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Zur Genealogie des Self-Trackings

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Zur Genealogie des Self-Trackings

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Über dieses Buch

Im Jahr 2021 sind Self-Tracking-Technologien ein fester Bestandteil gesellschaftlicher Alltagspraxen. In der Gegenwart von Corona-Tracing-Apps und Social Scoring erinnert kaum noch etwas an die frühen Prototypen der technologieenthusiastischen Self-Tracker*innen. Thorben Mämecke wirft einen Blick auf die intensiven Beziehungen, die diese Pionierprojekte untereinander gepflegt haben, und zeichnet dabei die sie bestimmenden Phänomene nach: angefangen bei der Ellenbogenmentalität der prekären Kreativökonomie bis zum progressiven Selbstbestimmtheitsstreben von Self-Tracker*innen mit chronischen Erkrankungen.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783732856039

III.Die Analyse des Self-Tracking-Diskurses

1Von Quetelet bis Quantified Self
Statistische Regulation im soziotechnischen Wandel


1.1Verdatung und Regulation – Von der Anthropometrie zur Sozialstatistik

Die Erfassung der in einem Territorium oder Herrschaftsgebiet lebenden Menschen durch rudimentäre Auszählungen reicht geschichtlich weit zurück. Foucault beschreibt den Stellenwert, den quantifizierende Verfahren etwa für die Staatsräson einnahmen, bereits im Zusammenhang mit dem staatsphilosophischen Machiavellismus der Renaissance; wobei solche »protostatistischen« (Köhler 2008: 80f.) Verfahren aber auf militärische oder fiskalische Zwecke begrenzt waren (Behrisch 2006: 8).
Die Ursprünge der Statistik fallen historisch mit dem Ende der feudalistischen Gesellschaft zusammen.1 Als Methode der Herstellung übergreifender Verbindungen zwischen verschiedenen empirischen Elementen entwickelt sie sich in engem Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung der politischen Ökonomie, die eine quantitative Beschreibung des Staates durch den Staat und für den Staat (Desrosières 2005: 165ff.) in einzigartiger Weise relevant macht. D.h. »die Statistik ist etymologisch die Kenntnis des Staates, die Kenntnis der Kräfte und Ressourcen, die einen Staat in einem gegebenen Moment charakterisieren« (Foucault 2004[1978-1979]: 396).2 Im Zusammenhang eines anhaltenden Diskurses verschiedener Wissenschaftsdisziplinen und staatlicher Organe konstituiert die Statistik des 18. und 19. Jahrhunderts so nach und nach einen Äquivalenzraum unterschiedlicher Methodiken, Begriffe und Zeichen zur Beschreibung, Verwaltung und Gestaltung sozialer Prozesse (Desrosières 2005: 21, 84).3
Vor allem durch Foucaults Vorlesungsreihe »Staat, Territorium, Bevölkerung« gelangten Thesen zu großer Bekanntheit, die die »Geburt der Statistik« (Foucault 2004[1978-1979]: 369) und den Wandel der staatlichen Organisationsform als zirkuläre Prozesse wechselseitiger Beeinflussung und Abhängigkeiten beschreiben (vgl. Foucault 2001[1975-1976], 2004[1978-1979], 2004[1978-1979]). So haben die rasanten wirtschaftlichen und politischen Veränderungen mit dem Umbruch zur Moderne neuartige Probleme und Ungewissheiten hervorgerufen, für die sich die Statistik als Lösungsstrategie instrumentalisieren ließ.4 Angesichts der schwächer werdenden Legitimität der monarchistisch-territorialen Souveränität, die Foucault als Krise der Regierungskunst beschreibt, ermöglicht die statistische Emergenz neuer politischer Entitäten dem modernen Staat seine Legitimität auf die Notwendigkeit wirtschafts- und gesundheitspolitischer Interventionen umzustellen.5 Hierbei ist in erster Linie an die Entität der Bevölkerung und die mit ihr verbundenen Potentiale und Probleme zu denken.
Die vormals der polizeilichen Administration überantworteten, rudimentären Auszählungen,6 entfalten sich an diesem Punkt zu einem der wichtigsten Instrumente liberaler Regierungsformen, in dem sie die juridischen Gesetze um die Gesetze der Statistik (Hacking 1990: 11) ergänzen: Dank »der Einbeziehung der spezifischen Probleme der Bevölkerung und dank der Absonderung jener Wirklichkeitsebene, die man Ökonomie nennt, [konnte] das Problem der Regierung schließlich außerhalb des juridischen Rahmens der Souveränität gedacht, erwogen und abgewogen werden […]. Und so wird die selbe Statistik, die im Rahmen des Merkantilismus stets nur innerhalb und zugunsten einer monarchischen Administration funktionieren konnte […] zu einem der Hauptfaktoren für die Aufhebung jener Blockade« (Foucault 2004[1977-1978]: 156). Im Zuge der fortlaufenden Transformation des Territorialstaates, werden vor allem Sozialerhebungen zunehmend als legitimierende Entscheidungsgrundlage in den Dienst der Staatslenkung gestellt (vgl. Foucault 2000: 64). Die Statistik ermöglichte es dabei die territorialen Grenzen, Komparabilitäts- und Konkurrenzrahmen zwischen den Ländern und Städten zu schaffen; die Verfügbarkeit von Ressourcen, sowie die Zirkulation der Güter und die Bevölkerungsentwicklung zu überwachen und längerfristiger Planung zu unterziehen. Darüber hinaus erzeugte aber auch die Umstellung auf kapitalistische Warenproduktion und Binnenhandel einen zunehmenden Bedarf an rational handhabbaren Wissensbeständen und Kalkulationsgrößen.
So waren es zu dieser Zeit vor allem Arbeitsämter, die als Erste umfassende Erhebungen zu Löhnen, Lebensbedingungen, Arbeitssicherheit, Hygiene, sowie Arbeits- und Streikhäufigkeit durchführten. Bald wurden aber auch in anderen Bereichen statistische Daten aggregiert, die als Nebenprodukte der amtlichen Verwaltungen anfielen (Desrosières 1999: 424): So z.B. durch die Abfertigung von Zöllen oder die Zentralisierung lokaler Gewerkschafts- und Versicherungsstatistiken (Desrosières 2005: 175ff.; vgl. Hacking 1982: 282) oder durch die Ausstellung von Totenscheinen.7
Der Diskurs zentrierte sich allerdings zunehmend in den für die Erhebung, Aufbewahrung und Analyse der Daten geschaffenen statistischen Büros: »One could write the history of these bureaus as an aspect of the more general history of the construction of the state, insofar as they developed and legitimized a common language specifically combining the authority of science and that of the state« (Desrosières 1999: 246).8
Anders als frühere rudimentäre Zählungen ist mit der systematischen Erhebung großer Datenbestände allerdings eine enorme realitätskonstruierende Wirkkraft verbunden (vgl. Hacking 1982; Porter 1994; Desrosières 2001; Espeland und Sauder 2007; Heintz 2010). Denn durch die Quantifizierung von einzelnen Einheiten oder Objekten wurden gesellschaftliche Strukturen und ihre Variationsbedingungen in bisher unbekanntem Maße sichtbar, allerdings auch in gleichem Maße konstruiert und als szientistische Elemente vergleichsweise einfacher Rechenoperationen abgeleitet.9 Der Übergang von nominalistischen Zählungen zu der Berechnung von Mittelwerten, führte zu einem sprachlichen und epistemologischen Shift, der aus Arbeitslosen Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenquoten machte (Desrosières 2005: 78; Zimmermann 2006). Phänomene wie Warenzirkulation oder Volkswirtschaft erschlossen sich im gleichen Maße erst über den Beobachtungsrahmen massenhafter Einzelfälle, wie Kriminalität (Deflem 1997; Kreissl 2011: 54) und Gesundheit – bzw. der mit ihr verbundenen Subkategorien wie Alkoholismus, Suizid oder Verrücktheit (Hacking 1986: 222). Auch die Bevölkerung eines politischen Wirkungsbereiches erschien durch die Quantifizierung als Objekt mit eigenen Strukturen, Gesetzmäßigkeiten und Kennzahlen und wurde damit für regulative Zugriffe zugänglich (Köhler 2008: 82), womit sich an der veränderten Wahrnehmung der Bevölkerung eine empirische Bevölkerungspolitik gesundheits- oder wirtschaftsstrategischer Präventionen und Interventionen ausrichtete. Das zirkuläre Verstärkungsverhältnis statistischer Instrumente und sozialpolitischer Institutionen zeichnet sich demnach dadurch aus, dass Statistiken nicht nur die legitimierende Basis oder das Wissensressort für politische Strategien bilden, sondern sich in ihnen gleichermaßen die Erfolge der sozialpolitischen Maßnahmen widerspiegeln und sie darüber hinaus neue Interventionsfelder und damit auch neuen Bedarf an entsprechenden Regulationen aufzeigen (vgl. Muhle 2008: 245). Im Spiegel der Sozialstatistik erscheinen die individuell aleatorischen Merkmale wie Mortalität, Fertilität, Produktivität und Gesundheit fortan als kalkulierbare Größen. Dies hat zur Folge, dass sich Regulationstechniken des Regierens in diesem Zusammenhang dann nicht mehr nur auf den individuellen Einzelfall richten, sondern auf die Variationsbedingungen abstrakter Phänomene (vgl. Foucault 2004[1978-1979]: 157, 396).
Das innovative Moment der Sozialstatistik liegt demnach darin, dass sie den primären Modus des Einwirkens auf die Bewohner*innen eines Staatsgebietes unter den Bedingungen von Wohlfahrtstaatlichkeit von der Disziplinierung des Individuums auf die Regulation der Bevölkerung umstellt, d.h. »die Steigerung seiner Fähigkeiten, Ausnutzung seiner Kräfte, das parallele Anwachsen seiner Nützlichkeit und seiner Gelehrigkeit, seine Integration in wirksame und ökonomische Kontrollsysteme« (Foucault 1983[1976]: 135) gewährleistet.

1.2Verdatung und Selbstregulation – Reflexive Sozialstatistik und Verbreitungsmedien

Mit dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert wird die Verfügbarkeit des statistischen Blicks auf die Gesellschaft zunehmend aus der Ägide staatlicher oder wissenschaftlicher Institutionen genommen und z.B. in Form von Wahlstatistiken, Meinungsumfragen, Gesundheits- oder Sozialstatistiken öffentlich zugänglich, woran auch die zunehmende Entwicklung einer massenmedialen Öffentlichkeit maßgeblich beteiligt ist.10
Quantifizierungen etablieren sich zu dieser Zeit in viel breiterem Maße als universalistisches Selbstbeobachtungsverhältnis der Gesellschaft. Sie lassen z.B. den Staat nicht mehr nur als abstrakte Entität erscheinen, die außerhalb der Gesellschaft steht, sondern als Zusammenhang verschiedener Sozialbeziehungen (Desrosières 2005: 165), die die Repräsentant*innen politischer Ämter gleichermaßen umfasst wie ihre Wähler*innen.11 Und auch in anderen Bereichen, allen voran dem der Gesundheit, ermöglichen Statistiken die Selbsteinordnung, Kontrolle oder Abgrenzung im Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Für das moderne Subjekt ist daher charakteristisch, dass es sich in der Ambivalenz zwischen Masse und Individualität verortet. Über Statistiken bieten sich ihm erstmals Orientierungen in der Frage nach dem Zusammenhang von sich selbst und dem gesellschaftlichen Ganzen. Eine Frage, die mit der Moderne in einzigartiger Weise relevant wird.
Insbesondere durch die Normalismustheorie (Link 1997, 1999, 2001) wurden die Selbststeuerungskonzepte der Gouvernementalitätsforschung12 durch Untersuchungen zu normalisierenden Eigenschaften zahlenförmiger Sozialbeschreibungen vertieft.13 Öffentliche Statistiken lassen sich hieran anschließend als eine Technologie beschreiben, die für eine Reintegration der Wahlfreiheit des individualisierten Subjekts in den Determinismus des Ganzen sorgt (vgl. Gehring 2009: 111f.). Im Zentrum dieser Form von Selbstregierung steht die Orientierung an öffentlich zugänglichen statistischen Durchschnitten, als vermeintlicher Spiegel der Normalität. Dieser Argumentation nach kommt der Normalverteilung die Doppelfunktion zu, dass sich gesellschaftliche Normalität nicht nur in ihr konsensualisiert (vgl. Bohn 2003), sondern sie darüber hinaus als normalisierender Rahmen auf die Gesellschaft zurückwirkt, da an der Orientierungsfolie des gesellschaftlichen Durchschnitts Selbstentwürfe gebildet werden, die durch die Abweichungsmaße und Extremwerte durchschnittlicher Verteilungen eingegrenzt werden (vgl. Link 1999: 10).
Mit der zunehmenden medialen Zugänglichkeit von Wahl- oder Bevölkerungsstatistiken lässt sich daher eine Verselbstständigung und Automatisierung der Steuerungseffekte von Bevölkerungsstatistiken ausmachen, wobei die Mechanismen der Selbststeuerung sukzessive die direkten politischen Interventionen ergänzen und gekoppelt mit einem eigendynamischen und nicht deterministischen Gesellschaftsverständnis repressives Regierungshandeln in eine vielseitige Steuerung sich selbst steuernder Entitäten transformiert.
Die ehemals durch den »Aggregatrealismus« (Desrosières 2005: 90) der frühen Statistiker konstatierte Normalgesellschaft erweist sich dieser Argumentation folgend d...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. I. Einleitung
  6. II. Methodisches Vorgehen
  7. III. Die Analyse des Self-Tracking-Diskurses
  8. IV. Schluss
  9. Literaturverzeichnis
  10. Abkürzungsverzeichnis