Bericht No.: 02 / Thema: Heimat, süße Heimat / Zeitpunkt: ca. 1948
Abschied
Nun ade, du mein lieb Heimatland,
lieb Heimatland, ade!
Es geht jetzt fort zum fremden Strand,
lieb Heimatland, ade!
Und so sing’ ich denn mit frohem Mut,
wie man singet, wenn man wandern tut;
Lieb Heimatland, ade!
…42
Ich weiß gar nicht, ob ein einfacher IM es wagen darf, über ein so hohes Diskussionsthema zu berichten. Scharen von Wissenschaftlern haben sich immerhin dran gerieben … Ich will eigentlich auch nur aus Heinrichs Frühzeit berichten, einer Zeit nach dem großen verlorenen Krieg und vor der offiziellen DDR-Gründung, 1949. Das obige und heute kaum noch gesungene Volkslied habe ich natürlich hinterhältig vorangestellt, denn damals, in der SBZ,43 wurde es nicht mehr gesungen, und Heimatgefühle waren untersagt. Dafür waren Hunger, Not und Pein an der Tagesordnung und dieses, wenn man den neuen Propheten glauben sollte, aufgrund der ausgeuferten Heimatliebe der Deutschen. Für unendlich viele Deutsche, sie fühlten sich nach Kriegsende immerhin noch als solche, gab es plötzlich und unerwartet eine 2. Heimat – und eine teilweise oder ganz und gar verlorene. Im Zuge der bis heute beobachteten Entwicklung muss man allerdings bald feststellen: jedes Staatswesen, auch ein Gefängnis, das vorgibt Staat zu sein, legt irgendwann gesteigerten Wert auf die Heimatgefühle seiner Bürger, oder eben seiner Insassen. Besonders dann, wenn es kriegerische Auseinandersetzungen mit seinen Nachbarn plant. Das ist ein Weg, sich ihrer zu versichern, ganz sicher war und ist man sich ihrer allerdings nie, wie es sich mehrfach gezeigt hat! Es gibt darüber hinaus natürlich noch reichlich andere Mittel und Wege zum bösen Zweck – ich habe, wie gesagt, erst mal über Klein-Heinrichs »Heimat« zu berichten.
Nach den kriegsüblichen 3 Tagen erlaubter Plünderung durch die »siegreiche Sowjetarmee« nach dem 1. Mai 1945, also Mord und Vergewaltigung inklusive, wurde von der sowjetischen Armeeführung Ruhe und Ordnung befohlen – es wurde eine Kommandantur eingerichtet, die für alles und jedes zuständig war, auch für die besiegte deutsche Bevölkerung. Natürlich trat die befohlene Ruhe erst sehr langsam ein, und wie man heute vollständig und sachkundig erfährt, nach Abtransport und Liquidation unzähliger echter oder denunzierter Kriegsverbrecher – Kapitalisten, Kulaken (russ. Großbauern – Stalin hatte damit zuvor eine riesige Hungersnot angerichtet) eben. Und zwar, das wurde den Insassen des späteren DDR gern verschwiegen, in die Lager und KZs der Nazis oder gleich nach »Sibirien«, wie es im Volksmund hieß. Wirtschaftsgüter als Reparationszahlungen wurden in der SBZ, in die Heinrichs nun hinein geboren war – auf seiner Geburtsurkunde befindet sich noch der Adler mit dem Hakenkreuz – im erhöhten Maße eingefordert. Die ruhmreiche Sowjetarmee und ihre Begleiter waren schon das, was wir erst später im DDR unter ihrer Anleitung werden sollten, Kommunisten oder wenigstens Sozialisten. Kinder waren damals wie heute einfach nur Kinder, wenn sie die Nachkriegszeit (auch so sprach man damals) denn überleben konnten … Ganze Betriebe, ganze Bahnstrecken wurden demontiert und in die siegreiche Sowjetunion »verlegt«.44 Hansi hat noch einen Spruch dazu im Gedächtnis – hinten in der verstaubten Ecke, die man im DDR nicht betreten durfte: »Die Deutsche Reichsbahn fährt auf Kruppstahl, die sowjetische Staatsbahn auf ›Diebstahl‹ « … Bahnhöfe waren hauptsächlich Verladestation für Panzer und Soldaten dieser Sowjet-Armee, die nachts schon mal auf Beute – hauptsächlich Frauen und Uhren, Fahrräder und Schnaps – gingen. Sie waren gefürchtet, die Sowjetsoldaten, die nach einem für sie endlos langen Krieg oft wenig menschliche Moral und Ethik besaßen und obendrein Sieger waren. Heinrichs erlebte in ganz jungen Jahren eine SBZ, in der es nur einen Heimatbegriff geben durfte: »Mütterchen Heimat, Mütterchen Russland«. Dazu nutzte man alle Mittel einer Holzhammerpropaganda und manchmal auch den Schmusekurs, den Gesang des Alexandrow-Ensembles45 – den der stimmgewaltigen Sowjetsoldaten. Sie sangen schon 1946 in Berlin auf dem Gendarmenmarkt das zukünftige Bruderbündnis mit der Sowjetunion mit ihren Heimatliedern ein. Sie sangen auch gern mal ein deutsches Volkslied, bevorzugt »Im schönsten Wiesengrunde ist meiner Heimat Haus …«.
In Potsdam ist nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands der weitere Verfahrensweg und die Bestrafung des Verlierers ausgehandelt worden. Hier wurde auf Wunsch von Stalin auch die Inbesitznahme östlicher Landesteile von Deutschland und damit die Vertreibung von mehr als 12 Millionen Deutschen aus ihrer bisherigen Heimat abgenickt.46 Bald mochten sie, die so unterschiedlichen Sieger, einander nicht mehr, zu unterschiedlich waren ihre Vorstellungen von der Demokratie, also einer Volksherrschaft. Sie wurden sogar zu bitterbösen Feinden (Stichwort: »Kalter Krieg«). Heinrichs und seinen Mitbewohnern in der SBZ und dem späteren DDR wurde Stalin als Übervater der ganzen guten Welt und Befreier vom Bösen präsentiert – eine deutsche Heimat wäre dabei höchstens störend gewesen. Propagiert und eingebläut wurde den Bürgern der SBZ, und erst recht denen des darauf folgenden DDR, die neue Ostgrenze, die »Oder Neiße-Friedensgrenze«.
Die ältere Dorfjugend erholte sich vom Krieg und den für sie allgegenwärtigen Beschwernissen und benahm sich ausgesprochen unanständig im Sinne der bisher gekannten und verordneten deutschen Heimat-Anständigkeit – sie tanzte ungeniert den Schieber »Tschia Tschia Tscho …« mit eigenem Text: »Käse gibt es im HO…«.47 Heinrichs war für solche Dinge noch zu jung. Und alles Liedgut von früher und aus den verlorenen Landstrichen (oder fast alles, wie Hansi weiß) ging verloren und durfte bei Strafe nicht mehr intoniert werden. In den westlichen Besatzungszonen wurde diese Art von Heimatraub nicht so brutal durchgesetzt. Die Deutschen, die partout nicht davon lassen konnten, wurden aber ziemlich schlecht gemacht und die dazu gehörigen Volkslieder und ihre Sänger wurden belächelt – nein, sogar verteufelt, besonders, wenn sie aus den ehemals deutschen Landstrichen kamen, aus denen sie mit (oder aufgrund?) ihrer Heimatliebe vertrieben worden waren. Sie wurden zu Revanchisten.48
Ganz fern schweben Heinrichs einige Bilder aus dieser Zeit vor Augen, die Erinnerungen an das Ende des 2. Weltkriegs sein könnten, wenn sie hier noch wichtig wären. Sie sind es nicht mehr. Da standen die von den Äckern gesammelten Bomben und Granaten auf einem Sammelplatz – so gut wie nicht gegen den Zugriff der freien Dorfjugend geschützt. Man hatte sich einfach nicht so, nach einem so mörderischen Kriegsgeschehen. Hin und wieder flogen dann auch ein paar Kinder in die Luft, die dort gespielt hatten. Schlimm, aber in einer Welt, wo in jeder Familie Opfer des Krieges zu beklagen waren, wo Hunger, Seuchen und Krankheiten umgingen und laufend ein paar Todesopfer forderten, weit weniger beachtet als beispielsweise heute. Heinrichs musste in sehr jungen Jahren mit in die Nähe dieser explosiven Felder, denn es mussten Ähren gelesen werden – die Getreidekörner, die nach der Herbsternte sonst auf den Äckern liegen geblieben wären.
Getreideernte
Über die Felder patrouillierte der Bauer mit seinem Hund und kontrollierte und verjagte die Frauen aus der nahen Stadt, die an seine Hocken gingen. Das waren die zum Trocknen aufgestellten Korngarben (also gebündelte Halme, an denen die begehrte Beute, die Kornähren hingen). Nur Heinrichs Mutter wurde nie verjagt – sie war auf ihre Art Dame und Respektsperson, eine allein erziehende Mutter von zwei Lausbuben, die sich auch hungernd niemals an fremdem Eigentum vergriffen hätte. In einem Bettbezug wurde die Beute dann im Zimmer (die Wohnung bestand aus einem Zimmer für alle, zum Wohnen, Schlafen – eben zum Leben) unter dem Tisch deponiert und musste auch hier ständig vor den lebenslustigen Mäusen gesichert werden.
Heinrichs saß, nachdem er das 6. Lebensjahr einigermaßen gesund erreicht hatte, in der mehrklassigen Schule auf Vorkriegsschulbänken, auf denen schon die Väter der heutigen Jugend gebrütet und ihre Taschenmesser probiert hatten (jedenfalls die Väter der heimat-angestammte Dorfjugend – inzwischen waren Scharen von heimatlosen hungernden Flüchtlingskindern dazu gekommen). Selbst der Herr Lehrer stammte noch aus der Vorzeit, wenn er sich im Nazisystem der Deutschen nicht nachweislich schuldig gemacht hatte, und er regierte noch mit all den Tugenden, die er seinerzeit in Deutschland studiert hatte.
In der Schule wurden neue und teilweise seltsame Dinge gelehrt. Es gab auch kleine geringfügige Widerstände gegen die gar zu große Verehrung neuer Werte und Götter, die allesamt aus der Sowjetunion kamen. Aber immer stärker wurde gegen den Feind im Westen und in Amerika gehetzt. Der Amerikaner schickte angeblich Fesselballons in den Osten, aus dem es Kartoffelkäfer regnete und diese waren dann für den steten Hunger die Ursache, alle Schüler wurden in die Felder gejagt, um die amerikanischen Käfer zu sammeln. Es gab tatsächlich Propagandaballons und diese trugen Flugblätter, die von den Kartoffelkäfersuchenden leicht gefunden werden konnten. Da standen Dinge drin, die den Gefängniswärtern furchtbar im Magen lagen. Auch Heinrichs kann sich erinnern, dass er solche »Himmelsbriefe« auf dem Weg zur Schule gefunden hat – sein Verständnis dafür war allerdings gering ausgeprägt, zumal diese Himmelsbriefe oft von verrückten religiösen Sekten geschrieben wurden. Hansi berichtet:
»Einmal im ¼ Jahr wurde HANSI als Landwirtschaftslehrling über den Umgang mit diesen Flugblättern unterwiesen: Nicht lesen! Aber auch nicht vernichten, sondern bei der Obrigkeit – in seinem Fall bei der Schulleitung – abgeben. Vermutlich wollten Schulleiter und Parteisekretär auch mal etwas anderes lesen … Als besonders verwerflich ...