Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2
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Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2

  1. 238 Seiten
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Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2

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Über dieses Buch

Wie der erste Band enthält auch dieser Texte aus den letzten 18 Jahren von Rudolf Walthers Tätigkeit als Publizist, Kolumnist und Sachbuch-Kritiker: aufklärende historische Essays, Porträts gegen das Vergessen, ins Grundsätzliche gehende politische Kommentare jenseits des tagespolitischen Handgemenges sowie Verrisse von Sachbüchern. Der Titel - "Aufgreifen, begreifen, angreifen" - ist der gleiche geblieben. Erstens fanden ihn viele Leserinnen und Leser treffend und zweitens merkte Walther selbst erst bei der Zusammenstellung der Texte für diesen und die folgenden Bände, wie präzise er seine Schreibhaltung beschreibt: "Ich möchte mit meinen Arbeiten begreifen, was ich als Thema aufgreife oder was mir von Redaktionen an Themen zum Aufgreifen angeboten wird. Im Prozess des Begreifens des Aufgegriffenen spielt das kritische Moment - das Angreifen von Positionen, Institutionen, Bräuchen und Personen, kurz ›der böse Blick‹ (Adorno) jeder angemessenen Gesellschaftskritik - eine wesentliche Rolle. Das Begreifen - einen Sachverhalt auf den Begriff zu bringen - funktioniert als Scharnier zwischen dem Aufgreifen eines Themas und der Adressierung von Kritik, Reflexion und Würdigung."

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Information

III Politische Kommentare

1 Republikanischer Rigorismus

Die Debatte über den »islamistischen Schleier« verschleiert mehr als sie klärt – und das gilt für die französische wie die deutsche Diskussion. Allein die Geschichte des Kopftuchs zeigt, dass es dabei um mehr geht als um den Streit um ein Stück Stoff. In der Frühzeit des Islam, im 7. Jahrhundert, war der Schleier (unter dem Namen »djilhab«) nach der Darstellung des Ethnologen Camille Lacoste-Dujardin das Erkennungszeichen freier muslimischer Frauen, die sich damit von den Sklavinnen abhoben.
In großen Teilen Nordafrikas, insbesondere in der Kabylei, woher die Mehrzahl der muslimischen Immigranten in Frankreich stammt, trugen die Frauen nie ein Kopftuch. In den algerischen Großstädten dagegen benützten viele Frauen farbige Kopftücher, die sie auf verschiedene Weise um den Kopf wickelten. Nach ihrer Auswanderung nach Frankreich hielten es die Frauen mit dem Kopftuch wie zuvor. Sie trugen keines oder ein buntes.
Das änderte sich erst in den 80er Jahren. In der Folge der iranischen Revolution wurden nun unter dem neuen Namen »hidjab« (»das, was verbirgt«) auch dunkle einfarbige, auf eine bestimmte Weise um den Kopf gewickelte Tücher gebräuchlich. Dass sich dieses »islamistische« Kopftuch zum politisch-religiösen Symbol und Bekenntnis zu einer fundamentalistischen Lesart des Islam verhärtete, hat in Frankreich weniger mit Religion zu tun als mit dem politischen Protest der Trägerinnen gegen die verweigerte Chancengleichheit und gegen die gescheiterte Integration. Die Diskriminierung beginnt in den Schulen und setzt sich fort in den trostlosen Wohnbezirken der Vorstädte sowie bei den Aussichten auf eine berufliche Ausbildung und einen Arbeitsplatz.
Dass es unter den Kopftuchträgerinnen seit den 80er Jahren immer auch solche gab und gibt, die damit eine Art Selbstausschließung im Namen einer religiös-fundamentalistisch verbrämten Ideologie betrieben oder von ihren Männern/ Brüdern zum Tragen gezwungen wurde, ist wahrscheinlich, aber empirische Erkenntnisse darüber existieren nicht. Statt auf Fakten stützt sich die landläufige Leitartikel-Prosa dazu überall auf ein Gemisch aus Ignoranz, Angstmacherei und Chauvinismus. Das Herzstück dieser Prosa bildet in Frankreich die republikanische Vorstellung von »Laizismus«. Die Verpflichtung staatlicher Institutionen auf religiöse Neutralität gehört seit 1789 zum Staatszubehör nach den jahrhundertelangen Erfahrungen mit dem Bündnis von Thron und Altar. Seit 1905 gilt eine strikte Trennung von Kirche und Staat, – insbesondere in den religiös neutralen, staatlichen Schulen. Dass kein Staat in Europa private religiöse Schulen, in den die französische Elite ihre Kinder ausbilden lässt, mehr fördert als Frankreich, gehört zu den systemtypischen Heucheleien und Lebenslügen des zur Staatsreligion aufgestiegenen »Laizismus«.
Hier kommt die deutsche Debatte ins Spiel. Die Trennung von Kirche und Staat gehört zwar auch in der BRD zur Grundausstattung (GG Art. 140), aber sie ist weniger konsequent konzipiert. So zieht der Staat für die anerkannten Religionen die Kirchensteuer ein. Als trügerisch erweist sich jedoch im Blick auf die französische Debatte die Vorstellung, deutsche Politik und deutsche Institutionen müssten nur kräftig auf Laizismus à la française setzen, um die Probleme zu meistern.
Mit diesem Trugbild im Kopf plädieren viele biedersinnig dafür, muslimischen Lehrerinnen das Tragen von Kopftüchern in den Schulen zu verbieten. Die Konsequenteren verlangen wenigstens, dem Lehrpersonal nicht nur das Tragen von Kopftüchern, sondern auch das von Kippas oder christlichen Kreuzen zu untersagen. In Frankreich ist dieses Verbot für Lehrerinnen und Lehrer eine »laizistische« Selbstverständlichkeit. Präsident Jacques Chirac und sein Erziehungsminister Luc Ferry basteln an einem Gesetz, das auch Schülern das Tragen »offenkundiger religiöser Zeichen« (»signes religieux ostensibles« oder »ostentatoires«) verbietet, jedoch »normale, nicht-überdimensionierte Kreuze« erlaubt. Auf den Alltag, demnächst mit dem Millimetermaß Querbalken von christlichen Kreuzen an den Schülerhälsen auf ihre Dimension/Über-Dimension nachzumessen, freuen sich Lehrerinnen und Lehrer nicht besonders.
Aber ganz abgesehen von der Praktikabilität des Verbots stellt sich eine grundsätzliche Frage in Frankreich wie in Deutschland: Neutral und laizistisch müssen eine Institution wie die Schule sowie die dort vermittelten Lehrinhalte sein. Die Lehrinhalte kontrolliert die staatliche Schulaufsicht, und das Lehrpersonal ist selbstverständlich zu politischer und religiöser Zurückhaltung verpflichtet. Diese Neutralität im Namen von Laizismus auf die Kleiderordnung auszudehnen, schafft nicht mehr Neutralität, sondern nur mehr Konflikte. Die Kleiderordnung ist eine Privatsache, es sei denn, man will Lehrpersonal und Schülerschaft nach dem Vorbild von Polizei und Militär uniformieren.
Das Beispiel Frankreich belehrt darüber, was in multi-ethnischen und multi-religiösen Gesellschaften passiert, wenn die Mehrheit auf die Idee kommt, mit einem forciert republikanisch-laizistischen Kurs »die Gesellschaft, die ein wenig wie ein Krieg aller gegen alle aussieht, zu pazifizieren« (Régis Debray). Den Minderheiten wird dadurch bis zum Dresscode bedeutet, woran sie sich halten sollen – an die Bräuche und Gewohnheiten der Mehrheit. Damit schafft man weder Schulfrieden noch gesellschaftliche Integration, sondern gießt Öl ins Feuer. Das Kopftuch steht zuerst und vor allem für den Protest einer diskriminierten und von der Mehrheit an die Stadtränder ausgelagerten Minderheit und nicht für »die Logik des Ghettos«, wie Dorothea Hahn meint (taz 13.1.2004). Es geht schlicht darum, die Ursachen von einer schon Jahrzehnte andauernden Diskriminierung und Chancenungleichheit zu beseitigen.
Gegenüber den sprachlichen, kulturellen und religiösen Gewohnheiten von Minderheiten – soweit diese nicht strafrechtlich Verbotenes wie die Zwangsverheiratung, Beschneidung von Mädchen und dergleichen praktizieren – sollte die Mehrheitsgesellschaft nicht mit laizistischem oder republikanischem Rigorismus reagieren, sondern mit »kalter Toleranz« (Fahrad Khosrokhavar) und einem Sensorium für »kulturelle Differenzen«. Völlig überrissen ist die These von französischen Schauspielerinnen und Feministinnen, das Kopftuch repräsentiere die Unterdrückung von Frauen durch Männer und sonst nichts. Das Kopftuch markiert ebenso wenig eine einheitliche weibliche Selbstdeutung, Fremdzuschreibung oder Unterdrückung wie Lederhosen, Sandalen oder Bikinis. »Wegen der zahlreichen Bedeutungen des Kopftuchs sowohl für jene, die es tragen, wie für die Menschen in deren Umgebung«, riskiert jede Politik des Verbietens, »das Gegenteil dessen zu erreichen« (Anthony Giddens), was sie anstrebt – eine Stärkung der religiös-politischen Fanatiker statt jener, die Andere und Fremde dulden.

2 Euro-Priester gegen das Volk

Seit der britische Premierminister Tony Blair am 20. April 2004 ankündigte, den »Vertrag über eine Verfassung für Europa« den Wahlberechtigten zur Abstimmung vorzulegen, herrscht in den Parteien und in den Medien Aufregung. Die Bundesregierung in Berlin ließ verlauten, es gebe »keine Überlegungen von dem bewährten parlamentarischen Verfahren abzuweichen«, die SPD hält »es nicht mehr für praktikabel, das Verfahren zu wechseln«, und Außenminister Fischer beteuerte, das Volk missbrauche Abstimmungen notorisch, um »den Frust über die jeweilige Regierung loszuwerden.« Der Grünen-Vorsitzende Bütikofer meinte, der Vertrag über die Verfassung bedürfe »nicht unbedingt« der Legitimation durch ein Referendum, und der englische Soziologe Anthony Giddens sprach offen aus, was die Mehrheit der Politiker nur andeutete: Bei Volksabstimmungen regieren »momentane Stimmung«, »Emotion« und dergleichen: »Ich glaube in einer Demokratie immer noch an den Primat des Parlaments.« Kommt deshalb das Wort »Volk« im Begriff »Demokratie« vor, weil es real nur sekundär etwas zu sagen hat?
Der Vertrag über die Verfassung für Europa zitiert eingangs Thukydides mit dem Satz: »Die Verfassung, die wir haben ... heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.« Aber Regierende wie EU-Abgeordnete, viele Parlamentarier und ihre Parteien möchten die Sache mit der Volksherrschaft (»Demokratie«) nicht ganz so wörtlich nehmen und kämen am liebsten ohne Volk aus. Parlaments- und Parteitagsredner verweisen zwar bei jeder Gelegenheit auf das Europa der Bürger, um das sie sich Tag und Nacht zwischen Berlin und Straßburg bemühen. Aber wenn es um die Spielregeln dieses Staatenbundes geht, sollen die Bürger außen vor bleiben und schweigen. Das ist wie Honkong-Demokratie, die von Peking aus gesteuert wird. Auch im Europa der Berufspolitiker, Berufsparlamentarier und Eurokraten sind die Bürger bislang nur als Statisten vorgesehen. Sie dürfen seit 1995 alle fünf Jahre ein Parlament wählen, dessen Kompetenzen nicht sehr weit reichen und das schon überfordert ist mit der Aufgabe, sich eine einigermaßen überprüfbare Spesen- und Reisekostenordnung zu geben.
Das Misstrauen der Regierenden gegenüber dem Volk ist ebenso alt wie berechtigt, solange die herrschenden Eliten Politik einseitig als Selbstbedienung von Könighaus, Adel oder Kirche organisierten. Die Regierenden waren gut beraten, der mehr oder weniger mit Gewalt erzwungenen Ruhe im Volk zu misstrauen. Mit der Einführung von Demokratie und Rechtsstaat haben sich die Souveränitätsverhältnisse jedoch verändert. Souverän ist jetzt das wahlberechtigte Volk, und Misstrauen und Kontrolle gebühren den vom Souverän Beauftragten in der Regierung, in den Parlamenten, in den Gerichten und Verwaltungen.
Bürger sind in Demokratien nicht länger der je nach Lage der Dinge schlaftrunkene, tumbe oder rebellische Pöbelhaufen, als den sich vordemokratische und autoritäre Regimes das Volk vorstellten. Die finsteren Reaktionen auf den restlos selbstverständlichen Vorschlag, dem Volk das letzte Wort darüber zu überlassen, unter welcher Verfassung und mit welchen Spielregeln es leben möchte, zeigen nur, wie anachronistische Vorstellungen von Volk und Volksherrschaft weiterleben. »Demokratie wagen«, um ein gewagtes Wort Willy Brandts aufzunehmen, heißt, als Regierender jederzeit das Risiko auf sich zu nehmen, dass die Regierten nicht mehr mitspielen wollen. Dann muss nicht das Volk gehen, sondern eine neue Regierung kriegt eine neue Chance – auf Zeit.
Es zeugt von einem autokratisch eingefärbten Demokratieverständnis, wenn der Außenminister Fischer einer Volksabstimmung über die EU-Verfassung nur zustimmen möchte, wenn ein Nein zur Verfassung automatisch den Austritt aus der EU nach sich ziehen würde. Die »Friss-oder-stirb-Mentalität«, die sich hinter dieser staatsrechtlichen Improvisation verbirgt, verwechselt Regierungs- bzw. Kommissionsvorschläge mit quasi-göttlichen Vorgaben: Giscard d’Estaings Kommission hat jedoch ihre Verfassung nicht von Gott erhalten wie Moses die zehn Gebote. Im Unterschied zu Moses hat der Souverän in Demokratien immer das Recht, Vorschläge abzulehnen, Revisionen zu verlangen oder schlicht jemand anders damit zu beauftragen, einen neuen Vorschlag auszuarbeiten. Wer den vorliegenden Verfassungsentwurf nicht will, lehnt nicht zwingend jeden anderen ab. Und wenn sich der Souverän irrt? Dann irrt er und hat die Zeche bis hinters Komma selbst zu bezahlen – im Unterschied zu den Politikern, die für die Folgen ihrer Irrtümer über allerlei Abwälzungsmethoden und – nach dem Rücktritt – über steuerfinanzierte Rückversicherungssysteme verfügen.
Für Irrtümer selbst bezahlen – am Beispiel der Schweiz kann man sehen, was das heißt. Eine Mehrheit der Bürger lehnte 1992 den Beitritt zum »Europäischen Wirtschaftsraum« ab. Die Verhandlungen über einen EU-Beitritt laufen seither trotzdem weiter, weil die Isolation auf Dauer der Wirtschaft schadet. Aber der Preis für den Beitritt steigt politisch und finanziell mit jedem Jahr. Das ganze Volk bezahlt für den – vermutlichen – Irrtum der Mehrheit. Auch das Vorurteil, Volksabstimmungen und Plebiszite nützten nur einem reaktionären Populismus, lässt sich an der über hundertjährigen Geschichte der direkten Demokratie widerlegen. Einen riesigen Vorteil hat die Ergänzung der repräsentativen Demokratie mit plebiszitären Elementen: Wo die Drohung mit dem Referendum und dem Volksvotum als letzter Instanz mitregiert, ändern Regierungen ihren Stil. Sie regieren weniger, vorsichtiger und langsamer. Für monatlich wechselnde Improvisationen nach Berliner Vorbild wäre da kaum Platz.

3 Folter und Militär – fast schon eine Symbiose

Die schrecklichen Bilder von erniedrigten und gefolterten Gefangenen der amerikanischen Armee verlangen Erklärungen. Die anspruchsloseste Variante stand in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, deren Politikredakteur Thomas Schmid über »die Opfer von Lynndie R. England« nachdachte und vorschlug, der Präsident sollte die Opfer »um Vergebung« bitten. Ist die 21-jährige Soldatin aus der 372. Militärpolizei-Einheit überhaupt die Täterin? Das Bild, auf dem die Soldatin einen nackten Gefangenen wie einen Hund an der Leine führt, scheint das zu belegen. Doch bleibt diese grobschlächtige Deutung an der Oberfläche und verzerrt die Verantwortungsverhältnisse grotesk.
Natürlich hat sich das subalterne Personal, das sich bei Demütigung und Folterung beteiligte, eines schweren Unrechts schuldig gemacht und ist dafür zur Verantwortung zu ziehen. Das verlangen die Haager Landkriegsordnung (1907), die Genfer Konventionen (1929 und 1948) sowie die einschlägigen Zusatzprotokolle. Aber ein militärgerichtliches Disziplinarverfahren allein gegen die fotografierten Täter griffe zu kurz.
Erniedrigung und Folter, deren Ausmaß erst in Umrissen absehbar geworden ist, kann nicht im zivilen, strafrechtskonformen Bezugsdreieck von Tat-Täter-Opfer analysiert werden. Entscheidender als der Wille und die Motive der fotografierten Täter ist in diesem Fall der Kontext der Taten. Diesen Kontext bilden das militärische Milieu im Allgemeinen und die Position des Siegers im Krieg im Besonderen.
Das militärische Milieu wird charakterisiert durch seine hierarchische Befehlsstruktur und durch die Mittel, mit denen diese bei Soldaten wie Offizieren mental und habitusmäßig verankert wird. Idealerweise geschieht in Armeen nur, was von oben befohlen oder stillschweigend toleriert wird. Es ist absolut unrealistisch für das Milieu, in dem die Gefreite England handelte, zu unterstellen, die Täterin hätte sich im Alleingang und in »Folterlaune« dazu entschlossen, Iraker zu demütigen. Es befreit die Soldatin nicht von ihrer Verantwortung für das, woran sie beteiligt war, wenn man die Hauptverantwortung für ihre Taten in diesem Milieu und in dieser Situation den oben Kommandierenden und nicht den unten als Subalterne Agierenden zurechnet.
Dieses Argument ist keine Hintertür für die trübe Ausrede mit dem Befehlsnotstand der kleinen Täter. Für die Erniedrigung und Folterung von Gefangenen muss kein Befehl vorliegen. Im Algerienkrieg (1954-62), als systematisch gefoltert wurde, genügte es, dass die kommandierenden Offiziere »außergewöhnliche Mittel« empfahlen, um zu »Erkenntnissen« zu kommen. Die Ausführenden – Offiziere wie Soldaten – verstanden das korrekt als Freibrief, den Gefangenen Geständnisse mit allen Mitteln bis hin zum Mord abzupressen. Die bislang bekannt gewordenen Bilder zeigen nicht brutale Folterszenen, mit denen Gefangenen Informationen abgepresst worden sind wie den FLN-Kämpfern, als Spezialtruppen mit Stockschlägen, Elektroschocks und der berüchtigten Pumpe, mit der Gefangenen große Mengen Wasser in den Körper gepumpt wurden, folterten. Das Ziel, damit »Erkenntnisse« zu gewinnen, räumte der Hauptverantwortliche Oberst und Freund De Gaulles Jacques Massu freimütig ein. Die bisher bekannt gewordenen Bilder aus dem Irak dagegen belegen eher, dass es den Soldaten und ihren Vorgesetzten nicht um Erkenntnisse oder Geständnisse ging, sondern vor allem darum, die Gefangenen zu demütigen: Muslimen gelten Hunde als unreine Tiere, und Nacktheit – obendrein vor Soldatinnen – ist ein Tabu. Die kulturell-religiöse Würde der Gefangenen sollte demonstrativ verletzt, und diese selbst erniedrigt werden, um mit der eigenen Überlegenheit aufzutrumpfen. Dasselbe gilt für die Schändung eines Friedhofs mit Panzern.
Die Voraussetzung dafür, dass hierarchische Befehlsstrukturen den Soldaten mental und habitusmäßig zur zweiten Natur werden, wird in der Ausbildung geschaffen. Es ist bekannt, welchem brutalen Drill amerikanische Elite- und Militärpolizeieinheiten bei der Ausbildung unterworfen sind. Hier wird den Soldaten das eingepflanzt, was Elias Canetti »den Stachel des Befehls« nannte: Dieser »senkt sich tief in den Menschen ... und bleibt dort unverändert liegen«, genauso wie die Erinnerung an die Qualen und Erniedrigungen, die der Soldat beim Drill aushalten musste.
Im Krieg wird jeder Soldat auf der Seite der Sieger gegenüber Gefangenen und Zivilisten zum Befehlenden. Nur der »Stachel des Befehls« in jedem verhindert, dass die hierarchische Befehlsstruktur zersetzt wird. Von oben bis unten sind Offiziere und Soldaten mit diesem Stachel »geimpft«. Aber den Moment des Sieges erleben kommandierende wie ausführende Militärs auch als Chance, die gefangenen Besiegten ihre Willkür und ihre Revanche für tote Kameraden spüren zu lassen oder mit Gefangenen perverse Spiele zu treiben oder diese zu foltern. Gewalt entlädt sich in solchen Situationen regelmäßig mit einer Dynamik, der gegenüber soldatische Ehrenkodexe, Dienstvorschriften und völkerrechtliche Konventionen ohnmächtig werden. Von rechtlichen Bindungen befreit, verpassen die Sieger den Besiegten kollektiv jenen »Stachel des Befehls«, den sie selbst in sich tragen. Die Beispiele dafür sind in der Siegergeschichte Legion, die Ausnahmen an zwei Händen abzuzählen.
Im Irak-Krieg wurde die Dynamik der Gewalt gegenüber den Besiegten von höchster Stelle aus angeheizt. Denn die Soldaten sahen sich und ihr Verhalten gedeckt durch die Entscheidung der politischen Führung, Kriegsgefangene in Guantanamo als rechtlose Parias zu behandeln und kriminellen Ermittlungspraktiken zu unterwerfen. Der kulturelle Hochmut, mit dem der Irak-Krieg – angeblich im Namen von Demokratie und Menschenrechten – von oben herab gepredigt wurde, beförderte bei den Militärs aller Ränge einen missionarischen Eifer und enthemmte sie.
Zu solcher Enthemmung beigetragen haben aber auch jene Medien und Intellektuellen, die bereits nach dem 11. September 2001 eine Folter-Debatte auslösten. »News Week« überschrieb einen Artikel mit dem Titel: »Zeit, über Folter zu sprechen«. Der Harvard-Professor und Jurist Alan Dershowitz dachte über »Terroristen« (in seiner Diktion ein Synonym für Palästinenser!) nach, die abzuwehren nur gelinge, wenn man das Folterverbot abschaffe und die Folter für bestimmte Konfliktszenarien einführe.
Die Diskussion über die Folter hängt in den USA am medialen Schwungrad. Auch der an der Münchener Bundeswehruniversität lehrende, rechte Historiker Michael Wolffsohn mischte sich jetzt ein: »Als eines der Mittel gegen Terroristen halte ich die Folter oder die Androhung von Folter für legitim.« Die Geschichte der Folter und des Folterverbots beweist, dass sich von Menschenrechten und Rechtsstaat schon verabschiedet, wer sich auf die Diskussion über die Relativierung des Folterverbots einlässt. Die Geschichte der Folter und des Folterverbots enthält illustrative Belege für einen engen Zusammenhang von Folter und Staatsgewalt, wobei der Terror als Transmissionsriemen funktioniert.
Erst anfangs des 18. Jahrhunderts entzog Christian Thomasius der Folter die juristische wie die moralische Grundlage: Es gibt genau sowenig Gründe für die Annahme, dass mit Gewalt abgepresste Geständnisse der Wahrheit entsprechen wie für die Behauptung, möglichst harte Strafen und die Theatralisierung von Gewalt durch öffentliche ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckel
  2. Titelblatt
  3. Urheberrecht
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. I. Historische Essays
  7. II. Porträts gegen das Vergessen
  8. III. Politische Kommentare
  9. IV. Glossen
  10. V. Verrisse
  11. VI. In eigener Sache
  12. Nachweise