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Tailor your Life: 10 Strategien für eine erfolgreiche Vereinbarkeit
In meinem Leben wurde mir häufig die Frage gestellt, wie ich die vielen Dinge, die ich tue, unter einen Hut bekomme. Lange Zeit habe ich auf diese Frage nur mit einem Achselzucken und dem Hinweis geantwortet, dass ich es selbst nicht so genau wüsste – es ginge einfach irgendwie. Mittlerweile jedoch kenne ich die Antwort: Auch ich wende die Strategien des Tailor-your-Life-Prinzips an, heute aber bewusst, nicht unbewusst wie zuvor. Damit dieses Konzept entstehen konnte, habe ich das getan, was man als Wissenschaftlerin tut, wenn man auf eine offene Frage keine Antwort hat: lesen und forschen.
Mit dem Ziel herauszufinden, welches Geheimnis Personen haben, die von sich behaupten, ihre Lebensbereiche erfolgreich miteinander vereinbaren zu können (ich nenne sie »Vereinbarer«), machte ich mich auf die Suche nach möglichst vielen Informationen zu folgenden Fragen: Was machen die zufriedenen »Vereinbarer« anders als jene, die sich von den vielen unterschiedlichen Aufgaben und Anforderungen in ihrem Leben erschöpft fühlen? Wie bekommen die offensichtlich ausgeglichenen Menschen all ihre Lebensbereiche einigermaßen stressfrei unter einen Hut, und wie unterscheiden sich die Einstellungen von Personen, die angeben, mit der Vereinbarkeit ihrer Lebensbereiche zufrieden zu sein, von den Einstellungen derjenigen, denen die Vereinbarkeit ihrer Lebensbereiche nach eigenen Angaben großen Stress bereitet?
Um diese Fragen zu beantworten, habe ich mich zunächst mit zahlreichen Studien zum Thema Work-Life-Balance und Vereinbarkeit sowie mit verwandten Themen wie Zeitmanagement, Stressprävention etc. auseinandergesetzt und wichtige Erkenntnisse daraus zusammengefasst. Klienten und Klientinnen, die zu Beginn eines Coachingprozesses über eine schlechte Vereinbarkeit ihrer Lebensbereiche klagten, sich am Ende jedoch befreit und zufrieden fühlten, lieferten mir Daten zu offenbar hilfreichen Lösungsansätzen. Schließlich habe ich eine anonyme Umfrage zum Thema Work-Life-Balance und Vereinbarkeit unter Führungskräften durchgeführt, um wirksame Strategien der Vereinbarkeit herauszufiltern.
Aus all diesen Informationsquellen habe ich die nachfolgenden Strategien abgeleitet und in das Tailor-your-Life-Prinzip überführt, von dem ich nun überzeugt behaupte: Wenn man diesem Prinzip aktiv folgt, gelingt es, ein erfolgreiches und zufriedenes Leben mit Kindern, Karriere & Co. zu führen. Probiere es einfach selbst aus, denn: Was hast du schon zu verlieren?
1. Gib dein Leben in die In(tro)spektion!
Das Beispiel von Torben in Kapitel 2 hat gezeigt, dass sogar diejenigen nicht unbedingt zufrieden mit ihrem Leben sein müssen, die von außen betrachtet erfolgreich sind, weil sie viel Geld verdienen, einen anerkannten Job und Kinder haben, weil sie in einer Partnerschaft leben und ein Haus, ein Auto und eine Ferienwohnung besitzen. In seinem Buch »Resilienz«36 unterscheidet Autor Denis Mourlane die Erfolgreichen von »wirklich« Erfolgreichen. Erfolg werde in unserer Gesellschaft häufig am beruflichen und finanziellen Status und somit auch an materiellen Dingen gemessen. Ein erfolgreiches Leben hingegen äußere sich eher in einer inneren Zufriedenheit, die dadurch entsteht, dass unsere menschlichen Grundbedürfnisse (s. o.) erfüllt werden. Die »wirklich« Erfolgreichen, so Mourlane, erkenne man deshalb nicht an ihrem äußeren Besitz, sondern daran, dass sie ein Leben führten, auf das sie am Ende mit Erfüllung und Dankbarkeit und ohne Reue zurückblickten. Frage dich selbst: Was müsste in nächster Zeit passieren, damit du an deinem 80. Geburtstag sagen könntest »Wenn ich so zurückblicke, dann bin ich im Großen und Ganzen zufrieden mit meinem Leben!«?
Die australische Palliativkrankenschwester Bronnie Ware begleitete und pflegte viele Jahre lang todkranke Menschen in ihren letzten Lebenswochen. Ihre Erfahrungen und Gespräche mit den Patienten dokumentierte sie in ihrem Blog Inspiration and Chai. Der dort veröffentlichte Artikel The Top Five Regrets of the Dying wurde vielfach verbreitet und erreichte innerhalb eines Jahres mehr als drei Millionen Leser. Ware hatte die sterbenden Patienten danach gefragt, was sie, am Ende ihres Lebens stehend, am meisten bereuen würden, und die Ergebnisse ihrer Studie in diesem Blogartikel veröffentlicht. Im Jahr 2011 erschien ihr Sachbuch Top Five Regrets of the Dying37.
Auf Platz eins der Liste fand sich der Wunsch der Patienten, dass sie gern ein anderes Leben geführt hätten, eines, das mehr ihren eigenen Vorstellungen statt den Erwartungen anderer entsprochen hätte. Die Frage, die sich hier stellt, ist:
Wer ist dafür zuständig, dass wir das Leben leben, das wir leben wollen, wenn nicht wir selbst?
Der Psychologe Carl Jung sagte einmal: »Ich bin nicht das, was mir passiert ist, sondern das, was ich beschlossen habe zu sein.« Wer nun also erfolgreich und damit auch zufriedenstellend seine verschiedenen Lebensbereiche, wie Familie, Beruf, Freunde, Hobbys, soziales Engagement etc., unter einen Hut bekommen möchte, sollte damit anfangen, sich selbst zu fragen, wie genau ein zufriedenstellendes Lebensmodell für ihn aussähe.
Die meisten Menschen, die zu mir wegen Überlastung in die Coachingpraxis kommen, können mir sehr genau sagen, was ihnen an ihrem Leben derzeit nicht gefällt. Sie wissen meistens sehr genau, was sie nicht wollen: Sie wollen nicht mehr so abgehetzt sein, sie wollen nicht dauernd To-do-Listen wälzen oder ein anhaltend schlechtes Gewissen haben.
Wenn ich sie frage, was genau sie stattdessen wollen, was genau sie bräuchten, damit sie wieder zufrieden wären, und woran sie merken würden, dass das Leben dann genau so wäre, wie es sein sollte, müssen sie oft erst lange überlegen.
Häufig geht es dann um Zeit: mehr Zeit für die Kinder, mehr Zeit für die Arbeit, mehr Zeit für sich selbst. Grundsätzlich ist das schon einmal ein guter Schritt in die richtige Richtung, allerdings nicht ausreichend, um wirklich eine Besserung der Situation herbeizuführen, denn obwohl allein sie Herr/Frau ihrer Lebenszeit sind, schaffen es meine Klienten offenbar nicht, diese auch so zu nutzen, wie sie es gern hätten. Irgendetwas oder irgendwer hält sie ständig davon ab.
Im Grunde ist es immer das Gefühl, etwas ungewollt tun bzw. in einer bestimmten Zeit leisten zu müssen. Dieses Gefühl basiert aus unserer Sicht auf den Erwartungen anderer. Die Chefin, der Kunde, die Kinder, alle erwarten unserer Meinung nach offenbar, dass man zu gewissen Zeiten etwas Bestimmtes leistet, und da ihre Zeitplanung nicht mit unserer gewünschten eigenen Zeitplanung übereinstimmt, haben wir das Gefühl, die Kontrolle über unser eigenes Leben verloren zu haben. Wir fühlen uns entsprechend wie im berühmten Hamsterrad, das sich dreht und dreht, und wir rennen nicht mehr im eigenen Tempo, sondern im Tempo des Rades.
Wenn ich meine Klienten dann frage, wer für die Organisation ihrer (Lebens-) Zeit verantwortlich sei, antworten sie meist sehr kleinlaut, dass sie selbst es seien, sie aber nicht wüssten, wie sie dann darüber hinaus die Erwartungen der anderen erfüllen könnten. Ignorieren sei teilweise keine Option, weil sie andernfalls ihren Job oder auch eine Beziehung zu verlieren riskierten.
Um der Sache tiefer auf den Grund zu gehen und herauszufinden, wo genau meine Klientinnen selbst ansetzen könnten, ihr Leben mehr in ihrem Sinne zu gestalten, bitte ich sie grundsätzlich darum, mir zunächst einmal genau zu erläutern, womit sie ihre Zeit verbringen. Ich frage sie auch, wie viel Zeit genau sie zusätzlich bräuchten, um zufriedener zu sein. Auch möchte ich wissen, wofür genau sie die Zeit dann nutzen möchten und wie sich dadurch ihre Grundbedürfnisse erfüllen würden. Oft stellt sich dann heraus, dass es ihnen schon ausreichen würde, die Arbeit ein oder zwei Stunden pro Woche früher verlassen zu können, um z. B. noch Sport zu machen (Grundbedürfnis Lust/ Unlustvermeidung). Manchmal wünschen sie sich einfach einen Tag im Homeoffice, der ihnen das Pendeln zur Arbeit ersparen und ihnen mehr Flexibilität einräumen würde, um zum Beispiel die Kinder entspannt vom Kindergarten einzusammeln (Autonomie). Manche stellen aber auch fest, dass sie aus einer Teilzeitarbeit in ei...