Teil 1: Theoretische Einbettung
1.1Die Entstehung und Entwicklung des Wahrnehmenden Beobachtens
MARJAN ALEMZADEH, GERD E. SCHÄFER, ANTJE STEUDEL & JULIA TIEDEKEN
Wahrnehmendes Beobachten wurde im engen Austausch mit der Praxis entwickelt. In verschiedenen Modellprojekten suchten Pädagog*innen, die in elementarpädagogischer Praxis oder an Hochschulen tätig waren, zusammen Wege der praktischen Umsetzung aktueller Bildungstheorien. Verbindend war dabei folgende Auffassung zur Praxis und Theorie frühkindlicher Bildungsprozesse (Schäfer 2003, 2011, 2019): In allen Projekten ging es nicht um die rein theoretische Implementierung bestimmter Auffassungen, sondern gemeinsam mit den beteiligten Menschen und Einrichtungen sollten Möglichkeiten einer zeitgemäßen Bildungsarbeit in Kindertageseinrichtungen gefunden werden, die einer Partizipatorischen Didaktik gerecht werden.
Praxis und Theorie befruchteten sich dabei wechselseitig. Anhand des in der Praxis gewonnenen Materials wurden theoretische Überlegungen überprüft und neue Theorieansätze entwickelt, denen dann in weiteren Untersuchungen und Projekten nachgegangen wurde. Dabei spielte die Beobachtung eine entscheidende Rolle.
Die Entwicklung des Konzepts vom Wahrnehmenden Beobachten lässt sich schwerpunktmäßig in vier Phasen unterteilen, die allerdings nicht scharf voneinander getrennt werden können. Vielmehr handelt es sich um allmähliche Verschiebungen:
Phase 1: In den ersten Projekten ging es noch um ein tastendes Versuchen empathischen Beobachtens, was sich auch in begrifflichen Unklarheiten und Schwankungen ausdrückte. In dieser Zeit lag noch ein einseitiger Fokus auf dem Beobachten der Kinder.
Phase 2: Nun wurde der Versuch einer theoretischen Verankerung und praktischen Konsolidierung unternommen. Als Grundlage diente das Dissertationsprojekt „Bildungsprozesse in Kindertageseinrichtungen – Beobachtendes Wahrnehmen als Grundlage pädagogischen Handelns“ von Antje Streudel.
Phase 3: Die vor allem praxisbezogene Ausarbeitung des Konzepts bildete einen Schwerpunkt im Qualitätsentwicklungsprojekt des Alternativen Wohlfahrtsverbands SOAL e. V. in Hamburg (siehe S. 16 f.). Parallel dazu wurden vergleichbare Bemühungen im Projekt einer Lernwerkstatt Natur in Mülheim an der Ruhr (siehe S. 15 f.) unternommen. In beiden Projekten rückten zunehmend auch die didaktischen Schritte, die aus dem Wahrnehmenden Beobachten hervorgingen, in den Mittelpunkt.
Phase 4: Diese Phase ergab sich mit dem Projekt einer zweieinhalbjährigen Weiterbildung für Fach-und Leitungskräfte im Land Tirol/Österreich (siehe S. 19). Wahrnehmendes Beobachten wird hier zu einer pädagogischen Übungspraxis als Grundlage einer pädagogischen Haltung, die wechselseitige Beteiligung und Verständigung ins Zentrum frühpädagogischen Handelns stellt.
Phase 1: Wir tasten uns heran
Das Projekt „Bildung im Elementarbereich – Wirklichkeit und Phantasie“
Das Projekt „Bildung im Elementarbereich – Wirklichkeit und Phantasie“ fand in Thüringen statt und wurde vom dortigen Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit finanziell gefördert. Inhaltlich ging es um die Untersuchung frühkindlicher Bildungsprozesse in Kindertageseinrichtungen. Verbunden damit war die Unterstützung der pädagogischen Fachkräfte bei der Suche nach angemessener Begleitung dieser Bildungsprozesse. Vier thüringische Kindertageseinrichtungen wurden in einem Projektzeitraum von circa drei Jahren, von Oktober 2001 bis Dezember 2004, durch ein modular aufgebautes Fortbildungsprogramm begleitet. Die einzelnen Module hatten verschiedene inhaltliche Schwerpunkte und unterschiedliche organisatorische Strukturen (vgl. von der Beek, Schäfer & Steudel 2006).
Im Modul Bildungsprozesse ging es darum, die konkreten alltäglichen Erfahrungen der Kinder in den Mittelpunkt der erwachsenen Aufmerksamkeit zu rücken, um sie einer reflektierenden Auseinandersetzung zugänglich zu machen. Auf dieser Basis sollte dann eine Erweiterung des pädagogischen Handelns angestrebt werden. Vor diesem Hintergrund stetiger, reflektierter Rückmeldungen der Praktiker*innen konnte so – im Verbund mit theoretischen Hintergründen – das Wahrnehmende Beobachten entwickelt werden. Es sollte sich den Blickwinkeln der Kinder annähern, die individuelle und soziale Lebenslage der handelnden Erzieher*innen einbeziehen und die Spezifität fachlich pädagogischen Handelns widerspiegeln.
Dazu wurden die vier beteiligten Einrichtungen jeweils vier Mal im Jahr für einen Tag von einer Projektmitarbeiterin besucht, die am Vormittag am Kita-Alltag teilnahm. Dabei beobachtete sie offen wahrnehmend die Kinder in ihren Bildungsprozessen und erhielt gleichzeitig einen Eindruck von der Arbeit der Fachkräfte. So hatten die Erzieher*innen Gelegenheit, die beobachtende Haltung selbst zu erleben und als Orientierungsrahmen für ein eigenes Beobachten zu nutzen. Am Nachmittag fanden dann Gespräche mit dem jeweiligen Team der Einrichtung statt. Im Mittelpunkt standen dabei zunächst die Beobachtungen der Projektmitarbeiterin, mit der Zeit aber verstärkt die Beobachtungen der Erzieher*innen, deren Ergebnisse den Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung der pädagogischen Arbeit in der Einrichtung bildeten.
Das Projekt „Professionalisierung Frühkindlicher Bildung“
Dieses Projekt wurde im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen von 2002 bis 2005 in Zusammenarbeit mit dem (damaligen) Sozialpädagogischen Institut NRW durchgeführt. Nach der Veröffentlichung der Bildungsvereinbarung NRW (vgl. Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen 2003), in der trägerübergreifende Grundsätze der Bildungsarbeit in Kindertageseinrichtungen formuliert wurden, sollten mit dem Projekt Hilfen für die Praxis bei der Umsetzung der Vereinbarung ermöglicht werden (vgl. Schäfer & Strätz 2005).
In dem Projekt wurden die beteiligten Einrichtungen in einem Beratungsprozess durch Projektmitarbeiter*innen begleitet. Für die Einrichtungen ging es dabei um eine Weiterentwicklung ihrer Bildungsarbeit im Hinblick auf die Grundsätze der Bildungsvereinbarung. Dem Wahrnehmendem Beobachten kam auch in diesem Entwicklungsprozess eine zentrale Rolle zu: Sowohl auf einer theoretisch-systematischen Ebene als auch auch in seiner praktischen Umsetzung konnte die Methode anhand der Rückmeldungen aus der Praxis weiterentwickelt werden.
Dazu wurden die Einrichtungen von den Projektmitarbeiter*innen regelmäßig besucht, wobei die Gestaltung des Tages nach einer ähnlichen Struktur wie im Thüringer Projekt erfolgte. Vormittags beobachteten die Projektmitarbeiter*innen die Bildungsprozesse der Kinder. Nachmittags wurde im Team über diese wie auch die eigenen Beobachtungen der Erzieher*innen und über allgemeine Fragen zu Beobachtung und Dokumentation sowie zur konzeptionellen Weiterentwicklung der Einrichtung gesprochen.
Die Ausgangslage der Projekte
Im Konzept des Wahrnehmenden Beobachtens – der Begriff war damals noch nicht festgelegt, es wurde auch vom beobachtenden Wahrnehmen gesprochen – dominierte damals der Aspekt des Beobachtens aus einer einfühlenden Perspektive. Das Ziel war, ein besseres Verständnis für die jeweiligen kindlichen Wahrnehmungs- und Handlungsperspektiven zu gewinnen.
Wenn man dabei nicht nur das Verhalten der Kinder in den Blick nahm, sondern ihre wahrscheinlichen oder möglichen Empfindungen, Fantasien, Gedanken oder Äußerungen, dann war dies nicht ohne den Aspekt der Selbstwahrnehmung der Fachkräfte möglich. Vieles davon ließ sich nämlich nur im empathischen Miterleben erfassen und damit über das, was die Beobachter*innen beim Beobachten am eigenen Leib erfuhren. Im Laufe der Beobachtungen entwickelten sich daher nicht nur die Fähigkeiten, mit Aufmerksamkeit den vielfältigen Pfaden kindlicher Tätigkeiten zu folgen, sondern auch die Sensibilität dafür, was diese Wahrnehmungen in den Beobachter*innen selbst an Empfindungen, Gefühlen und Handlungsimpulsen hervorriefen.
Im Laufe der Zeit wurde immer deutlicher, wie das, was beobachtet und wahrgenommen wurde, und das, was die Fachkräfte selbst erlebten, empfanden und erinnerten, miteinander zusammenhing. Es war zu erkennen, dass es nicht die objektive Beobachtung gab, sondern nur eine Beobachtung dessen, was im Wahrnehmungs-, Erlebens- und Interessenhorizont der jeweiligen Fachkräfte aufscheinen konnte. Mithin wurden neue Blickwinkel und Aspekte oftmals nur sichtbar, wenn es gelang, die Aufmerksamkeitsrichtung der Erzieher*innen im gemeinsamen reflexiven Nachspüren über das Beobachtungsmaterial zu verändern.
Selbstwahrnehmung und Wahrnehmung der Kinder spielen also zusammen. Es ist schwer möglich, nur die Perspektive der Kinder wahrzunehmen, da wir meist in einer Interaktion sind und unsere Biografie stark darüber mitbestimmt, was wir als interessant am kindlichen Tun bemerken. Und genau dieses Zusammenspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung führte dazu, schließlich am Begriff des Wahrnehmenden Beobachtens festzuhalten.
Vor diesem Hintergrund gab es zwei Schwerpunkte für die Weiterentwicklung des Konzepts:
1.einen theoretischen, in dem es um eine weitere Klärung dieses Konzepts einer Beobachtung mit zwei Brennpunkten geht, und
2.die praktische Umsetzung in der Alltagspraxis wie in der Fort- und Weiterbildung.
Diese beiden Schwerpunkte wurden in den folgenden Projekten verstärkt in den Blick genommen.
Phase 2: Theoretische und praktische Konsolidierung
„Bildungsprozesse in Kindertageseinrichtungen – Beobachtendes Wahrnehmen als Grundlage pädagogischen Handelns“
In diesem von einer Stiftung unterstützen Dissertationsprojekt beschreibt und begründet Antje Steudel (2009) das Wahrnehmende Beobachten als Werkzeug pädagogischer Praxis – wie es zentraler Bestandteil der Bildungsvereinbarung in NRW ist – vor einem theoretischen und pädagogisch praktischen Hintergrund.
Dabei werden Brücken in die Theorie (u. a. zur Phänomenologie, Ethnographie, Psychoanalyse und Balintgruppenarbeit) geschlagen. Beobachtung wird als Prozess erkennbar, in dem wahrgenommene Phänomene als Ergebnisse eines gemeinsamen Handlungsprozesses von Beobachter*in und Beobachtetem entstehen. Das begründet, dass die Beobachter*innen nicht neutral sein können, sondern Teil des Beobachtungsgeschehens sind und damit in die Beobachtung mit einbezogen werden müssen. Das heißt, sie müssen sich, so gut es geht, im pädagogischen Prozess auch selbst wahrnehmen.
Diese auch theoretisch untermauerte, doppelte Beobachtungsperspektive hat dann in der Folge dazu geführt, dafür den Begriff des Wahrnehmenden Beobachtens festzuschreiben. Denn er bringt diese dop...