1.1 Eine Geschichte der deutschen Sprache ist eine Geschichte für die deutsche Sprache
Eine Geschichte der deutschen Sprache bzw. eine deutsche Sprachgeschichte zu schreiben heißt nicht, die Geschichte der deutschen Sprache aufzuschreiben oder zu erzählen, mit der Voraussetzung, die deutsche Sprache habe eine Geschichte durchlaufen. Eine Geschichte der deutschen Sprache bzw. eine deutsche Sprachgeschichte zu schreiben heißt vielmehr, eine Geschichte für die deutsche Sprache zu schreiben, ihr als Nutznießer des historiographischen Handelns eine Geschichte zuzuschreiben und sie anderen zum Lesen, Verstehen und Erinnern an die Hand zu geben. Damit ist mehr gemeint als nur das konstruktivistische Bekenntnis, dass die deutsche Sprache an sich keine Geschichte hat, sondern dass der Historiograph ihr eine solche zuschreibt. Eine Geschichte für die deutsche Sprache zu schreiben setzt vielmehr eine spezifisch historiographische Parteinahme für die deutsche Sprache voraus: Nur wenn der Historiograph der deutschen Sprache zubilligt, dass sie eine Geschichte verdient hat, dass sie ihm diesen Aufwand wirklich wert ist, dann wird er ihr eine Geschichte schreiben. Und nur, wenn der Leser diese Auffassung teilt, dann wird er auch die Mühe aufbringen, diese Geschichte verstehend und erinnernd zu verarbeiten. So muss man sich den historischen Kontext der ersten hier behandelten Geschichte der deutschen Sprache von Jacob Grimm (1848) vorstellen. Und so soll man auch die textsortenspezifische Aufgabe verstehen, die ich an die aktuellen Sprachgeschichten herantrage: Eine Sprachgeschichte, die nicht für die deutsche Sprache geschrieben wird – für welche Aspekte der deutschen Sprache man sich dabei auch immer engagiert – muss als historiographischer Text scheitern.
Eine Geschichte der deutschen Sprache ist eine Geschichte über die deutsche Sprache und für die deutsche Sprache. Das mag etwas betulich klingen, und deshalb bleiben die Autoren bei der nominalen Komprimierung und Zweideutigkeit. Das Genitivattribut ist ambivalent: Man kann es zum einen als Genitivus subiectivus verstehen, mit der Bedeutung: Die deutsche Sprache hat eine Geschichte durchlaufen, die deutsche Sprache geschah in der Zeit, und diese Zeit, diese Vergangenheit gehört nun zu ihr (eine Variante des possessiven Genitivs „im weiten Sinn“, die wohl eine lexikalische Präferenz im Umgang mit dem Ausdruck Geschichte bildet, vgl. Duden-Grammatik 92016, § 1266 ff.)1. Man kann ihn aber auch als Genitivus possessivus im engeren Sinn auffassen: Die deutsche Sprache hat eine Geschichte, so wie manche Leute eine hohe Stirn, ein großes Auto oder politische Macht haben. Der Genitivus possessivus im engeren Sinn wird nicht beschrieben in der Duden-Grammatik (ebd.)2. Ich meine: Mit dem Genitivus possessivus im engeren Sinn wird eine Teil-, Besitz- oder Verfügungsrelation ausgedrückt (vgl. Polenz 21988, 171). Eine Geschichte ist ein symbolisches Gut; man schreibt also eine Geschichte der deutschen Sprache so, dass man deutlich macht, inwiefern die deutsche Sprache in dieser Geschichte etwas Wertvolles besitzt, inwiefern die deutsche Sprache über ihre Geschichte wie über ein Macht- oder Handlungspotential verfügt, auch inwiefern sie sich durch ihre Geschichte als konstituierenden Teil ihrer selbst definiert oder versteht. Da man aber das Besitzen, das Verfügen und das Sich-Verstehen normalerweise Menschen zuschreibt, eröffnet der Titel zugleich eine Leerstelle: Wer kann, darf oder soll glauben, eine Geschichte zu gewinnen, wenn der deutschen Sprache eine Geschichte geschrieben wird? Der Sprachhistoriograph wendet sich an Rezipienten, die sich, wie er selbst, für die deutsche Sprache interessieren – die deutsche Sprache ist dabei aber immer irgendwie ein Umweg zu den Rezipienten selbst. Ihnen eignet er seine Geschichte der deutschen Sprache zu, als Teil ihres Selbstverständnisses, zum Wissenserwerb und zur theoretisch-praktischen Verfügung. Am Ende sollen sie sagen können: Ja, das ist auch meine Geschichte, das ist eine Geschichte für mich.
Eine Geschichte für die deutsche Sprache soll auch eine Geschichte sein über die deutsche Sprache und über die Vergangenheit, welche sie durchlaufen hat. Ein solcher Text soll darstellen, wie sich die deutsche Sprache in der Zeit bis heute vollzogen hat derart, dass dieses Geschehen irgendwie zu ihr gehört. (Ich spreche hier über den Genitivus subiectivus bzw. den Possessivus im weiten Sinn). Insofern muss sich der Text auf Sachverhalte beziehen, die datierbar und lokalisierbar sind. Es werden Personen, Handlungen, Vorgänge, (einigermaßen) konkrete Gegenstände und abstrakte Größen aufgeführt, die zeitlich und räumlich einzuordnen und auf diesem Wege für den Leser in die Vergangenheit zurückzuverfolgen sind. Weil das so ist, werden sie als real (als geschichtlich im Sinne von real) angesehen. In einer Sprachgeschichte muss der Historiker nicht den Beweis erbringen, dass Martin Luther wirklich gelebt hat. Es genügt zu sagen, wann er gelebt und wo er gewirkt hat. Überall im Text kommen also historische Realien vor, die der Historiograph mit den historischen Eckdaten und, wenn vorhanden, mit einem Eigennamen aufführt, um sie historisch zu identifizieren. Er schreibt – in chronologischer Reihenfolge – unter anderem über die Germanen, das Lateinische, die zweite Lautverschiebung, über Karl den Großen, über die mittelhochdeutsche Auslautverhärtung, die höfische Dichtung, über Kaiser Karl IV., über die nhd. Diphthongierung und die md. Monophthongierung, die Mentelbibel und die Lutherbibel, die 12 Artikel der Bauern, über die Fruchtbringende Gesellschaft, über das Französische, über das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten, über Klopstock und Goethe, über die Romantik, die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, über die I. und die II. Orthographische Konferenz, über den Allgemeinen Deutschen Sprachverein, die Sprache des Faschismus und die Sprache der Jugend im 20. Jh. usw. usf. Der definite Artikel hat im Rahmen dieser chronologischen Zusammenstellung die gleiche historisch identifizierende Funktion wie ein Eigenname: Wenn über das Lateinische geschrieben wird, dann wird es wie auch Karl der Große oder das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten als (in diesem Falle langwährendes) historisches Individuum aufgefasst. Beim historiographisch-chronologischen Schreiben darüber muss es raum-zeitlich verortet und/oder – zum Zwecke der Identifizierung – mit einer Kennzeichnung versehen werden (Polenz 1978, 122; Veyne 1990, 101). Es kann bei der historiographischen Rede über das Lateinische immer nur um das Lateinische im 1. Jahrhundert nach Christus gehen oder um das humanistische Latein usw. Solche konventionellen „Indices“ (der identifizierende Artikel, der Eigenname, die Einordnung in Raum und Zeit) „halten uns fest mit den Realitäten verbunden“ (Peirce 1893/2000, 201) und sind die Voraussetzung dafür, dass eine Sprachgeschichte informativ sein kann.
Als historisch identifiziertes oder identifizierbares Individuum wird auch die deutsche Sprache aufgefasst. Das Motiv, eine Sprachgeschichte (produktiv oder rezeptiv) „in die Hand zu nehmen“, wird in der Regel darin gesehen, dass in Erfahrung zu bringen sei, wann diese individuelle historische Sache wo und wie begann, und wie sie wo und wann sich fortsetzte. Autor wie Leser suchen dabei (im Sinne von Peirce) nach einer Verbindung mit der Realität der deutschen Sprache. Es handelt sich aber bei einer Sprachgeschichte nicht um eine biographische Schrift, in der man die Identität des Protagonisten – einer historischen Person wie Joseph Roth oder Hannah Arendt – einfach voraussetzen kann. In einer Geschichte der deutschen Sprache hat die deutsche Sprache eine viel weiter reichende Funktion: Sie bildet die begriffliche Klammer für die Darstellung all der vielen historischen Einzelheiten und garantiert Textkohärenz. Das sieht man schon an dem zuweilen unpräzisen Titel: Weil eine Biographie Hannah Arendts eine biographische Schrift über (und nicht für) die Person ist, kann sie keine Arendtsche Biographie sein und kann auch nicht den Titel Arendtsche Lebensgeschichte tragen oder Geschichte des Arendtschen Lebens. Die Integrität der Person ist in Text und Titel unbedingt vorausgesetzt. Eine Geschichte der deutschen Sprache hingegen kann jederzeit Deutsche Sprachgeschichte heißen3, weil hier viel weniger über die deutsche Sprache als vielmehr für die deutsche Sprache (auch für die Geschichte, die Sprachgeschichte, die deutsche Sprachgeschichte und für das Deutsche) geschrieben wird, und vor allem für all diejenigen, die sich für diese Begriffe interessieren. Die Frage beispielsweise, seit wann die deutsche Sprache existiert, ist, auch wenn man auf eine Metaphorik von Leben, Blüte und Verfall verzichtet, in Wirklichkeit immer eine Form verrückten Sprechens. Einen absoluten Beginn der deutschen Sprache, ob (mit Genitivus obiectivus) als Gründungsakt oder (mit Genitivus subiectivus) als Geburt, kann niemand ernstlich erwarten. Jeder postulierte Beginn der deutschen Sprache wäre ein Beginn für sie: Der Historiograph würde damit sagen, ab wann die Gemeinschaft der sprachlich/sprachgeschichtlich Interessierten bei der Rede über die Vergangenheit von der deutschen Sprache sprechen kann, inwiefern sie dies beim Durchgang durch die Jahrhunderte tun kann, ab wann und inwiefern es für diese Gemeinschaft angemessen und gut ist, von der deutschen Sprache zu sprechen. Für die deutsche Sprache zu schreiben und ihr als Historiograph eine Geschichte, einen Anfang und eine Weiterentwicklung zuzuschreiben, läuft darauf hinaus, begriffliche Arbeit zu leisten. So wird in jeder Sprachgeschichte anhand der Rede über die Realien der Vergangenheit ein Begriff von der deutschen Sprache bereitgestellt, der in die Gegenwart von Autor und Leser passt.
1.2 Die deutsche Sprache ist ein historischer Begriff (unter historischen Begriffen)
Diese begriffliche Arbeit vollzieht sich nicht im Wesentlichen nach wissenschaftlichen Kriterien, denn ein theoretischer oder fachsprachlicher Terminus kann aus der deutschen Sprache nicht mehr werden. Dafür ist sie dem Historiographen (wie jedem anderen auch) sowieso schon viel zu sehr zum Begriff geworden. Die deutsche Sprache ist ein historischer Begriff. Bei dem französischen Historiker Paul Veyne (1971/1996; 1990), der sich für seine Geschichts- und Begriffskritik Anregungen aus der analytischen Geschichtsphilosophie geholt hat, heißt das: Ein historischer Begriff (er nennt als Beispiele Krieg, Revolution, Religion) ist „ein irdischer Begriff“, also ein Begriff, den wir alle sowieso schon aus vielfältigen lebenspraktischen Bereichen kennen4. Er ist mit der Vielfalt lebensweltlicher Erfahrung in einem solchen Maße gesättigt, dass man – selbst wenn man es wollte – gar keine theoriefähige Definition dafür geben könnte. Die Forschungspraxis, in der Veyne sich als Praktiker der römischen Geschichte gut auskennt, hebt diese Erfahrung nicht auf. „Wir wissen sehr viel mehr“ von der deutschen Sprache (wie von jedem anderen historischen Begriff), „als jede mögliche Definition uns sagen kann, aber wir wissen nicht, was wir wissen […]“ (Veyne 1990, 95). Auch für den Wissenschaftler also sind die vielen und vielfältigen Erfahrungen, die er im Umgang mit der deutschen Sprache gemacht hat, nicht alle bewusst, geschweige denn systematisch abrufbar. Wenn der Historiograph in einer Sprachgeschichte von der deutschen Sprache spricht, dann nimmt er, ob er will oder nicht, immer Bezug auf persönliche und kollektive, gruppenspezifische Erfahrungen, die ihm beim Akt des Schreibens gar nicht alle bewusst sein können. Der definite Artikel trügt: Er ermöglicht ihm hier weder die historische Identifizierung des Redegegenstandes noch eine präzise begriffliche Abgrenzung. Wo der Autor sich auf den Begriff der historischen Erfahrung bezieht, dient der Artikel einzig und allein als anaphorischer Artikel. Mit ihm signalisiert er dem Leser: Wir kennen sie schon, die deutsche Sprache, und wir verbinden mit ihr ähnliche Erfahrungen.
Diese Erfahrungen beziehen sich auf viele Erfahrungsbereiche. Sie mögen gegenwärtig Vorstellungen umfassen, die in den Bereich der (deutschen/deutschsprachigen) Kultur hineinreichen, in den Bereich der allgemeinen (deutschen) Geschichte oder der deutschen Gesellschaft, nach wie vor in die Frage nach der deutschen Nation, in verschiedene Wissens- und Fachbereiche und Berufsgruppen, in den Bereich von Öffentlichkeit und Politik oder in den von Literatur und Dichtung, von Bildung und Schule, von Alphabetisierung und Rechtschreibung, von Schrift und Verwaltung, von Wissenschaft und Ökonomie, in den Bereich der digitalen Medien usw. usf. Das alles sind selbstverständlich Bereiche, die mit Interesse und Empathie, mit moralischen Bedenken, mit Ärger oder auch mit historisch geronnenem Desinteresse verbunden sein können. Sie alle werden in einer Sprachgeschichte mitverhandelt. Niemand würde zwar ausgerechnet eine Sprachgeschichte aufschlagen, um sich mit diesen Erfahrungsbereichen auseinanderzusetzen. Aber das ist unrecht: Weil die deutsche Sprache prinzipiell überall zu Hause ist und weil auch die Historiographen dauernd mit ihren vielen Funktionen beschäftigt sind, behandeln sie bei ihrer Rede für die deutsche Sprache und ihre Geschichte prinzipiell alles, was für sie von Belang ist: die deutsche Identität und den deutschen Nationalismus, das Verhältnis zu den Nachbarstaaten und den Platz Deutschlands in Europa und der Welt, sie behandeln das Politische und das Private, die Religion und die Wissenschaft, die Rechtsprechung und die Ökonomie, die Schule für die Kinder, die Bildung für die Frauen, die Pflichten für die Männer5 und alle anderen nur denkbaren Erfahrungsbereiche6. Sie tun das nicht wissenschaftlich-neutral, sondern mit allen schmerzhaften und guten historischen Erfahrungen, die für unsere Gesellschaft konstitutiv sind.