1. Mikrogeschichte und Nationalsozialismus in der Region – Positionen und Forschungsstand
„Insgesamt“, schrieb der Sozialhistoriker Jürgen Kocka in einem Diskussionsband 1994, „zeichnet sich keine helle Zukunft für die theoriearme, mikrohistorisch verengte, einseitig auf Erfahrungen konzentrierte, von unten und gar ‚von innen‘ fragende Alltagsgeschichte ab.“1 Den größten Mangel der mikrohistorisch orientierten Geschichtsschreibung sah Kocka darin, dass diese kein Interesse an den „großen Strukturen und Prozesse[n]“ der Geschichte hätte und daher auch nicht in der Lage sei, eine „Zusammenhangerkenntnis“ – eine Erkenntnis der großen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge in der Geschichte – hervorzubringen. Statt eines solchen makrohistorischen Ansatzes glaube die „bloße Mikrohistorie ohne allgemeine Fragestellungen“ auskommen zu können, sich auf ein „mikrohistorisches Klein-Klein“ beschränken zu können.2
Die Vertreterinnen und Vertreter der Alltags- und Mikrogeschichte richteten und richten an die „klassische“ Sozialgeschichte indes gerne den Vorwurf, dass in makrohistorisch geleiteten Untersuchungen die „einzelnen Individuen als hilflose Figuren an den Fäden der anonymen Strukturen und Prozesse hingen“,3 oder sogar, dass der „Mensch aus der Geschichte verschwunden“ sei.4 Die Sozialgeschichte würde übersehen, dass der Mensch zwar eingebunden sei in eine bestimmte Gesellschaftsordnung, sich aber innerhalb dieser Ordnung mit „relativer Freiheit“ bewegen und entfalten könne, dass seine Entscheidungen also nicht zur Gänze von den erkannten größeren Strukturen und Prozessen (wie etwa ökonomischen Grundgegebenheiten oder dem herrschenden politischen System) bestimmt seien.5 Außerdem beruhe die Ansicht, Mikrohistorie betreibe ein bloßes „Klein-Klein“, auf einem grundsätzlichen Missverständnis: Der Erkenntnisgegenstand (zum Beispiel „der Nationalsozialismus”) sei bei einem mikrohistorischen Zugriff nicht ein anderer als bei einem makrohistorischen Zugriff auf ein und dasselbe Thema, lediglich die Erkenntnisperspektive unterscheide sich; der Erkenntnisgegenstand werde „‚im Kleinen‘ betrachtet, es werden nicht ‚kleine Dinge‘ betrachtet“.6
Die an die Mikrogeschichte gerichtete Kritik der Theoriearmut wirft die Frage auf, ob sich mikrohistorische Studien generell von einem allgemein akzeptierten Theoriekonzept leiten lassen und ob dabei durchgehend einer bestimmten Methode der Vorzug eingeräumt wird. In der Forschung herrscht mittlerweile die Ansicht vor, dass das Etikett „Mikrogeschichte“ für eine „Vielzahl theoretisch, methodologisch und inhaltlich unterschiedlich gelagerter Studien“ verwendet wird, die „einzig und allein die Kleinheit des Beobachtungsausschnitts oder -gegenstands gemein haben“.7 Aber auch wenn sich Mikrostudien nicht an einem einheitlichen theoretisch-methodologischen Leitkonzept orientieren, heißt das nicht, dass sie automatisch mit dem Mangel an Theoriearmut oder sogar Theoriefreiheit behaftet wären. Mikrogeschichte interpretiert makrohistorische Theorien und Modelle nur nicht als „vorgegebene Gerüste zur Einordnung und kausalen Verknüpfung empirischer Phänomene, sondern bestenfalls [als] Interpretationswerkzeuge“ und Hilfsmittel zur Entschlüsselung mikrohistorischer Sachverhalte.8 In diesem Zusammenhang wies Ernst Hanisch bereits 1979 im programmatischen Aufsatz Regionale Zeitgeschichte. Einige theoretische und methodologische Überlegungen auf die Eigenheiten der mikrohistorischen Theoriebildung und deren relative Unabhängigkeit von (sozialwissenschaftlichen) Makro-Erklärungsmodellen hin: Eine Regional- bzw. Mikrogeschichte sei keineswegs nur dazu angetan, ein „Testfeld sozialwissenschaftlicher Idealtypen, Modelle und Theorien“ zu sein, sondern sie solle grundsätzlich „von sich aus bemüht sein, selbstständig und quellennahe, […] allgemeine Kategorisierungsschemata und Erklärungshilfen zu entwickeln“.9
In der Praxis mikrohistorischen Arbeitens heißt dies konkret, dass es auf den Forschungsgegenstand, die Perspektive auf denselben und ganz wesentlich auf die Quellenlage ankommt, ob auf vorhandene Theorieangebote zurückgegriffen werden kann oder ob es notwendig erscheint, eigene Theorien und Modelle zu entwickeln. Welche Methoden im konkreten Fall zur Anwendung gebracht werden, hängt ebenfalls von genannten Gegebenheiten ab. In Frage kommen beispielsweise kollektivbiographische, mentalitätsgeschichtliche, aber auch quantifizierende, der Sozialwissenschaft entlehnte Methoden. In letzterem Fall wird sich der Mikrohistoriker, die Mikrohistorikerin in Abhebung zur sozialwissenschaftlichen Vorgangsweise bemühen, „das einzelne, in den Quellen aufzufindende gelebte Leben nicht im statistischen Durchschnitt untergehen zu lassen, dabei jedoch die Vorteile einer statistisch-seriellen Analyse durchaus zu nutzen“ wissen.10
Innerwissenschaftliche Auseinandersetzungen wie eben die Auseinandersetzung zwischen Sozial- und Mikrohistorikern um den adäquaten Zugriff auf den Forschungsgegenstand haben auf längere Sicht zumeist nicht das Verwerfen des Theorie- und Methodenkonzepts in Bausch und Bogen der einer Seite und die uneingeschränkte Anerkennung des Konzepts der anderen Seite zum Ergebnis, sondern sie führen oftmals zur Einsicht, dass der Forschungsgegenstand nicht auf einem Königsweg erschlossen werden kann, sondern erst durch eine Vielheit verschiedener Zugangsweisen. Im besten Fall führen solche Auseinandersetzungen sogar zu einer wechselseitigen und mehr oder minder fruchtbaren Entlehnung bzw. Heranziehung der vormals abgelehnten Theorien- und Methodenkonzepte. Die in der Mikrogeschichte mittlerweile häufig praktizierte Quantifizierung kann hierfür als Beispiel gelten.
Die vor einigen Jahren noch kontrovers diskutierten Fragen nach der „Nähe“ und „Ferne“ zum Erkenntnisgegenstand, nach der „Enge“ und „Breite“ der Erkenntnisperspektive haben inzwischen merklich an Konfliktpotential und Schärfe verloren. So setzt sich auch bei sozialwissenschaftlich orientierten Makrohistorikern und Makrohistorikerinnen immer mehr die Erkenntnis durch, dass eine Geschichtsbetrachtung in der Makroperspektive ohne Beiziehung von Fallbeispielen und unter Außerachtlassung konkreter Individuen nur wenig mit der historischen Realität zu tun hat.11 Auf der anderen Seite haben auch Mikrohistoriker und Mikrohistorikerinnen erkannt, dass eine Mikrogeschichte, die zentrale, nur in der Makroperspektive zu fassende historische Vorgänge nicht hinreichend berücksichtigt, nicht verständlich sein kann. Beispielsweise wird es mit dem Blick auf die Mikrogeschichte ausschließlich eines bestimmten steirischen Bergdorfes ein Rätsel bleiben, warum die dortigen Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen nach dem 19. Juni 1933 – an diesem Datum erließ die Bundesregierung ein Betätigungsverbot für die NSDAP in Österreich – ein wesentlich anderers Verhalten in politischen Dingen an den Tag legten als zuvor. In solchen Fällen erscheint es unumgänglich, die Perspektive zu erweitern und in der Makroebene nach Erklärungen zu suchen (etwa in den von der Regierung bei einer Fortführung der illegal gewordenen politischen Tätigkeit angedrohten Strafen). Die konkreten Auswirkungen einer solchen Verordnung wiederum werden im Kleinen sehr viel besser als im Großen sicht- und greifbar.
Zur Notwendigkeit, die Perspektive in Mikrostudien fallweise zu vergrößern und zu verkleinern, sollte das grundsätzliche Bestreben hinzutreten, den Forschungsgegenstand von möglichst vielen Seiten her zu untersuchen. Erst die Kenntnis verschiedener Aspekte desselben Gegenstandes, die mit der Heranziehung unterschiedlicher Quellen erreicht wird, versetzt einen in die Lage, einen profunden Überblick über dessen Größe und Umfang gewinnen und abschätzen zu können, welche Aussagen über den Gegenstand möglich sind und welche nicht. Oder wie es Ewald Hiebl und Ernst Langthaler formulierten: „[N]ie reicht ein einziger Blick auf das Kleine, um die Komplexität des Mikroraumes zu erfassen. Immer wieder werden die Blickwinkel verändert, wird gezoomt und geschwenkt, werde...