Nach Nordfriesland
Wind um die Nase wehen lassen– In /Auf Eiderstedt
Sommer liegt über dem Land, das sonnige Wetter wird sich, scheint es, so schnell nicht verabschieden. Ein Ausflug nach Eiderstedt steht heute auf dem Programm.
»Heißt das eigentlich in oder auf Eiderstedt?«, will Otto wissen.
»Gute Frage. Weiß ich auch nicht.«
Damit muss Otto sich zufrieden geben. Tut er aber nicht, sondern stichelt:
»Und so was nennt sich Schriftsteller. Kann nicht mal richtig Deutsch.«
Ich schweige gekränkt, aber, so hoffe ich jedenfalls, voller Würde.
»War nicht so gemeint«, lenkt Otto ein.
»Schon gut«, gebe ich mich großmütig. Otto will noch mehr wissen:
»Sag mal, Eiderstedt, war das nicht mal eine Insel?«
»Ja, Otto, richtig. Genauer gesagt, es waren drei. Drei Geestinseln, die von der vorletzten Eiszeit übrig geblieben waren. Eiderstedt, Everschop und Uthom. Im Mittelalter auch als die Dreilande bekannt, weil es drei verschiedene Harden waren. So nannte man früher die Verwaltungsbezirke, denen eine Hardesvogt vorstand.«
»Ja, ja, schon gut. Bitte ein bisschen knapper, nicht so ausschweifend.«
Na gut. Ich fahre im Telegrammstil fort:
»Eiderstedt, Everschop und Utholm. An den drei Inseln bilden sich Nehrungshaken, an denen sich Schlick ablagert. Eine Marsch entsteht. Dann die gewohnte Entwicklung. Köge werden eingedeicht, schließlich Zusammendeichungen der Dreilande und schwupps, schon haben wir, aus drei mach eins, eine Halbinsel, die nun, pars pro toto, den Namen Eiderstedt erhält. Nach 1200. Capito?«
»Klar. Aber pars was?«
»Pro toto. Ein Teil fürs Ganze heißt das. Wohl im Lateinunterricht gepennt, wie?«
»Wahrscheinlich.«
Über dem Wortgeplänkel sind wir jetzt in der Eider-Treene-Sorge-Niederung in Richtung Westen unterwegs, im Land der Holms, einer alten Bezeichnung für Sandinsel oder Geestkern. Es war wieder die vorletzte, die Saale-Eiszeit, die sie in der sumpfigen, von trägen Wasserläufen durchzogenen Gegend hinterlassen hat. Die ist Ziel eines anderen Ausflugs. An der Sandschleuse, die den Wasserstand der Neuen Sorge reguliert, macht die Straße einen scharfen Linksknick. Ein kurzes Stück weit begleitet das Flüsschen die Straße, an der die Bäume die typische Windschur zeigen – auf der Westseite sind die Äste wie glattrasiert, die Ostseite zeigt sich struppig.
Wir schweigen einvernehmlich eine längere Zeit, aber kurz hinter Friedrichstadt wird Otto plötzlich ganz aufgeregt. Wenn das geschieht, wenn das ge-wissermaßen ererbte, bodenständige Phlegma des Bauernsohns leichter Hektik weicht, dann sind daran normalerweise irgendwelche Viecher schuld. Und richtig, schon legt er los:
»Da, sieh mal«, sagt er und deutet auf eine Herde genussvoll den feuchten Boden durchwühlender Schweine, deren kräftige rote Grundfarbe auf dem Rücken in scharf abgesetztem Kontrast übergangslos in kremiges Weiß wechselt, das wie ein aufgelegter Sattel aussieht, »Husumer Protestschweine«.
Husumer Protestschweine, was soll das denn heißen? Will Otto mich veralbern?
Aber nein doch, beruhigt er mich und fährt mit leichtem Grienen fort:
»Sieh mal genau hin, der Sattel zeigt, dass es sich um Sattelschweine handelt. Die kennen wir doch aus Angeln. Nur dass die Angler Sattelschweine schwarzweiß, die hier aber rotweiß gefärbt sind. Eine Züchtung dänisch gesinnter Nordfriesen nach dem deutsch-dänischen Krieg von 1864. Und weißt du, warum sie die gezüchtet haben?«
Nein, weiß ich nicht. Warum, Otto?
Sein Grienen wird zu breitem Grinsen:
»Rot und Weiß«, sagt er, »sind doch die dänischen Nationalfarben, und die Flagge zeigt ein weißes Kreuz auf rotem Grund. Und die durften die Dänen im deutschen Kaiserreich nicht mehr hissen. Verstehst du?«
»Du meinst«, sage ich unwillkürlich lachend, »die dänisch gesinnten Bauern wollten ihren Protest gegen die Preußen mit Schweinen demonstrieren?«
»Das meine ich nicht«, sagt Otto, »das weiß ich. Deswegen ist ein anderer Name ja auch ›Dänisches Protestschwein‹.«
Leider, fügt er hinzu, sei die ursprüngliche Rasse schon vor Jahrzehnten ausgestorben.
»Was du hier siehst, ist eine Neuzüchtung. Aber immerhin.«
Ja, immerhin. Unnütz zwar, was die Genreserve angeht, aber ländliche Kultur- und Geschichtspflege ganz eigener Art, finde ich. Und Otto stimmt mir zu. Also, folgere ich, habe ich recht, denn oft geschieht das nicht.
Wir sind früh in Kiel losgefahren, und jetzt wollen wir erst einmal Kaffee trinken. Unsere nächste Station ist deshalb der »Rote Haubarg« in Simonsberg vor den Toren Husums. Das trotz seines Namens weiße, reetgedeckte und riesengroße ehemalige Bauernhaus ist das wohl beeindruckendste Exemplar eines »Haubargs«. Mit »Hauen« hat die Eiderstedter Besonderheit nichts zu tun, weiß Otto. Im mächtigen »Vierkant«, um den herum sich zahlreiche Wohnräume, Ställe und Scheunen gruppieren, wurde »Heu« für das Vieh »geborgen«. Der stattliche Wohnbereich, der jetzt gastronomisch genutzt wird, erzählt vom einstigen riesigen Reichtum mancher Bauernfamilien. Dass die Knechte und Mägde, von denen die landwirtschaftlichen Großbetriebe einst eine große Anzahl hatten, in muffigen Alkoven, in die Wand eingelassenen schmalen Kammern, halb sitzend schlafen mussten, zeugt nicht gerade von der sozialen Sensibilität der bäuerlichen Führungsschicht Eiderstedts. Das so gesparte Geld gab man lieber, wie der Rote Haubarg eindrucksvoll beweist, für schwere, gediegene Möbel allerbester Handwerksproduktion aus, für prächtige, ja protzige Lampen und teures Importporzellan.
»So wat harrn wi op de Geest nich«, sagt Otto.
Nein, Otto, das hatten weder dein Opa oben bei Bögelhuus noch meiner in Luusangeln. Das waren arme Schlucker. Von Heiraten zwischen Geest- und Marschbauern hat man dann auch Jahrhunderte lang nichts gehört. Das schickte sich nicht. Schließlich wollte man seinen Reichtum behalten.
Nach dem Kaffee werfen wir noch einen Blick in den Vierkant. Heute ist dort ein kleines landwirtschaftliches Museum untergebracht. Hier stoßen wir auf ein wunderschönes Exemplar eines Treckers der Marke Lanz Bulldog, mit dem die Motorisierung der Landwirtschaft begann. Das »Töff Töff« des Einzylindermotors, den man mit so ziemlich allem, was die Ölindustrie sonst nicht gebrauchen konnte, betreiben konnte, war unverwechselbar. Das Ding musste mit einer Lötlampe »vorgeglüht« werden, dann zog man das Lenkrad ab, steckte es auf eine Welle an der Seite und warf den Motor per Hand an. Dann hieß es schnell zu reagieren und das Rad wieder abzuziehen. Wer wartete, dem schlug es die Knochen kaputt. Oder es flog im hohen Bogen durch die Gegend, krachte durch Fensterscheiben oder blieb im Reet des Dachs stecken. Ein Blick genügt uns, dann geht es weiter nach Koldenbüttel, Witz- und Oldenswort.
»Komische Namen«, sagt Otto. »Was für Büttel sollen denn hier gewohnt haben, und wieso findet man ausgerechnet auf dem platten Land witzige Worte?«
Ach Otto, Sprachgeschichte ist deine Sache wohl nicht.
»Nö. Nun sag schon, was du weißt. Aber in Kürze.«
Sollst du haben. Also »Büttel« hat nichts mit Gesetzesdiener oder Henkersknecht zu tun, sondern ist ein uraltes Wort für Haus und Hof, für Wohnsitz und Siedlungsgebiet. Und »kold«, also kalt, war der Ort, weil die Einwohner ihn in der Völkerwanderungszeit verließen, als Sachsen, Holsten und Jüten nach England rübermachten. Und als dann vor gut tausend Jahren Friesen aus dem heutigen Holland ihn neu besiedelten, nannten sie ihn so. Kalt für nicht besiedelt, Ofen aus, verstehst du, Otto?
»Schon klar. Und Witzwort hat dann wohl auch nichts mit Wörtern und Witzen zu tun, oder?«
»Ganz recht. ›Wort‹ ist eine Variante von Wurt oder Warft. Du weißt doch, was eine Warft ist?«
Klar weiß Otto das:
»Ein künstlicher Hügel in der Marsch, der Haus und Hof sturmflutsicher macht.«
»Eben. Kommt von ›werfen‹. Aufgeworfene Erde. Und diese Warft gehörte einmal einem Mann namens Witte. Der wurde wahrscheinlich so genannt, weil er schon älter war und weiße Haare hatte. Wittes Warft war das.«
»Was du alles weißt«, staunt Otto scheinheilig. »Google, was? Wikipedia?«
Wo er Recht hat, hat er Recht. Aber ich schweige eindrucks- und vorwurfsvoll vor so viel Misstrauen und mangelndem Respekt.
In Koldenbüttel, weiß ich nun wieder Otto zu berichten, wurde 1584 eine bemerkenswerte Frau geboren. Anna Ovena, die Tochter des reichen Landwirts Johann Oven, heiratete Hermann Hoyer, den noch reicheren Besitzer von Hoyerswort. Das einzige Herrenhaus auf Eiderstedt, den heute noch prachtvollen Renaissancebau, hatte ein Vorfahre errichten lassen. Caspar Hoyer war als »Staller« von Eiderstedt ein mächtiger Mann in den Dreilanden, eine Art herzoglicher Gouverneur.
Anna Ovena nun war eine religiöse Schwärmerin, die mit Gedichten und Traktaten die in Schleswig-Holstein herrschende lutherische Orthodoxie scharf angriff. Als ihr Mann starb, die Angriffe seitens der Geistlichkeit bösartiger wurden und die ständigen Auseinandersetzungen mit dem Gottorfer Hof zunahmen, verkaufte sie schließlich ihren Witwensitz Hoyerswort und flüchtete sich nach Schweden, von wo sie weiter in die religiösen Streitigkeiten eingriff. Heute würde man die resolute und überzeugungsstarke Dame eine emanzipierte Frau nennen.
Während ich noch mitten in meinen Erklärungen bin und mich zu der Behauptung versteige, wir hätten in Anna Ovena Hoyer gewissermaßen eine Präfiguration von Simone de Beauvoir, von der freilich kein Besuch in Eiderstedt bekannt ist, vor uns, sagt Otto: »Hunger«, und wenn er das sagt, dann tut man besser daran, das nächst gelegene Restaurant anzusteuern, wenn man seine Ruhe haben will. Aber auch bei mir meldet sich nachdrücklich der Magen. Wir fahren die paar Kilometer nach Tönning mit seinem von der Eider abzweigenden künstlichen Hafen von 1624. Sportboote liegen dort meistens, nur selten noch verirrt sich ein Krabbenkutter hierher. Die bevorzugen jetzt die Liegeplätze am Eidersperrwerk weiter westlich an der Mündung des Flusses.
Mehrere Restaurants finden sich am Tönninger Hafen, aber am schönsten, finden wir, ist es im »Goldenen Anker«. Die Frage ist nur, was wir nehmen sollen von dem, was die Speisekarte anbietet. Ein Fisch- oder ein Krabbengericht? Oder doch lieber Salzwiesenlamm, Fleisch von Tieren, die sich von würzigen, salzresistenten Pflanzen ernähren? Die Köstlichkeit, die einst bis zu den Feinschmeckern Frankreichs exportiert wurde, als man sich hierzulande noch vor Lammfleisch (»Igitt, Hammel!«) ekelte, ist selten geworden, seit ein Großteil der Salzwiesen vor den Deichen Nordfrieslands und Dithmarschens aus der Beweidung herausgenommen wurde. Nur noch ein paar Meter des unmittelbaren Vorlands sind für die Schafherden zugänglich und wenige der weiter seewärts liegenden, häufiger überfluteten Wiesen und natürlich die Deiche selbst, deren Rasen aus Küstenschutzgründen kurz gehalten werden muss.
Im »Goldenen Anker« aber wird Salzwiesenlamm noch serviert, und weil man ja überall in Nordfriesland Krabben zu essen bekommt, entscheiden wir uns für die regionale Spezialität. Und werden nicht enttäuscht. »Mmm«, sage ich und Otto bestätigt: »Jo.« Als Nachtisch gibt es natürlich eine ur-schleswig-holsteinische Köstlichkeit, Rote Grütze, mit Sahne, halbflüssiger. Und wieder: »Mmm« und »Jo«.
Nach dem Essen machen wir einen Verdauungsspaziergang. Am Ende des Hafens gibt es einen der inzwischen landauf landab beliebten Beach Clubs mit eigens aufgeschütteter Sandfläche, mit Bambus, Palmenkübeln und anderem tropischem Grünzeug in Kübeln. Ein Mann ist gerade damit beschäftigt, die heimischen Varianten, die sich durch den Sand bohren und bei der Strandsiesta stören, zu hacken. Die Matte, die den Sand gegen den Untergrund isoliert, tauge nichts, erzählt er, und außerdem:
»Die haben Sand aus der Kiesgrube genommen, keinen Strandsand.«
»Ja und?«, wollen wir wissen.
»Strandsand ist salzig, den vertragen Landpflanzen nicht. Bei dem hier kommen sie immer wieder durch.«
Das Wattforum, ein paar Schritte weiter auf und vor dem Eiderdeich gelegen, informiert in seinen lichten Räumen über den Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, der fast die gesamte Küste Nordfrieslands und Dithmarschens umfasst, über die Lebensgemeinschaften der Nordsee, über Fische und Vögel, Pflanzen und Böden, über Sturmfluten, Landgewinnung, Deichbau, Renaturierung einst intensiv genutzter Flächen. Das Modell eines von der Decke hängenden Pottwals, in der Mitte nach Art anatomischer Lehrbücher aufgeschnitten, lässt nicht nur die Schulklasse, die von ihrer Lehrerin kaum zu bändigen ist, über die gigantischen Ausmaße auch der Innereien staunen. Geheimnisvoll geht es in einem kleinen Kabinett zu, das mit Musik ganz eigener Art lockt und die eben herumwuselnden Schüler ganz still werden lässt. Mit Kopfhörern kann man »Walgesängen« lauschen, mit denen sich die riesigen Säuger über Hunderte von Kilometern verständigen. Was die sich wohl zu erzählen haben, fragen wir uns. Die überraschend melodiösen und von Art zu Art verschiedenen Tonfolgen haben wir bereits bei einem früheren Besuch kennen gelernt, und deshalb verzichten ...