Intertextualität in der Sangspruchdichtung
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Intertextualität in der Sangspruchdichtung

Der Kanzler im Kontext

  1. 361 Seiten
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Intertextualität in der Sangspruchdichtung

Der Kanzler im Kontext

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Die Sangspruchdichtung zeichnet sich durch besonders zahlreiche und vielfältige Bezugnahmen auf andere Texte, Gattungen und Diskurse aus. In der Forschung wurde dies konstatiert, bisher aber nicht konsequent und umfassend untersucht. Die Studie analysiert die Funktionen und Implikationen intertextueller Referenzen in der Sangspruchdichtung exemplarisch am Sangspruchœuvre des Kanzlers, eines in der Forschung bislang wenig beachteten Dichters des späten 13. Jahrhunderts. Sie zeigt, dass Intertextualität ein zentrales Verfahren sangspruchdichterischer Textproduktion ist, das auf den prekären Status der Gattung reagiert: Die Strophen referieren auf gattungsfremde, geltungsstärkere Texte und Diskurse, um an deren Autorität zu partizipieren; zugleich arbeiten Referenzen auf die eigene Gattung deren Konsolidierung zu. Die der Sangspruchdichtung häufig unterstellte Epigonalität und Konventionalität erweisen sich insofern nicht einfach als mangelnde Kreativität, fehlende Originalität oder dichterische Unfähigkeit, sondern als Produkt bewusster Bestrebungen zur Konsolidierung einer eigenen Gattungstradition und Überwindung ihres prekären Status, an denen intertextuelle Verfahren zentral Anteil haben.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783110712964

1 Einleitung

1.1 Begrifflichkeiten poetologischer Selbstbeschreibung

1.1.1 Exposition

Ich hab mich underwunden/ ze singen, ob ich mag./ ze tihten truwe ich vinden,/ des wisent mich du̍ bch ( 1Kanz/1/1, V. 1–4)1 – mit diesen Versen eröffnet im Codex Manesse das Liedcorpus des Chanzler,2 eines Dichters, der als Verfasser von Minneliedern und Sangsprüchen im letzten Drittel/Ende des 13. Jahrhunderts in Erscheinung tritt.3 Die zitierten Verse zeigen ein Sänger-Ich, das corpuseinleitend4 seine Tätigkeit als Sangspruchdichter thematisiert. Die ‚Selbstbeschreibung‘ wirkt dabei auf den ersten Blick konventionell und gattungstypisch: Das Sänger-Ich äußert – unter dem (topischen) Vorbehalt des Unvermögens, es zu tun – das Vorhaben zu singen und behauptet selbstbewusst, mit der Hilfe von Büchern dichten zu können.
Bei genauerem Hinsehen erweisen sich diese ‚Prologverse‘ allerdings als ausgesprochen implikationsreich. Die einleitende captatio benevolentiae (Ich hab mich underwunden,/ ze singen, ob ich mag, 1Kanz/1/1, V. 1 f.) ist einerseits freilich topisch, ebenso wie die Tatsache, dass dieser Unfähigkeitsbeteuerung zugleich performativ widersprochen wird, weil das Sänger-Ich im Moment der Äußerung schließlich singt (es also durchaus kann). Andererseits bekommt der Topos hier eine ganz bestimmte Stoßrichtung: Indem das Sänger-Ich darauf hinweist, am eigenen Können zu zweifeln, schafft es die Voraussetzung für die folgende Selbstaussage, die mit umso größerem Selbstbewusstsein getätigt wird, nämlich dass es vielleicht nicht aus sich heraus, aber doch mit Hilfe der Bücher zu dichten vermöge. Damit erhebt das Sänger-Ich gelehrte Bildung zur wesentlichen Grundlage seines Dichtens und verweist so zugleich auf die schriftgebundene Literarizität seines Schaffens. Indem schriftliche Texte als Quelle für das eigene Schaffen und/oder den Stoff angegeben werden, stellt das Sänger-Ich seine Dichtung in eine literarische Tradition und partizipiert damit zugleich an deren Geltung. Diese schriftbezogene Legitimationsstrategie erscheint auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich, denn in den Texten der höfischen Epik ist sie allgegenwärtig.5 In der Lyrik vor Ende des 13. Jahrhunderts dagegen ist sie keineswegs geläufig. Insofern möchte ich diese ‚Selbstbeschreibung‘ des Kanzlers im Folgenden differenziert analysieren, um das Verhältnis der verschiedenen poetologischen Begriffe, die er dabei aufruft, nämlich singen, tihten, vinden und bch, zueinander sowie zur Gattung Sangspruch zu bestimmen.

1.1.2 singen

Einleitend äußert das Sänger-Ich, es underwinde sich des singens (1Kanz/1/1, V. 1 f.), nehme sich des Singens an,6 wenn es könne (ob ich mag, 1Kanz/1/1, V. 2). Dieser Vorbehalt stellt das singen in eine Opposition zum tihten, welches das Sänger-Ich sich dezidiert zutraut: ze tihten truwe ich vinden (1Kanz/1/1, V. 3). Der Parallelismus im Bau der Verse – ze singen ob ich mag/ ze tihten truwe ich vinden (1Kanz/1/1, V. 2 f.) – unterstreicht den spannungsvollen Bezug des singens und tihtens aufeinander.
singen betont grundsätzlich den performativen Charakter der Dichtung, die Klanglichkeit und Mündlichkeit.7 Seit Walther ist singen – sowie etwas später auch das daraus abgeleitete nomen agentissinger8 – ein geläufiger Begriff sangspruchdichterischer Selbstbeschreibung für die künstlerische Darbietung (sie singen ihre kunst).9 Der Begriff des singens steht mithin in einer sangspruchdichterischen Gattungstradition und das Sänger-Ich der eingangs zitierten Kanzler-Strophe stellt sich in diese, indem es diesen terminus im Rahmen der Thematisierung des eigenen Kunstschaffens aufruft.

1.1.3 tihten

Dem singen als performativ-mündlich geprägtem Begriff sangspruchdichterischen Selbstverständnisses stellt das Sänger-Ich in den folgenden Versen das tihten und die bch gegenüber. Diese Begriffe gehören im Gegensatz zum singen nicht in die geläufige Terminologie sangspruchdichterischer Selbstbeschreibung. Sie rufen Schriftlichkeit und Literarizität auf und damit einen gelehrten Diskurs, der so dezidiert nicht genuin in der Gattung verankert ist. Die Schriftbezogenheit von tihten gründet in der Entlehnung des Begriffs aus dem lateinischen dictare, wobei tihten schon im Althochdeutschen neben ‚diktieren‘ und ‚vorschreiben‘ auch ‚literarisch schaffen‘ bedeutet.10 Deutlich schriftgebunden bleibt der Begriff auch im Mittelhochdeutschen, was sich unter anderem daran zeigt, dass er oft im Kontext der Abfassung von Urkunden und Schriftstücken begegnet und hier parallel zu schrîben gebraucht wird.11 Daneben erweitert sich sein semantisches Spektrum aber im Mittelhochdeutschen zunehmend vom ‚literarischen Schaffen‘ zur ‚schöpferischen/geistigen Tätigkeit‘ allgemein (und kann in diesem Kontext beispielsweise auch für die Schöpfung Gottes stehen).12 In poetologischen Kontexten begegnen die Begriffe der Wortfamilie allerdings im 13. Jahrhundert – beispielsweise bei Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg – noch vorwiegend im spezifischen Umfeld literarischen Schaffens.13 Gerade bei Konrad fällt auf, dass er den Begriff tihten ausschließlich in seiner Epik nutzt, während er in seiner Lyrik kein einziges Mal auftaucht. Ebenso verhält es sich in seinem Œuvre mit dem Begriff buoch sowie mit der Berufung auf buoche und mit der Thematisierung des schrîbens.14 Das zeugt von einem Gattungsbewusstsein bei Konrad, der für seine Sangsprüche offenbar andere Konventionen als für seine Epen ansetzt, nämlich Literarizität und Buchgelehrsamkeit dort nicht ostentativ ausstellt. Vielmehr betont er in seiner Sangspruchdichtung explizit, dass Sang nicht lernbar sei, sondern aus gottes gunst hervorgehe, also göttlich inspiriert sei (ellu̍ kunst geleret mac werden schone mit vernunst,/ wan daz nieman gelernen kan rede unde gedoͤne singen:/ du̍ beide mssent von in selben wahsen unde entspringen./ us dem herzen klingen ms ir begin von gottes gunst, 1KonrW/7/21a, V. 3 – 6, zit. nach LDM).15 Dieses Ideal scheint den Tenor der Gattung – zumindest im früheren 13. Jahrhundert – zu treffen,16 was sich auch im Rätselspiel, dem ältesten Teil des sogenannten Wartburgkrieges (wohl 2. Viertel 13. Jahrhundert),17 bestätigt. Denn auch hier – in diesem Text, der beinahe wie ein Kommentar zur Gattung wirkt18 – siegt gottesfürchtig-göttliche Inspiriertheit über gelehrte Bildung, wenn die (Buch‐)Gelehrsamkeit des meisterpfaffen Klingsor an der meisterschaft des auf Gott vertrauenden Laien Wolfram im Rätselwettkampf scheitert und sich zudem als schwarzmagisch desavouiert.19 In Anfängen bei Frauenlob, in Vollendung bei Heinrich von Mügeln lässt sich aber beobachten, dass zunehmend gelehrtes – und teilweise recht avanciertes – (Buch‐)Wissen Teil des sangspruchdichterischen Selbstverständnisses wird, bevor im Meistergesang letztlich die Inhalte weitestgehend zu einem Kanon (auch gelehrten, vorwiegend biblischen) Wissens erstarren und sich die Idee einer Erlernbarkeit von Gesang und Lied-Verfertigung (tihten !) durchsetzt, für die es ausdifferenzierte Regeln gibt, die schriftlich festgehalten sind.20
Wenn nun der Kanzler gegen Ende des 13. Jahrhunderts vom tihten spricht, bei dem ihn die bch wisent, also anleiten (‚weise machen‘)21, dann ist gerade hier vielleicht dieser Umbruch im Selbstverständnis der Sangspruchdichter zu beobachten. Denn die Behauptung lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass die Gattung sich zunehmend über geschriebene Texte zu legitimieren und damit an Konventionen eines gelehrten Diskurses zu partizipieren versucht. Entsprechende Tendenzen zeigen sich auch bei Boppe, wenn er sich bei der Spekulation über theologische Inhalte mehrfach über ein buoch legitimiert (1Bop/7/1, V. 8; 1Bop/7/2, V. 4; 1Bop/7/4, V. 4),22 beim Meißner, wenn er den Marner bezichtigt, er habe in seinem Sang gelogen, er solle baz diu bůch lesen (1Mei/12/1, V. 8; womit er auch seine eigene Buchgelehrsamkeit implizit ausstellt),23 und bei Rumelant, wenn er in seiner Polemik gegen Singûf die nicht genauer spezifizierte Bücherkenntnis des Meißners und Konrads von Würzburg als Ausweis ihrer sängerischen Überlegenheit hervorhebt und konstatiert, dass diese Kenntnisse Konrads getichte verfeinerten (1Rum/8/324).25

1.1.4 vinden

Zum legitimierenden Rückbezug auf eine Schriftkultur (bche) tritt in den Eingangsversen des Kanzlers der poetologisch geprägte Begriff des vindens hinzu (ze tihten truwe ich vinden,/ des wisent mich du̍ bch, 1Kanz/1/1, V. 3 f.), der als terminus der antiken Rhetorik (inventio) ebenfalls in eine gelehrte Tradition gehört. Es wird mithin die rhetorische Auffassung thematisiert, dass der dichterische Schaffensprozess ein ‚Finden‘ geeigneter Themen und Ausdrucksmittel in vorgängigen Texten ist.26
Dabei lohnt es sich zu analysieren und zu differenzieren, was und wo ‚gefunden‘ wird und worauf sich die Sänger berufen: Der Marner beispielweise thematisiert Mitte des 13. Jahrhunderts das poetische vinden ebenfalls und beruft sich dabei dezidiert auf die vorgängigen sanges meister (1Marn/6/17)27 und damit auf eine lyrische ‚Gattungstradition‘ (singen). Der Kanzler dagegen beruft sich über die bche auf einen gattungsexternen gelehrten Diskurs.28 Der Marner etabliert beziehungsweise konsolidiert, indem er die Vorgänger, die sanges meister, als rühmenswerte Autoritäten stilisiert,29 die eigene lyrische (Gattungs‐)Tradition und bestimmt auf dieser (selbstgeschaffenen) Basis sein eigenes Verhältnis zu ihr. Dass er dabei in der erwähnten Sangspruchstrophe weitestgehend Minnesänger als Autoritäten und deren Topoi als vorbildhaft zitiert,30 zeigt möglicherweise auch eine ‚Gattung‘ Sangspruch, die noch nicht voll etabliert ist und die er an eine vorhandene stabile lyrische Tradition (Minnesang) anzuknüpfen bestrebt ist, um an deren Geltung zu partizipieren. Die ostentative Etablierung einer lyrisch-mündlichen Tradition erscheint dabei noch pointierter, wenn, wie in der Forschung erwogen wurde, diese Berufung auf vorgängige Dichter tatsächlich auf den Literaturexkurs in Gottfrieds Tristan referiert.31 Damit griffe der Marner zwar zurück auf einen genuin schriftliterarischen Text (den er nicht nennt) und eine Passage, mit der dieser Text gerade seine Literarizität prominent betont, doch genau diese schriftliterarische Komponente blendet der Marner aus, indem er den Dichterkatalog Gottfrieds, der sich auch zentral auf die Epiker beruft, modifiziert, nämlich dezidiert keine Verfasser ausschließlich (schrift‐)literarisch-epischer Texte als vorbildhaft inszeniert, sondern nur solche, die auch oder vor allem als Lyriker in Erscheinung getreten sind. In alledem zeigt sich die Etablierung beziehungsweise Konsolidierung eines eigenen Gattungsdiskurses.
Der Kanzler ruft diesen etablierten Gattungsdiskurs nun über den Begriff des singens auf und stellt sich damit in eine lyrische Gattungstradition. Dass er die eigene Fähigkeit zu singen unter Vorbehalt äußert (ze singen ob ich mag,...

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  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Vorwort
  5. Abkürzungsverzeichnis
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Analysen
  8. 3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick
  9. 5 Register