Wagner mit Ideen von einer künftigen Vier-Millionen-Stadt spielten, als Wien eine Aura von Glanz, Kompetenz und Innovation verströmte, es als Handels-, Finanz-, Wissenschafts- und Kulturzentrum eine privilegierte Stellung im gesamten Habsburgerreich innehatte und eine exorbitante Fülle von Geschäften und Dienstleistungsunternehmen die Mittel- und Oberschichten mit Luxus und Behagen versorgte. Aus auch der Traum vom großen Bedeutungsgewinn durch den Krieg, von einer glorreichen Zukunft Wiens. Fast bis zu Kriegsende hatte Wien davon geträumt, als internationale Schaltzentrale in einem vom Deutschen Reich dominierten Mittel-, Ost- und Südosteuropa eine Schlüsselrolle einnehmen zu können (vgl. Pfoser/Weigl 2013).
Mit der Auflösung der Monarchie verlor ein erheblicher Teil der riesigen Beamtenschaft ihre Daseinsberechtigung. Die staatliche Verwaltung, große Staatsbetriebe wie die Staatsbahnen, die Post, die Tabakregie oder der staatlichen Lotterie mussten redimensioniert werden. Die sogenannten „Nachfolgestaaten“ setzten viele Maßnahmen, um die herausgehobene Position Wiens auszuhebeln. Mittels „Nostrifizierungen“ wurden alte Bande gekappt, durch Zölle die alten Warenströme unterbunden. Tausende qualifizierte Arbeitsstellen gingen in Wien verloren. Der Zusammenbruch der Kriegswirtschaft stürzte die Stadt in soziales Chaos, weil zehntausende Beschäftigte, darunter die Kriegsheimkehrer, in die Arbeitslosigkeit gestoßen wurden. Mit der Abstempelung der Kronenwährung schufen die Nachbarstaaten Fakten, die alle Hoffnungen auf eine Wiederbelebung des Wirtschaftsraumes (zumindest vorderhand) zerstörten. Die Grenzkonflikte erzeugten bis Anfang der 1920er Jahre ständig Belastungen. Tschechische Politiker und Wissenschaftler rieten hämisch zur Rück-bildung der Reichshaupt- und Residenzstadt auf eine Ein-Million-Einwohner Kapitale (vgl. Pfoser/Weigl 2013, 73).
Innerhalb des neuen Deutsch-Österreich galt Wien als parasitäre Stadt, Sezessionsbestrebungen und Absperrmaßnahmen destabilisierten das Land. Der populistisch verwertete Gegensatz zwischen sozialdemokratisch-revolutionärem Wien und katholisch-christlichsozialen Bundesländern trieb Keile in den Zusammenhalt, behinderte die Lebensmittelzufuhr und führte in der Verfassungsdebatte zu scheinbar diametralen Positionen. Dem beliebten polemischen Bild von Wien als „Wasserkopf“ stand, egal ob sozialdemokratisch oder bürgerlich-liberal, die Abscheu der Wiener Eliten vor einem armen, auch kulturell armseligen Bauernstaat gegenüber (vgl. Die Zeit, 10.11.1918, 5). Wie wenig die Bewohner der einstigen Haupt- und Residenzstadt mit der neuen Geographie sich anfreunden und den Platz in der Abstiegszone akzeptieren konnten, brachte der Schriftsteller Anton Kuh auf die Formel: „Wien am Gebirge“ (Kuh 1987, 108).
Über Wien wurde in den Monaten und Jahren nach Ende des Ersten Weltkrieges als eine „sterbende Stadt“ gesprochen und geschrieben (vgl. die zeitgenössische Verwendung des Begriffs in Buchtiteln und in den Ausführungen: Cordon 1920, Weitzer 1926, Ziak 1931). Jakob Reumann, der erste sozialdemokratische Bürgermeister Wiens, fasste die Lage bei seinem Amtsantritt am 22. Mai 1919 in die dramatischen Worte: „Vielleicht keine Stadt der Erde hat infolge des Krieges so viel gelitten wie unser Wien. Nirgends wurde so viel gehungert wie hier, nirgends holte sich die Tuberkulose so viele Opfer wie in Wien.“ (Die Gemeindeverwaltung 1927, 2) Journalisten aus aller Welt kamen in die Stadt, um das Elend zu besichtigen und Schilderungen und Hilferufe zu verbreiten. Mit einer gewissen Verzögerung zeigten die Notsignale aus Wien auch Wirkung. Die Schweiz, Italien oder die Niederlande erklärten sich bereit, zehntausende Wiener Kinder aufzunehmen und sie zumindest für einige Wochen und Monate normal zu ernähren und dadurch zu kurieren. Die Lieferungsund Kreditblockaden der Ententemächte wurden gelockert. Amerikanische Hilfsküchen sorgten dafür, dass 100.000 Wiener Kinder zumindest einmal täglich ein warmes Essen bekamen.
In den unterschiedlichen Kreisen der Stadt wurde fieberhaft darüber nachgedacht und an Projekten geplant, wie man der ehemals glanzvollen Reichshaupt- und Residenzstaat wieder eine Rolle geben, wie man der Millionenmetropole wieder Stabilität und wirtschaftliche, soziale Perspektiven geben könne. Unsicherheit prägte die Politik. Der Anschluss ans wirtschaftlich entwickeltere Deutsche Reich schien für Wien vorerst die einzige und schnellste Lösung zu sein, um sich aus den Absperrmaßnahmen der neuen Nachbarstaaten zu lösen, den Anspruch auf die Sudentengebiete zu wahren und sich einen höheren Lebensstandard zu sichern. Aber natürlich schwang auch immer die Frage mit, welche Rolle würde Wien in einem Deutschen Reich erhalten. Bei den Gesprächen mit Berlin Ende Februar 1919 wurde vereinbart, dass Wien den Titel einer zweiten Hauptstadt bekommen solle, allerdings mit sehr wenig Kompetenz. Der kulturelle Reichtum Wiens konnte in dieser Rollenfindung ein großes Atout sein.
Nach dem Vertrag von St. Germain und dem Anschlussverbot musste sich Wien nach Alternativen der Rettung umsehen. Die neuerdings sozialdemokratische Stadtregierung war mit einer strengen Steuerpolitik darauf konzentriert, Wien finanziell zu sanieren und mittels einer forcierten Sozial-, Bildung-, Fürsorge- und Wohnpolitik eine sozialdemokratische Musterstadt aufzubauen. Industrie und Banken versuchten nach dem Anschlussverbot des Friedensvertrages mit einem gewissen Erfolg, die alten wirtschaftlichen Verbindungen in Mitteleuropa wiederherzustellen. Der Zusammenbruch der Räteregierungen in Ungarn und Bayern, der Beschluss der föderalistischen Verfassung und die Genfer Sanierung erzeugten trotz des Endes der großen Koalition im Sommer 1920 nach und nach wieder eine gewisse wirtschaftliche und politische Stabilität.
2. Kultur als Rettung – die „sterbende Stadt“ zeigt Kontinuität
Es gehört zu den merkwürdigen Phänomenen der Umbruchszeit, dass Wien trotz der schlimmen Versorgungskrise an der Zuschreibung, eine der ganz großen Kulturmetropolen in der Welt zu sein, mit großer Kraftanstrengung festhielt. Die im Kulturbetrieb Tätigen und auch die politisch Verantwortlichen waren mit aller Emphase fest entschlossen, weiterhin zu zeigen, dass Wien in der internationalen Welt als Stadt der Künste, der Musik, der Theater, der kulturellen Begegnung, der musikalischen Unterhaltung, als Stadt der großen Geister und des guten Geschmacks zu gelten habe. Die gelebte Beschwörung dieser Tradition schaffte innerhalb aller Unsicherheiten und Miseren Selbstbewusstsein und Zukunftsgewissheit, befeuerte den Glauben, den traurigen Nachkriegsalltag bald überwinden zu können.
Der lange Erste Weltkrieg hatte zwar der Stadt Hunger, Kälte und dem Bürgertum gesellschaftliche Deklassierung gebracht, die Theaterhäuser aber nicht geleert. Auch nach der Gründung der Republik blieb die Teilnahme an der Kultur Luxus-wie Massenbedürfnis. Ein Theaterbesuch führte über den Alltag hinaus, gab ihm eine Aura der festlichen Besonderheit, verschaffte Zerstreuung und Sammlung, rückte vom Alltag ab. Wie der außerordentliche Publikumsandrang bestätigte, waren die Menschen auch in den Hungerjahren nach der Republikgründung voller Sehnsucht nach dem Gemeinschaftserlebnis, das die Theater verschafften. Kunst und Unterhaltung waren ein Mittel, ein wenig Freude und Glanz in das schwierige Leben zu bringen und den Überlebenskampf ideell zu erhöhen. Trotz der miserablen Lebensbedingungen gaben die Bewohner lieb gewonnene Gewohnheiten nicht auf, die Teilnahme am Kulturbetrieb blieb substantiell für die Identität der Stadt und suggerierte außerdem, dass das „sterbende Wien“ nur als Übergangsphase zu sehen war.
So wie die Gesellschaft in den Jahren nach der Republikgründung den Mythos von der Kunst-, Museums-, Theater- und Musikstadt lebte (vgl. Danielczyk/Peter 2008, Hadamovsky 1988) und die Medien ihn nach Kräften durch breite Berichterstattung stützten, hielten Politiker und Verwaltungsbeamte quer über alle politische Grenzen hinweg die Bedeutung des Kulturbetriebs hoch, sahen ihn als Motor des Fremdenverkehrs, erkannten ihn in vielerlei Hinsicht (wirtschaftlich, politisch, mental) als ein Alleinstellungsmerkmal mit viel Zukunftspotential. Wien existierte trotz allen Elends als Kulturmetropole weiter, in die nicht nur die Spekulanten fuhren, um dort billig Antiquitäten und Bilder aufzukaufen. Wien wurde international als Musik- und Theaterstadt respektiert. Mit den Schreckensnachrichten über den Hunger in Wien gingen über die Fernschreiber auch die neuesten Theater- und Opernberichte hinaus. Es waren erstklassige Autoren wie Alfred Polgar, Robert Musil oder Anton Kuh, die die Leser in langen Berichten in den Berliner, Frankfurter oder Prager Zeitungen über den Wiener Kulturbetrieb informierten. Angereiste Touristen, die in den Zeitungen von der Bettelstadt lasen, registrierten verwundert, dass die Theater voll und die Nachfrage nach Vergnügungen aller Art ausgeprägt waren. Wien feierte sich selbst als führende deutsche Kulturstadt, auch im Vergleich zu Berlin. Sollte auch die Hauptstadtfunktion im proklamierten Anschluss weitgehend verloren gehen, so wollte man zumindest bei der Eingliederung ins Deutsche Reich eine Sonderstellung als zweite deutsche Hauptstadt behaupten und als Kulturhauptstadt Berlin überstrahlen (vgl. Bab/Handl 1926, 271–279).
3. Der Kampf um die Museen
Die Wiener Museen wurden im Winter 1918/19 wegen der Kohlennot, wohl auch wegen der politisch instabilen Verhältnisse und der divergierenden Besitzansprüche gesperrt. Trotzdem gerieten sie in diesen Monaten in den Fokus der Aufmerksamkeit. Wien hatte hier als europäische Kulturhauptstadt tatsächlich etwas zu verlieren, handelte es sich doch bei diesen Sammlungen um einzigartige Bestände, die nur in wenigen europäischen Museen ihresgleichen hatten und einen großen wirtschaftlichen Wert darstellten. Wenn die Macht durch die Auflösung der Habsburgermonarchie dahingeschmolzen war, so trat das republikanische Wien doch ein reiches künstlerisches Erbe an (vgl. Lhotsky 1974, 164–211; Posch 1992). Die Wiener Museen kündeten vom jahrhundertelangen Sammeleifer des Kaiserhauses, von der großen Vergangenheit des untergegangenen Reiches, vom Prunk der 650-jährigen habsburgischen Geschichte.
In den dramatischen Tagen und Monaten nach der Republikgründung galt es zunächst, den rechtlichen Status der im neuen Staatsgebiet befindlichen beweglichen und unbeweglichen hofärarischen...