1Einleitung
Der deutsche Kolonialismus ist mehr als imperialistische Machtnahme in Übersee. Das kolonisatorische Handeln des Kaiserreichs […] ist maßgeblich durch Kommunikation gestützt, also durch die Art und Weise, wie man vor allem durch das Sprechen über Andere und Fremdes sich selbst und das Eigene definiert. Die Sprache ist dabei Werkzeug einer Ordnung der Dinge; (Warnke 2009: 3)
Mit diesen richtungsweisenden Worten zeigt der Herausgeber des Sammelbandes Deutsche Sprache und Kolonialismus, der sich erstmalig explizit mit der sprachwissenschaftlich ausgerichteten Erforschung kolonialer Kommunikation des Deutschen Kaiserreichs beschäftigt, gleich zu Beginn seines Vorworts auf, dass die Erforschung der deutschen Kolonialgeschichte ein zentrales Forschungsfeld der germanistischen Linguistik darstellt. In der weiteren Argumentation des Textes kann er klar belegen, dass dieser Themenkomplex jedoch innerhalb sprachgeschichtlicher Untersuchungen bis zu diesem Zeitpunkt völlig unberücksichtigt geblieben ist (vgl. Warnke 2009: 29–40).
In der Geschichtswissenschaft wird bereits seit einiger Zeit betont, dass die deutsche Kolonialherrschaft nicht als episodenhafte Geschichte einer nur drei Jahrzehnte andauernden Herrschaft innerhalb kolonisierter Gebiete in Afrika, China und im Pazifik heruntergebrochen werden kann: Neuere Überblickswerke dieser Disziplin arbeiten klar heraus, dass die Geschichte der „ ‚kolonialen Situation‘, und zwar in Übersee ebenso wie in der Metropole“ (Speitkamp 2005a: 11), „nicht nur ein ‚strukturgeschichtlich‘ beschreibbares Herrschaftsverhältnis, sondern zugleich auch eine besondere Interpretation [kursiv im Original] dieses Verhältnisses [ist]. Zu seinem Wesenskern gehört eine spezifische Bewusstseinshaltung“ (Osterhammel und Jansen 2012: 19). Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist hier anzufügen, dass die genannte Bewusstseinshaltung „vor allem eine sprachliche Gestalt aufweist“ (Warnke 2009: 7). Die linguistische Erforschung kolonialzeitbezogener Kommunikation ist insofern in zweifacher Hinsicht relevant: Koloniales Handeln wird maßgeblich durch Sprache gestützt, und die sprachlich-diskursive Hervorbringung dieses kolonisatorischen Selbstverständnisses reicht über die Zeit des faktischen Kolonialismus bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinaus.
Das Ziel dieser Studie besteht darin, herauszuarbeiten, wie kolonisatorisches Selbstverständnis durch sprachliche Praktiken der Benennung des öffentlichen Raums im Deutschen Reich vom Beginn der kaiserzeitlichen Kolonialherrschaft an bis 1945 hervorgebracht wurde. Die Arbeit schließt damit an aktuell aufgeworfene linguistische Fragestellungen nach der „Bedeutung von Toponymen für die Erforschung des vielschichtigen Zusammenspiels von Sprache und Kolonialismus“ (Stolz und Warnke 2018b: 4), denn „koloniale Toponyme [sind] gewissermaßen als wichtige[r] Teil eines kolonial geprägten Wortschatzes dar und damit als Paradebeispiel für koloniale Sprache [zu] verstehen“ (Stolz und Warnke 2018b: 6). Dazu werden Kolonialtoponyme für die kolonisierten Räume im systematisch-empirischen Zugriff erhoben und unter system- und diskurslinguistischen Betrachtungsweisen untersucht. Die vorliegende Arbeit erweitert den bisherigen kolonialtoponymischen Skopus insofern in doppelter Weise grundlegend, als dass der analytische Blick erstmalig auf sprachlichdiskursive Prozesse kolonialer Raumaneignung bzw. -besetzung in der deutschen Metropole und dabei systematisch auf die Ebene der Mikrotoponyme, spezieller der Straßennamen, gerichtet wird: Koloniale Straßennamen stellen – unmittelbarer als zeitgenössische Schlüsseltexte, Institutionentexte, wissensvermittelnde Texte u. dgl., die die kolonisatorische Kommunikation des Kaiserreichs abbilden (vgl. Schulz 2016) – einen direkten Bestandteil der sprachlichen Konstruktion von Räumen dar. Damit eröffnen sie bisher unerforschte sprachwissenschaftliche Perspektiven in Bezug auf die Alltagskommunikation des Deutschen Reichs, in „denen Kontextualisierungszusammenhänge […] des Kolonialismus am deutlichsten markiert“ (Warnke 2009: 37) sind. Zeitgenössische Akten zeigen, dass mit derartigen Straßennamenvergaben ein „Ehren“ in unmittelbarem Bezug auf das „deutsche[n] Kolonialwesen[s]“ intendiert war:
Zu Ehren des Begründers des deutschen Kolonialwesens wünscht die Bürgerschaft die zwischen Seestraße und der Straße 20a gelegene, bereits gepflasterte Strasse 27a Abtheilung X1 Lüderitzstraße zu benennen. In der Nähe befinden sich einige Kolonialstraßen z. B. die Togo- und Kamerunerstraße. (GStA PK, I HA Rep. 77, Tit. 1319, Nr. 2, Bd. 17)
Aus dem im historischen Dokument dargelegten Wunsch der Berliner Bürgerschaft resultierte 1902 der administrative Beschluss einer Verfügung des Straßennamens Lüderitzstraße in den öffentlichen Raum im Berliner Wedding (vgl. Honold 2003: 315). Die zeitgenössische Akte legt nicht nur die eindeutig koloniale Motivik des historischen Benennungsakts („Zu Ehren des Begründers des deutschen Kolonialwesens“) dar, sondern verweist zugleich auf bereits erfolgte Beschlüsse zur Benennung anderer Straßen, die sich (in ihren strukturellen) Erstgliedern auf die Toponyme Togo und Kamerun beziehen, also auf die durch das Kaiserreich kolonisierte Gebiete. Diese Straßen werden im Zitat als „Kolonialstraßen“ bezeichnet. Derartige Straßennamen fanden nicht ausschließlich in der Reichshauptstadt Berlin Verwendung, die im Zuge des kolonialen Erwerbs als „Zentrale des deutschen Kolonialismus“ fungierte (vgl. Heyden und Zeller 2005: 8). Für eine Vielzahl weiterer Orte des deutschsprachigen Raums sind Straßenbenennungen bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts festzustellen, deren Erstglieder auf das „Schutzgebiet T. [d. i. Togo] […] an der Westküste Afrikas“ (Schnee 1920 III: 497) bzw. auf die „Kolonie K. [d. i. Kamerun] […] im innersten Winkel der Bucht von Guinea“ (Schnee 1920 II: 169) verweisen, bspw. für Forst (Lausitz), Heilbronn, Köln, Magdeburg, Oranienburg, Stettin [Szczecin] und Stuttgart. Sie sind in sog. Straßenverzeichnissen zeitgenössischer Einwohner- bzw. Adressbücher und in historischen Stadtplänen verzeichnet. Zeitgenössische Fotografien zeigen die genannten Straßennamen erwartungsgemäß auf Straßenschildern im öffentlichen Raum (vgl. Schulz und Ebert 2017: 176), in Einzelfällen sogar künstlerisch verziert (Abb. 29, Kap. 8.2.2.3). Ebenso sind Straßenbenennungen, die auf den „Kolonialpionier Lüderitz“ (Braunschweigisches Adreßbuch 1940 III: 211) und „Gründer der ersten deutschen Kolonie in Südwestafrika“ (Leipziger Adreßbuch 1938 II: 296) referieren sollten, bis 1945 nicht nur für Berlin, Braunschweig und Leipzig nachzuweisen. Die bezeichnungsmotivisch auf die den Namen tragende Person Adolf Lüderitz verweisenden Namenmuster sind bspw. auch für Mittelstädte wie Bautzen, Cuxhaven, Eilenburg, Heilbronn, Merseburg und Ravensburg festzustellen. In den Einträgen der Straßenverzeichnisse aus zeitgenössischen Adressbüchern wird festgehalten, dass der Person Adolf Lüderitz ein unmittelbarer Anteil an der kolonialen Inbesitznahme des Deutschen Kaiserreichs (Lüderitzstraße) zugesprochen wird. Dass derartige Namenverfügungen auf eine offenbar breite Resonanz bei Kolonialbefürwortern gestoßen sind, wird durch folgendes Zitat aus der Deutschen Kolonialzeitung ersichtlich:
Wie uns aus Dresden mitgeteilt wird, hat der dortige Stadtrat kürzlich beschlossen, zwei im neu aufzuschließenden Südviertel der sächsischen Hauptstadt „Lüderitz-Straße“ und „Wissmann-Straße“ zu benennen. Vivant sequentes! (DKZ 22.03.1913: 201)
Die Kommentierung der Vergabepraxis der Straßennamen für neu erbaute Straßenzüge („Vivant sequentes!“) zeigt, dass die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) über ihr offizielles Organ mit den administrativen Namenverfügungen eine über den Tod hinausgehende, in die Zukunft gerichtete Würdigung verband (vgl. Schulz 2019: 283).
Diese vorerst nur exemplarische Zusammenstellung einzelner Nameninventare in verschiedenen Groß- und Mittelstädten des Deutschen Reichs verdeutlicht, dass es sich bei derartigen kolonial motivierten Straßenbenennungen um ortsübergreifende sprachliche Praktiken handelt, hinter denen offenbar auch nationale sprachliche Interessen rekonstruiert werden können. Festgehalten werden kann schon jetzt, dass kolonial motivierte Straßennamen
–durch Beschlüsse administrativer Stellen bzw. Gremien rechtlich festgesetzt und damit verfügt wurden,
–durch entsprechende Veröffentlichung in Amtsblättern sicht- und lesbar gemacht wurden,
–in Straßen(namen)verzeichnissen von Einwohnerbüchern und/oder Adressbüchern sowie auf Stadtplänen sicht- und lesbar gemacht wurden,
–durch die Beschilderung, also durch das Anbringen der sprachlichen Zeichen auf Schilder, als ortsgebundene Schriftlichkeit (vgl. Auer 2010, Hennig 2010) in den öffentlichen Raum eingeschrieben bzw. fixiert und damit in der unmittelbaren Raumdeskription sicht- und lesbar gemacht wurden.
Zusätzlich zu den genannten Faktoren spielen Straßennamen auch eine unmittelbare Rolle im Postverkehr, bei Behördengängen und natürlich auch bei anderen Prozessen des Auffindens einer Adresse in einer Stadt. Dabei dienen kolonial motivierte Straßennamen natürlich wie andere Straßennamentypen auch funktional primär der Orientierung im Raum. Über diese primäre Orientierungsfunktion hinaus sind zum Zeitpunkt ihrer historischen Namenvergabe aber weitere sprachlich forcierte Interessen und Intentionen von Seiten der administrativen Namengeber festzustellen, die „die Sicht des Zeichenproduzenten und damit die Formen von Agentivität und Macht, die mit der Gewalt über die Zeichenverwendung im öffentlichen Raum einher gehen“ (Auer 2010: 295), offenlegen. Der Prozess ihrer Verfügung sowie Sicht- und Lesbarmachung in der unmittelbaren Raumdeskription ist insofern als diskursives Phänomen zu betrachten, das in dieser Arbeit im Anschluss an sprachstrukturelle Analysen auch „auf sprachlich reproduzierte Gewissheiten und Wissensbestände“ (Warnke und Schmidt-Brücken 2011: 45) untersucht und damit um die Kategorie der „epistemischen Lesart [kursiv im Original]“ (Warnke und Schmidt-Brücken 2011: 37) erweitert werden soll „im Sinne einer wissensstrukturierenden, historischen Konstellation“ (Warnke und Schmidt-Brücken 2011: 37, Fn. 1). Die verfügten Nameninventare bringen als textuell-räumliche Werkzeuge kolonisatorisches Selbstverständnis der administrativen Namengeber in Bezug auf zeitgenössische asymmetrische Machtverhältnisse und der Herrschaft im ‚fremden‘ Raum in Übersee hervor, das in dieser Arbeit erstmals im ortsübergreifenden Zugriff als eine mögliche Praxis sprachlich vermittelter kolonisatorischer Gewissheiten untersucht wird.
Die Kenntnis des Gegenstands historischer kolonialer Straßennamen ist bislang weitgehend durch kleinere Beiträge nicht-sprachwissenschaftlicher Fächer geprägt. Diese Studien tragen vorrangig einzelortsbezogen Benennungen zusammen und können damit nur ein völlig ausschnitthaftes Bild der historischen Vergabepraktiken kolonial motivierter Straßennamen vermitteln. Darüber hinaus ist ein „kulturwissenschaftliche[s] und historische[s] Interesse an den derzeit noch bestehenden Einschreibungen und vor allem an den aktuellen Umbenennungsdebatten“ (Schulz 2019: 82) festzustellen. Solche Beiträge unterscheiden sich dezidiert von genuin linguistischen Fragestellungen. Die von Seiten der modernen Toponomastik eingeforderten Analysen zu Prozessen historischer Straßennamenvergaben und -tilgungen in vergleichender und damit ortsübergreifender Perspektive (vgl. Nübling et al. 2015: 250) werden von diesen Studien nicht vorgenommen.
Diese Arbeit geht vor dem Hintergrund des sprachwissenschaftlichen Forschungsdesiderats der Frage nach, wie koloniale Herrschaft in Übersee in der deutschen Metropole selbst durch sich unmittelbar auf Kolonialismus und koloniale Themen beziehende Straßennamen sprachlich vermittelt wurde. Die Prämisse, die sich aus der Kontextualisierung kolonial motivierter Straßenbenennungen als historische Sprachgebrauchsdaten, die bis 1945 Wissensbestände über faktische und frühere Kolonialherrschaft und koloniale Themen evozieren sollten, ergibt, hat weitere Konsequenzen für die auszuwählende Methodik: Die Beantwortung der Untersuchungsfragen erfordert einen sprachhistorischen Zugriff mittels deskriptiv-analytischer Vorgehensweisen, denn „koloniale Profile [sind] quellenbezogen zu erschließen“ (Warnke und Stolz 2013: 491). Ein systematisch-empirischer Zugriff ist hier zwingend erforderlich, damit kolonial motivierte Namenvergabepraktiken nicht nur einzelortsbezogen, sondern flächendeckend erhoben werden: Nur die systematische Zusammenstellung eines ortspunkteübergreifenden Nameninventars ermöglicht auf dieser Basis inventarbezogene Untersuchungen, die einen Erkenntnisgewinn für deren Analyse als Sprachgebrauchsmuster in Kontexten kolonialer Raumaneignung „als verräumlichte Wissensordnung, als epistemische Strukturierung von Raum“ (Stolz und Warnke 2018b: 48), bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts verspricht. Dabei wird zu zeigen sein, dass es sich bei kolonialen Straßennamenvergaben um ortsübergreifend-nationale sprachliche Prozesse handelt, die über die administrativen und/oder handelsspezifischen Kolonialmetropolen eine ganze Reihe weiterer Groß- und Mittelstädte miteinschließt, die keinen unmittelbaren politischen und/oder ökonomischen Einfluss innerhalb der Kolonialepoche des Deutschen Kaiserreichs aufweisen.
Kolonial motivierte Straßennamen sollen in dieser Arbeit in ihrer sprachstrukturellen Musterhaftigkeit beschrieben werden. Solche Namenmuster sind als usuelle Phänomene beschreibbar, die sodann als serielle Prozesse konstitutiver Sprachgebrauchsmuster vor dem Hintergrund kolonisatorischer Gewissheiten untersucht werden können: Die Analysen betreffen bisher unbeantwortbare Fragestellungen zu Strukturtypen und den damit verbundenen Diskursfunktionen. Durch Einbezug der sich dabei ergebenden Muster kolonialer Raumreferenzierung und -belegung können spezifischere Aussagen hinsichtlich ihrer zeitgenössischen Kontextualisierung als textuell-räumliche Werkzeuge und der damit von administrativer Namengeberseite versprachlichten kolonisatorischen Gewissheiten getroffen werden. Die vorliegende Arbeit kann zeigen, dass koloniale Benennungspraktiken nicht nur einen konstitutiven Bestandteil der faktischen Kolonialzeit darstellten, sondern dass deren administrative Verfügung bis in die Zeit des Nationalsozialismus andauerte. Derartige Namenvergabepraktiken in den 1920er und 1930er Jahren sind sodann unter den historischen Bedingungen der Beendigung der de facto-Kolonialherrschaft als versprachlichte Wissensbestände des sich daran anschließenden kolonialrevisionistischen Diskurses zu untersuchen. Die Studie will damit im deskriptivempirischen Zugriff Versprachlichungsprozesse kolonisatorischer Selbstzuschreibungskonzepte des Deutschen Reichs aufdecken und analysieren, mit denen über faktisch...