Die Burg von Edo auf einem bemalten Raumteiler aus dem 17. Jh. (Edo-zu byōbu). Zu sehen ist der Haupthof mit dem tenshu (Donjon), der 1657 abbrannte und bis heute nicht mehr errichtet wurde.
Edo, vom Fischerdorf bis zur Burgstadt
Am Anfang flog ein Kopf –
Die Geschichte von Taira Masakado (? – 940)
Eingekeilt zwischen Geschäftshochhäusern befindet sich im Tōkyōter Innenstadtviertel Ōtemachi ein kleines Monument, vor das seit vielen hundert Jahren regelmäßig frische Blumen und kleine Gaben gestellt werden, heutzutage meistens von jungen Angestellten der Firmen, deren Büros angrenzen. Das Monument ist das Schädelgrab des Taira Masakado (gest. 940), den sein Biograph Karl Friday als den »ersten Samurai« bezeichnet hat.
Im 10. Jh. gab es an dieser Stelle weder Tōkyō, noch Edo, sondern ein kleines Fischerdorf namens Shibazaki, welches an die heutige Bucht von Tōkyō grenzte, die damals noch nicht durch Landauffüllungen verkleinert worden war. Japan wurde zentralistisch vom kaiserlichen Hof in Kyōto aus regiert und je weiter eine Provinz von der Hauptstadt entfernt lag, als desto primitiver galt sie; Shibazaki und die ganze Kantō-Region lagen sehr weit entfernt von Kyōto.
Wie uns die möglicherweise noch im 10. Jh. verfasste Chronik Shōmonki berichtet, stammte Taira Masakado aus guter Familie, hatte am Kaiserhof gedient und lebte schließlich auf dem Lande in der Gegend des heutigen Tōkyō. Sein Aufstand 939/940 war eine historisch sehr frühe Dokumentation des Machtanspruchs der neuen Samurai-Klasse. Diese waren waffentüchtige, damals noch sozial weniger geachtete Clans, die von mächtigen Hofadligen rekrutiert worden waren, um in weit entfernten Provinzen für sie die Schmutzarbeit zu machen. Sie hatten vor allem dafür zu sorgen, dass die Einnahmen aus Gütern und Abgaben regelmäßig in die Hauptstadt flossen. Samurai leitet sich von dem alten Wort saburai ab, was ursprünglich einen »Gefolgsmann« bezeichnete. Zu Masakados Zeiten war das Selbstbewusstsein dieser waffenerprobten Lokalherren bereits im Anstieg. Es dauerte aber bis 1185 bis tatsächlich ein Samurai, Minamoto Yoritomo, als Shōgun dem Kaiserhof die Macht dauerhaft entriss. Interessanterweise wählten die Minamoto mit Kamakura einen Ort als ihre Hauptstadt, der ebenfalls in den östlichen Kantō-Provinzen liegt, keine 60 km von Masakados Schädelgrab in Tōkyō entfernt.
935 war es ebenfalls ein Minamoto, ein Landadliger im Osten wie Masakado, der diesen attackierte, was an sich so wenig bemerkenswert war wie eine lokale Ritterfehde im deutschen Mittelalter. Es wurde jedoch eine Kette von Ereignissen ausgelöst, die den zunächst gegen seine Lokalrivalen siegreichen Masakado in Konflikt mit dem Kaiserhof brachte, als er 939 aus nicht ganz geklärten Gründen den Sitz des kaiserlichen Gouverneurs der Provinz Hitachi, nördlich des heutigen Tōkyō, stürmte. Nun war der Rubikon überschritten, Taira Masakado war zum Rebellen gegen seinen Kaiser geworden.
In typischer Samuraimanier entschied sich Masakado für die offensive Variante: Anstatt in seiner Provinz sitzen zu bleiben und auf das Erscheinen einer kaiserlichen Strafexpedition zu warten, eroberte er die Hauptquartiere von acht weiteren kaiserlichen Provinzen, die schon im Wesentlichen das Gebiet des heutigen Kantō ausmachten. Wer A sagt, sollte auch B sagen, also ließ Masakado sich zum »Neuen Kaiser« ausrufen und begann, einen Hof mit Palast in Shimōsa aufzubauen, so berichtet jedenfalls die Quelle Shōmonki. Ob sich eine Usurpation wirklich in dieser dramatischen Zuspitzung vollzog oder Masakado einfach eine starke Position aufbaute, um einen günstigen Pardon aushandeln zu können, muss dahingestellt bleiben. In jedem Fall wurde der Kaiserhof auf dem falschen Fuß erwischt, denn er hatte bereits gleichzeitig mit den Folgen von Naturkatastrophen, Piratenangriffen und anderen Aufständen zu kämpfen.
Masakados »Kaisertum« währte trotzdem nur wenige Monate, denn schon im Frühjahr 940 erschien eine starke kaiserliche Armee, die seine Truppen schlug. Taira Masakado fiel in der Schlacht, auch dies gehört zum Konzept des wahren Samurai. Am 10. Tag des 5. Monats wurde sein abgeschlagener Kopf am Ostmarkt der Hauptstadt öffentlich zur Schau gestellt. Dort verblieb er allerdings nicht auf Dauer, denn, so berichten die Legenden, der Kopf flog nach drei Monaten weg und landete in Shibazaki, dem späteren Edo/Tōkyō, immerhin fast 500 km weiter im Osten Japans. Die erschrockenen Fischer und Bauern dort schufen ihm ein Schädelgrab und begannen sich Sorgen zu machen, welches Unheil der Geist dieses Rebellen wohl anrichten könnte. Außerdem gab es anscheinend auch ein Gefühl der Anerkennung für den tapferen Aufstand gegen die ferne, ungeliebte Machtzentrale durch einen Mann aus der eigenen Region (Auch viel später, als Edo/Tōkyō längst selbst zum Machtzentrum des Landes geworden war, empfand man Freude in mancher Provinz, »denen da« in der Hauptstadt einmal eins auswischen zu können).
In Japan geht man davon aus, dass unbillig aus dem Leben Geschiedene böse Geister werden können, die sich an später Lebenden rächen. Nun ist das Schädelgrab von Tōkyō - Ōtemachi zwar leer, wie man seit 1923 weiß; aber man kann ja nie wissen. Tatsächlich wurden im Laufe der auf den Schädelflug folgenden Jahrhunderte immer wieder Zusammenhänge zwischen Phasen der Vernachlässigung des Grabes und ungünstigen Ereignissen wie Naturkatastrophen beobachtet. Besonders heftig spielte Masakado dem Finanzministerium mit, dessen Gebäudeneubau nach dem großen Erdbeben von 1923 auf Kosten des Schädelgrabs ging. Plötzlich gab es eine große Zahl unerklärlich versterbender oder bei Unfällen umkommender Mitarbeiter, darunter der Finanzminister Sasoku Seiji selbst – insgesamt 14 Tote in zwei Jahren. 1928 ließ man sicherheitshalber das Finanzministerium an dieser Stelle abreißen und das Schädelgrab restaurieren, woraufhin die Unfälle zunächst endeten, bis 1940, fast auf den Tag genau 1.000 Jahre nach Taira Masakados Tod, ein Blitz in einem Regierungsgebäude in Ōtemachi einschlug. Der folgende Großbrand zerstörte neun Regierungsbehörden, darunter das Finanzministerium.
Der entsetzte Finanzminister rief Shintō-Priester zu Pazifizierungsritualen herbei und ließ das Schädelgrab aufwändig in seinen Originalzustand von vor 1923 versetzen. Darüber hinaus verlegte er das Finanzministerium in das heutige Regierungsviertel Kasumigaseki in sicherer Entfernung. Das Land mit dem Schädelgrab fiel an die Stadt Tōkyō und bis heute hat sich hier ein vornehmes Geschäftsviertel entwickelt. Es sind die Firmen in den besonders gefährdeten Nachbargebäuden, die kein Risiko eingehen wollen und immer wieder Angestellte abstellen, um das Schädelgrab zu pflegen und zu schmücken, damit der rebellische Geist des Taira Masakado besänftigt wird.
Der erste Stadtgründer Ōta Dōkan (1432 – 1486)
In den Jahrhunderten vor und nach Taira Masakado galten die Provinzen »östlich der Bergkette« (Kantō) als zurückgeblieben und für einen kultivierten Menschen aus dem Kansai-Gebiet (den Provinzen »westlich der Bergkette« einschließlich der Hauptstadt Kyōto) als unerträglich. Die Bewohner des Kantō-Gebiets wurden als azuma ebisu (»östliche Barbaren«) bezeichnet, und das waka-Gedicht des aus Kyōto stammenden Adligen Ariwara Narihira (825 – 880) wurde zu einem Klassiker, der die Einsamkeit eines gebildeten Reisenden in dieser Region ausdrückte. Er hatte einen ihm unbekannten Vogel gesehen und von den Einheimischen erfahren, dass man diesen »Hauptstadtvogel« nannte.
»Wenn, wie dein Name sagt,
Du ein Vogel der Hauptstadt bist,
Dann sag mir bitte dieses:
Ist die Person, die ich zuhause liebe,
Noch am Leben oder nicht?«
Diese trostlose Momentaufnahme kontrastiert mit einem anderen waka-Gedicht, das in derselben Region 1486 als Sterbegedicht von Ōta Dōkan verfasst wurde:
»Hätte ich nicht gewusst,
Dass ich schon
Tot bin,
Beklagte ich den Verlust
Meines Lebens.«
Was war es, dass das Leben im Osten so viel lebenswerter gemacht hatte für Ōta Dōkan? In der Tat hatte sich seit dem 9. und 10. Jh., den Zeiten von Ariwara Narihira und Taira Masakado, viel verändert in der Region. Dazu gehörten das Auftreten des Ortsnamens »Edo« und ein bedeutender zivilisatorischer Aufschwung.
Ariwaras Kantō war noch im Wesentlichen eine einzige Graswüste mit vielen Sümpfen, die den größten Teil der Musashi-Ebene einschließlich des heutigen Stadtgebiets von Tōkyō bedeckte. Nur zwei Überlandstraßen führten vom Landeszentrum im Westen hierher, die Tōkaidō am Pazifik entlang sowie die Tōsandō über die Bergketten, die man heute auch als die Japanischen Alpen bezeichnet. Es gab reichlich Wasser von Flüssen, allen voran vom Arakawa und dem mächtigen Tonegawa, der den Kantō in einen Nord- und Südteil teilt. Häufige Überschwemmungen weiter Teile der Ebene erschwerten das Leben der wenigen Bauern, und auch von Mückenplagen wird berichtet. Am Meer gab es Fischer, außerdem wohnten Gruppen rauer Krieger vom Schlage des Taira Masakado und seiner Rivalen auf ihren Anwesen. Einer von diesen war der lokale Machthaber Edo Shigenaga, der ein Parteigänger der Minamoto war, die 1185 ihre neue Hauptstadt und den Sitz des Shōgun, also des faktischen Machthabers des Landes, nach Kamakura im Süd-Kantō verlegten. »Edo« bedeutet »Tor zur Bucht«, und bezog sich auf den von der gleichnamigen Familie kontrollierten Landstrich an der heutigen Bucht von Tōkyō. Die Stelle lag strategisch günstig am weiten Delta des Tonegawa. In der Nebenbucht von Hibiya gab es reichlich Fisch zu fangen, der Hirakawa-Fluss gab Frischwasser und die Kōjimachi-Hügel boten Schutz vor Überschwemmungen und Feinden. Zudem gab es einen Weg entlang der Küste nach Kamakura. Edo Shigenaga errichtete auf den nördlichen Hügeln eine Befestigungsanlage, das erste Fort Edo.
Im späten 15. Jh. wurde der größte Teil des südlichen Kantō-Gebiets vom Fürsten Uesugi Sadamasa (1443 – 1494) kontrolliert, der als sechste Person vom Shōgun zum Kantō kanrei ernannt worden war, also zu seinem offiziellen Stellvertreter in dieser Region. Das Shōgunat war zur Familie Ashikaga gewechselt, die in Kyōto residierte, und der Kantō kanrei hatte Kamakura zu seiner Regionalhauptstadt gemacht. Einer der Hauptvasallen der Uesugi war der 1432 geborene Ōta Sukenaga, ein robuster Kriegsmann. Ōta war vor allem als Stratege bekannt und erkannte die günstige Lage des alten Forts Edo. 1457 begann er umfangreiche Bauarbeiten und es entstand eine neue Burg, welche die Keimzelle der späteren Burg der Tokugawa-Shōgune und auch die Stätte des heutigen Kaiserpalastes werden sollte.
Ōtas Burg Edo dürfen wir uns nicht vorstellen wie die großen japanischen Schlossanlagen wie Himeji oder Ōsaka mit meterhohen Steinsockeln, riesigen Grabenanlagen und weißverputzten Aufbauten mit schweren Dachziegeln aus Ton. Diese Anlagen entstanden in ihrer Mehrzahl erst an der Wende vom 16. zum 17. Jh. Im 15. und größtenteils noch im 16. Jh. wurden Erdwälle aufgeschüttet und Palisaden und Gebäude aus Holz ausgeführt. Statt einer Lage in der Ebene mit weiten Gräben wählte man Lagen auf Hügel- oder Bergkuppen, deren topografische Merkmale geschickt in den Verteidigungsplan einbezogen wurden. Von Ōtas Edo ist bekannt, dass die Burg fünf »steinerne« Tore aufwies, was höchstwahrscheinlich nur bedeutete, dass die Tore steinerne Sockel besaßen. Dennoch demonstrierte das im damaligen Kantō-Gebiet erhebliche Stärke. Das Areal war in einen Haupthof, einen zweiten Hof und einen äußeren Hof dreigeteilt; hier liegt der Ursprung der späteren Höfe Honmaru, Ninomaru und Sannomaru der Burg der Tokugawa, wie sie heute noch in Tōkyō existieren. An Bauwerken gab es Wirtschafts- und Lagergebäude, Unterkünfte, zwei Türme sowie eine Residenz für Ōta selbst, der außerdem auch in Kamakura eine Residenz besaß.
Als der Ōnin-Krieg von 1467 – 1477 die ferne Hauptstadt Kyōto verwüstete, erwies sich das als Glücksfall für den Herrn von Edo. Viele Flüchtlinge mit spezialisierten Berufen oder sogar von Adel erreichten die Region und sorgten für einen wirtschaftlichen wie kulturellen Aufschwung. Das Dorf Hirakawa am gleichnamigen Fluss unterhalb der Burg entwickelte sich zu einer aufblühenden kleinen Burgstadt (jōkamachi), in die jetzt auch Händler kamen, die Fisch, Reis, Tee und sogar Importwaren aus anderen Ländern Asiens mitbrachten. Die weite Brücke Takahashi über die Mündung des Hirakawa wurde zu einem frühen Wahrzeichen von Edo, so wie der von Ōta Dōkan gegründete Sannō-Hie-Schrein zu einem der drei bedeutendsten Shintō-Heiligtümer Tōkyōs wurde. Die Stadtgestalt wurde auch durch die Umleitung eines Teils des Hirakawa-Flusses verändert, wodurch östlich der Kanda-Brücke ein neuer Fluss entstand, der heute von der zentralen Brücke Nihonbashi überquert wird, dem Ausgangspunkt der bedeutendsten Straßen des Landes. In den Jahrhunderten nach Ōta wurden weitere Flüsse umgeleitet und kanalisiert, Hügel abgetragen und Teile der Bucht aufgefüllt, bis sich die Stadttopographie zur heutigen entwickelte.
Ōta Sukenaga schor sich schon 1458 den Kopf und wurde Laienpriester. Dabei nahm er den buddhistischen Namen Dōkan an. Solche Konversionen waren unter Samurai nicht selten und sie bedeuteten in der Regel kein völliges Entsagen von der Welt. Sie konnten aber Entlastung von den Tagesgeschäften und von familiären Pflichten bringen.
Tokugawa Yoshinobu (1837 – 1913), der letzte der 15 Shōgune aus seinem Hause, aufgenommen 1867 in Ōsaka in höfischer Tracht von Frederick Wiliam Sutton aus der königlich-britischen Marine. In diesem Jahr gab der letzte Shōgun sein Amt an den Kaiser zurück und wurde zum Privatmann.
Ōta Dōkans Persönlichkeit ging weit hinaus über die eines erfolgreichen Militärs und Burgstadtgründers. Von ihm erzählt man sich eine Geschichte, wie er sich seiner mangelnden Bildung bewusst wurde. Eines Tages weilte er auf der Jagd, als ein plötzlicher Regen über ihn hereinbrach. Er hielt an einer einfachen Hütte an und fragte das dort lebende Mädchen, ob sie ihm einen Regenumhang aus Reisstroh leihen könnte. Wortlos brachte sie ihm ein Japanisches Goldröschen (yamabuki). Ōta Dōkan zog verwirrt und durchnässt von dannen. Erst später in seiner Residenz machte ihn ein Gefolgsmann auf die Bedeutung der Blumengabe aufmerksam. In einem alten Gedicht des Prinzen Kaneakira heißt es, das Goldröschen blühe sehr schön, aber brächte nichts hervor. Letzteres kann im Japanischen ein Wortspiel mit »hat keinen Regenmantel« bedeuten. Das beschämte Mädchen hatte ihm also »durch die Blume« zu verstehen gegeben, dass es zu arm war, um einen Regenmantel zu besitzen.
Von nun an arbeitete Ōta Dōkan an seiner Bildung und schrieb bald selbst Gedichte. Eines seiner berühmtesten, neben seinem Sterbegedicht, beschreibt die Lage seiner Burg Edo:
»Meine Behausung
Grenzt an einen Kiefernhain
An der blauen See.
Von ihrer bescheidenen Traufe aus
Kann man den sich erhebenden Fuji sehen.«
Auch für dieses Gedicht wird Ōta Dōkan bis heute geschätzt und geliebt, fasst es doch die über die Jahrhunderte andauernde Freud...