Aufgreifen, begreifen, angreifen
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Aufgreifen, begreifen, angreifen

  1. 390 Seiten
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Aufgreifen, begreifen, angreifen

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Über dieses Buch

Der erste von drei Bänden umfasst Arbeiten aus den letzten 18 Jahren: aufklärende historische Essays, Porträts gegen das Vergessen (von Diderot über Rudi Dutschke bis zu Reinhart Koselleck), ins Grundsätzliche gehende politische Kommentare jenseits des tagespolitischen Handgemenges sowie Verrisse von Sachbüchern. Das verlegerische und das redaktionelle Gewerbe schätzen Verrisse nicht besonders. Sie sind jedoch als Korrektive im Kulturbetrieb umso wichtiger, als dieser generell zu verharmlosender Glätte und Beliebigkeit neigt. Im einem weiteren Abschnitt folgen Sprachglossen, die sich auf tagespolitische und mediale Eseleien beziehen. Den Band schließen Texte in eigener Sache ab. Der Titel hebt auf das Moment von Spontaneität der Reflexion ab. Jede Behauptung eines "roten Fadens", dem die Texte folgten, liefe auf eine alberne Selbstinterpretation hinaus. Es bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen, allenfalls vorhandene, durchlaufende Motive zu erkennen oder zu bestreiten.

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Information

I Historische Essays

1 Wem das Posthorn bläst – zur Konstruktion und Konjunktur des Nationalen

Wiederholt sich die Geschichte? 1917/18 – nach der revolutionären bzw. militärischen Beseitigung des zaristischen Reiches, der Donaumonarchie und der letzten Reste des osmanischen Reiches auf dem Balkan – erschien der Nationalstaat als Zauberformel: jedem Kind einen Lampion und jeder Nation ihren eigenen Staat. Das deckt sich mit der »Burlesken Träumerei« des unvergleichlichen Erik Satie: »Ich finde, dass alle Franzosen, die auf französischem Gebiet geboren sind, von französischen Eltern oder solchen, die diesen Anschein erwecken, ein Anrecht auf eine Anstellung bei der Pariser Post haben sollten.« Mit der Post hat der moderne Begriff Nation immerhin so viel zu tun, dass er von Paris aus seine Reise antrat und dass Lenin außer für »nationale« Selbstbestimmung für die deutsche Post schwärmte.
Wenn man die Reaktionen auf den Untergang der Sowjetunion durchsieht, so scheint es, als hätten die Kommentatoren nicht Post aus Paris, sondern aus Washington erhalten. Haben sie Woodrow Wilson persönlich zum ghost-writer erkoren? »Nationale Selbstbestimmung« und »National«staat, die sich als Volksvorurteile in den Hirnen festgefressen haben, gelten auf jeden Fall wieder einmal als erstrebenswerter globaler politischer Normalzustand. Die abenteuerliche Prognose, die Völker der ehemaligen Sowjetunion würden jetzt gleichsam normalisiert und in die europäische Tradition des vermeintlich selbstverständlichen und demokratischen Nationalismus zurückgeholt, müsste der Redlichkeit halber die Tribute nennen, die die Menschen in Europa seit etwa 200 Jahren entrichtet haben für derlei Normalität.
Wohin man heute zwangsläufig gerät, wenn man noch einmal versucht, die Welt nach Nationen, Nationalstaaten oder der Fiktion des nationalen Selbstbestimmungsrechts einzurichten, führen die politischen und militärischen Eliten im ehemaligen Jugoslawien praktisch vor, und große Teile der deutschen Presse sowie das Stammtischgerede begleiten das Geschehen mit wohlfeilen, also serbenfresserischen Kommentaren. Allen voran trabt die FAZ. Schon am 12.12.1990 entdeckte J. G. Reißmüller bei den Serben eine Spezialität, die es ihm so angetan hat, dass er nun bald täglich darauf zurückkommt: »die uneuropäische Politik des Unterdrückens anderer Völker«. Im Baltikum genauso: »die ganze Unterdrückungsaktion in Litauen ist uneuropäisch« bzw. »asiatisch«, vulgo: »sowjetisch« (15.1.1991). Wem das alles irgendwie bekannt vorkommt, ist auf der richtigen Spur. Was authentisch europäisch ist, hat Treitschke längst beschrieben: »Wenn die Engländer ... die Hindus vor die Mündungen der Kanonen banden und sie ›zerbliesen‹, daß ihre Körper in alle Winde zerstoben, so kann man das, da doch der Tod sofort eintrat, nicht tadeln. Daß in solcher Lage Mittel des Schreckens angewendet werden müssen, ist klar.« Bei Reißmüller ist auch alles klar – im Namen des »nationalen Selbstbestimmungsrechts« klagt er die nationale »Anerkennung« ein, deren Verweigerung ebenso unterhalb des »europäischen« Standards liegen soll wie die Skepsis gegenüber dem »nationalen Selbstbestimmungsrecht«, das nun als Krone der »europäischen Rechtskultur« (FAZ 17.7.91) herhalten muss.
Nation – in jeder Hinsicht ein Gemachtes
Mangels tragfähiger Grundlagen in der Gegenwart wichen die Ideologen des Nationalstaats immer auf die Geschichte aus. Die fehlende Kohärenz des Prinzips sollte sich angeblich aus menschlicher Natur, gemeinsamer Abstammung, gemeinsamer Sprache, Geschichte und Kultur ergeben. Schon bei oberflächlicher Betrachtung erweist sich jedoch das Nationale als ein in langen und komplizierten Prozessen entstandenes historisch-politisches Konstrukt und nicht als quasi-natürliche Gegebenheit.
Bei Licht besehen, ein Gebirge von papierner Vergeblichkeit, denn für die Begriffe Volk und Nation sieht die Bilanz in der kritischen Forschung trübe aus. Für kein einziges Großvolk kann man ein hohes Alter, ungebrochene Kontinuität oder gar – liebstes Kind der Nationensucher und Nationalitätenbastler – ethnische Homogenität belegen. Und was die Anfänge, Wiegen und Geburtsstunden von Großvölkern und Nationen betrifft, so liegen sie nicht im geheimnisvollen mythologischen Dunkel, im Kyffhäuser, auf den Schlachtfeldern vor Troja, beim Merowinger Häuptling Chlodwig im Frühmittelalter, sondern ganz profan zwischen Buchdeckeln bzw. auf der platten Hand: »In einem gewissen Sinne sind es die Historiker, die die Nationen schaffen« (Bernard Guenée 1971).
Verkürzt und vereinfacht: Am Anfang stand nirgendwo ein großes Volk und schon gar nicht eine ethnisch oder sprachlich homogene Nation, sondern eine Vielfalt von »bunten« gentilen Verbänden. Diese Verbände Stämme zu nennen, verbietet die Tatsache, dass mit dem Begriff Stamm immer noch die legendäre gemeinsame Abstammung, Sprache und Kultur verbunden wird. Genau das war jedoch nicht der Fall. Die gentile Entwicklungsphase ist überall gekennzeichnet durch eine Vielfalt von Siedlungsformen, inneren sozialen Beziehungen, Herrschaftsverhältnissen und ethnischen Mischungsverhältnissen. Erst relativ spät bilden sich gentile Verbände zu Völkern und Großvölkern, wobei deren einzelne Bestandteile in Sprache, Kultur und Sitten sehr lange resistent bleiben gegenüber den vereinheitlichenden (»Nationalisierungs«-)Tendenzen.
So ist es z. B. nichts als ein Gerücht, die Franken seien das Urvolk und die Begründer Frankreichs. Der Anteil eingewanderter (!) Franken am bunten Völkergemisch aus Römern, Galliern, Kelten, Bretonen, Normannen, Burgundern etc., aus dem zwischen Mittelalter und Neuzeit, von dem kleinen Gebiet der Île de France ausgehend, Frankreich heranwächst, ist minimal. Einzig im Seinebecken dürfte der Anteil der Franken im 6./7. Jahrhundert um zehn Prozent betragen haben, sonst bedeutend weniger (Karl Ferdinand Werner 1984). Nicht die Franken ethnischer Herkunft bilden Frankreich, sondern Herrschergeschlechtern und sozialen Eliten mit zum Teil fränkischen Vorfahren ist es im Laufe der Jahrhunderte gelungen, die anderen in »Frankreich« siedelnden, einwandernden und sich vermischenden gentilen Verbände, Völkerschaften und »Stämme« sowie deren herrschende Schichten zu einem Gemeinwesen zu formen. »Unterwerfung gegen Schutz vor inneren und äußeren Feinden« lautete die Formel, nach der im Laufe der Jahrhunderte so etwas wie ein Staat im modernen Sinne und nationaler Zusammenhalt geschaffen wurden; dieser »nationale« Zusammenhalt umfasste jedoch in Frankreich bis zur Revolution explizit nur die oberen Stände. Von der nachrevolutionären Nation unterscheidet sich dieser Begriff grundsätzlich, obwohl ihm dasselbe Wort zugrunde liegt. Das einfache Volk dagegen blieb, was es war: normannische, acquitanische, gaskognische, elsässische Magd, Bäuerin oder Handwerkersfrau; provenzalischer, bretonischer, burgundischer etc. Bauer, Knecht oder Handwerker; und genauso redeten sie vielerlei Sprachen, nur nicht Französisch. »Frankreich« erschien dem menu peuple noch bis ins 18. Jahrhundert hinein als ein ebenso unverständliches und künstliches Produkt wie die dazugehörige Hochsprache Französisch: eine Sache der weltlichen und kirchlichen Herren, mit der das gemeine Volk nichts zu schaffen hatte. Bei den anderen europäischen Großvölkern und Nationen verhielt es sich nicht anders.
Ludwig XIV.: »Die Nation ist kein Staatsstand (corps d’état) in Frankreich«, und »die Nation ist vollständig in der Person des Königs verkörpert«. Keine hundert Jahre später wird Emmanuel Joseph Sieyes seinen fulminanten Traktat mit dem Satz beginnen: »Der dritte Stand ist eine vollständige Nation« (Abbé Sieyes 1789). Das war keine empirische Beschreibung, sondern ein bürgerlich-revolutionäres Programm – in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zwischen Emanzipation und erneuter Ausgrenzung derer, die man zur Nation nicht, nicht mehr oder noch nicht zählen mochte. Die Französische Revolution schuf den modernen, der Tendenz nach demokratischen Nationsbegriff. Die Beziehung zwischen moderner Nation und moderner Demokratie ist zwar genetisch unbestreitbar, aber praktisch lose und extrem provisorisch, theoretisch irrelevant und juristisch kriminell.
Anachronistische Rückprojektionen: »Deutschland«
Es ist ein fast unauflösbares Volksvorurteil und ein Anachronismus, im Blick auf Frankreich von einer »alten« Nation zu reden, obwohl sich diese über fünf Jahrhunderte langsam und mit Rückschlägen entwickelte und erst in und nach der Revolution von 1789, vor allem in den Kriegen gegen das aristokratisch-monarchische Europa regelrecht geschaffen wurde. Carnot, der Kriegsminister, gilt nicht nur als »organisateur de la victoire«, sondern auch als einer der Schmiede der modernen Nation, als deren Kinderstube Schule und Kaserne fungieren (»die Schule wird zum Vorraum der Kaserne«, Hippolyte Taine 1893). Das ist nicht falsch, greift aber zu kurz, denn es dauerte noch eine ganze Weile, bis der französische Zentralstaat mit seinen Präfekten, Offizieren und Schulmeistern als nationalen Rasenmähern die überkommenen sozialen, kulturellen und sprachlichen Gewächse einheitlich zurechtgestutzt und zur Grande Nation (uni-)formiert hatte. Dazu mussten die Volkssprachen und Dialekte systematisch herabgesetzt werden, bis in der Öffentlichkeit nur noch das akademisch normierte Hauptstadtidiom Französisch aufzutreten wagte; dazu mussten vor allem die allgemeine Schulpflicht und mit ihr eine verbindliche Nationalsprache »eingeführt« werden; »eingeführt« verharmlost die Brutalität, mit der der Pariser Zentralismus regionale Sprachen und Dialekte buchstäblich ausrottete.
Es ist schon ein schwieriges Geschäft, nachzuzeichnen, wie die französische Nation in Schule und Kaserne herangezüchtet, von national eingestellten Intellektuellen herbeigeschrieben und wie die französische Hochsprache staatlich verordnet wurde; für das Deutsche ist das noch etwas dornenreicher, weil man es nicht nur mit nationalistisch eingefärbten Anachronismen zu tun hat, sondern seit Beginn der deutschen Geschichtswissenschaft mit einer militanten Ideologieproduktion, die sich – pragmatisch entschärft – in Teilen der deutschen Mediävistik und Rechtsgeschichte bis heute durchhält.
Der Beginn der deutschen Historiographie fällt zeitlich zusammen mit der Wahrnehmung nationaler, nationalstaatlicher Defizite in den Staaten des Deutschen Bundes gegenüber dem nachrevolutionären Frankreich. Das sollte kompensiert werden mit einer programmatisch deutschnationalen Lesart der mittelalterlichen Quellen: Die Probleme der Gegenwart bestimmten die Wahrnehmung und Aufbereitung der Vergangenheit.
Der »deutschen Nation«, einer geschichtsphilosophischen und politischen Konstruktion par excellence, verliehen national gesinnte Historiker den Charakter eines Naturtatbestandes, indem sie »Germanen« und »Deutsche« nicht nur gleich-, sondern als »von Anfang an« vorhandenes, homogenes Großvolk voraussetzten, das im mittelalterlichen Kaiserreich eine »deutsche Einheit« angeblich verwirklicht hatte und dann fahrlässig (»Italienpolitik«) verspielte. Die richtige Voraussetzung, dass gentile Verbände, Völkerteile, Völkerschaften, »Stämme« und Völker älter sind als »Staaten«, »Reiche« und »Nationen«, verlängerte die deutsche Historiographie und Rechtsgeschichte zur Vorstellung eines immer schon existierenden »deutschen Volkes«, das eben nur Pech gehabt habe mit seinen von Italien berauschten Herrschern und herrschsüchtigen Päpsten und deshalb in punkto Staatlichkeit und Nationalität gegenüber »Frankreich« (das es damals so wenig gab wie ein »deutsches« Kaiserreich) ins Hintertreffen geraten sei.
Germania und Gallia waren von der römischen Antike bis ins Mittelalter und die Neuzeit hinein geographische Begriffe. Der Rhein bildete die Ost-West-Grenze. Das Wort Germania in mittelalterlichen Quellen zielt immer auf diese geographischen Grenzen und nicht auf die ethnische Abstammung der Bevölkerungen oder politische Substrate. Die nach Gallien gewanderten Franken waren ebenso Germanen wie die diesseits des Rheins verbliebenen. Als »Deutsche« bezeichneten sich freilich weder die einen noch die andern.
Anders verhält es sich mit der Sprachenbezeichnung; »deutsch« bzw. »theodiscus«, gebildet aus althochdeutsch diot (Volk), meint alle nicht-romanischen Volkssprachen. Die nationes theodiscae umfassen z. B. nicht-romanisch sprechende Franken in den heutigen Ländern Flandern, Deutschland und Frankreich, Sachsen in England, Goten und Langobarden in Italien; hier heißen Franken, die nicht-romanisch reden, deshalb teutonici oder tedeschi, und umgekehrt nennen diese die romanische Sprachen verwendende Umgebung »Welsche«. Nicht-romanisch sprechende Sachsen in England oder Franken in Flandern bzw. Italien tauchen in den Quellen als nationes theodiscae auf, können jedoch nicht »deutsche Stämme« oder gar »Deutsche« gewesen sein, da sie niemals dem politischen Gemeinwesen angehörten, das – 962 als ostfränkisches Reich gegründet – erst im 11. Jahrhundert gelegentlich als regnum Teutonicum (1073) auftaucht. Die anderen Franken, Sachsen usw. gehören selbstverständlich zu den konstituierenden Bestandteilen der anderen im Entstehen begriffenen Großvölker in »England« bzw. »Frankreich« (K. F. Werner 1992).
Mit regnum meinen die mittelalterlichen Quellen einen sekundären Herrschaftsverband; man erklärt sich dessen Entstehung aus sesshaften gentilen Verbänden, die sich eben durch diese Sesshaftigkeit kulturelle, rechtliche und politische Strukturen schaffen und dabei die zu verschiedenen Zeiten eingewanderten wie die »eingeborenen« gentilen Verbände assimilieren. Diese Teilreiche (regna oder auch patriae) umfassten also immer Verbände unterschiedlicher Herkunft und Abstammung: Gothia, Burgundia, Francia, Saxonia, Lotharingia, Baioaria, Alemannia, Italia, Provincia sind keine homogenen Gebilde wie die anachronistischen Begriffe »Stamm« oder »Stammesherzogtum« suggerieren, sondern über lange Zeit entstandene melting pots. Die deutsche Übersetzung für regnum ist in der Regel rich oder lant regnum Baioariae, Baiernlant. Für eine Mehrzahl von regna auf dem Territorium des ostfränkischen Reiches existiert vor dem 16. Jahrhundert für »Deutschland« ganz selbstverständlich und logisch nur der Plural »deutsche Lande«. Der Alemanne, Sachse oder Baier existierte nicht von Anfang an, sondern entstand in einem geschichtlichen Prozess im Zuge der Vermischung und Verbindung von gentilen Verbänden zu Teilreichen/regna; gleichzeitig als Baier und Deutscher oder Sachse und Deutscher konnte man erst ab dem 11. Jahrhundert bezeichnet werden – gut 500 Jahre nachdem Alemannen, Baiern, Sachsen, Franken usw. belegt sind. Wie unwichtig das »Deutschsein« neben der faktischen Zugehörigkeit zu einem regionalen Teilreich und seiner Herrschaft (regnum, patria) blieb, beweist die Tatsache, dass der politische Begriff »deutsches Volk« erst nach der Französischen Revolution und in Anlehnung an die revolutionäre Terminologie vom souveränen »peuple français« nachzuweisen ist (K. F. Werner 1992).
Das »Deutsche Kaiserreich«, angeblich 962 von Otto dem Großen gegründet, gehört zu den Fiktionen der nationalstaatlich imprägnierten Historiographie des 19. Jahrhunderts, die bis heute in schlechten Schulbüchern und im common sense fortleben. Ottos Imperium Romanum (erst seit 1157 mit dem Zusatz Sacrum und erst seit 1442 mit der Präzisierung »nationis germanicae«, also: »Heiliges Römisches Reich germanischer (!) Nation« und erst seit dem Kölner Reichsabschied von 26.8.1512 und bis zum Untergang des Reiches (12.7.1806) hieß es offiziell und adjektivisch »Heiliges römisches Reich deutscher (!) Nation«, war nicht eines der »Deutschen«, womöglich gar der »deutschen Nation« im modernen Sinne, sondern jenes der Franci et Saxones (Franken und Sachsen). Diese beanspruchten die Erbschaft des »Sacrum Imperium Romanum« für sich. Franci et Saxones musste man allerdings geographisch näher bezeichnen, um sie z. B. von den französischen bzw. englischen Sachsen und Franken abzugrenzen – deshalb der spätere Hinweis auf die rechtsrheinisch gelegene Germania im Zusatz »nationis germanicae«, nicht etwa »teutonicae« oder »theodiscae«. Näherhin meinte Otto der Große mit den Franci et Saxones, in deren Namen er auftrat, nicht Völker im modernen Sinne, sondern den in Kirche und »Staat« Macht und Herrschaft ausübenden Adel (zusammengefasst in der Formel: regnum Francorum et Saxonum). Diese weltliche und kirchliche Elite fungiert in den mittelalterlichen Quellen unter dem Begriff populus/ Volk, das allein die Kirchenoberen und die Könige wählte bzw. absetzte. Mit Volk war also – im Unterschied zum heutigen Sprachgebrauch – ausschließlich das Kirche und Staat lenkende Volk gemeint, eine Oberschicht aus Kriegern, Adligen, Klerikern (K. F. Werner 1992).
Zu welchen Konfusionen es in Sachen »deutsch« und »Nation« trotz dieser relativ einfachen und eindeutigen Zusammenhänge nach wie vor kommt, soll an einem Beispiel gezeigt werden. Der ebenso verdienstvolle wie konservative Sozialhistoriker Werner Conze schrieb drei Jahre vor seinem Tod einen Aufsatz unter dem Titel: »Deutschland« und »deutsche Nation« als historische Begriffe (Werner Conze 1983).
Hochideologisierter Ramsch wie der Begriff »Stammesnationen« erscheint darin, aber kein einziger eindeutiger Beleg für das Titelwort »deutsche Nation«. Das ist handwerklich gesehen ein Defizit und faktisch das Eingeständnis, dass es frühe Belege für diesen Begriff in politischen Kontexten nicht gibt, weil man sich noch für sehr lange Zeit zwar als »Deutscher« (d. h. deutschsprachiger Bayer, Sachse etc.) bezeichnen konnte, der Ausdruck »deutsche Nation« aber immer die Verbindung zum »Heiligen Römischen Reich deutscher Nation« herstellte, also gerade – modern gesprochen – ein supranationales Gebilde meinte, dem selbstverständlich Ungarn, Kroaten, Norweger, Böhmen, Luxemburger, Spanier etc. mit angehörten. Das handwerkliche Defizit gerät Conze jedoch unter der Hand zum peinlichen Lapsus, wenn er als »Beleg« den Abschied des Augsburger Reichstags vom 25.9.1555 heranzieht. Conze suggeriert, hier stünde bereits »die Teutsch Nation, unser geliebt Vaterland« in einem modernen Sinne, d. h. als ein explizit und exklusiv auf ein nationaldeutsches Substrat abzielendes Subjekt zur Debatte. Das ist natürlich nicht der Fall, und Conze konnte das auch wissen, denn er zitiert nur die obenstehenden Worte, aber nicht den klaren Kontext, aus dem hervorgeht, dass auch 1555 »deutsche Nation« nur auf die Titulatur des Reichsverbands abhebt, nicht auf eine nationale Abgrenzung, einen nationalen Staat im heutigen Sinne: »Darauf Wir uns Gott dem Allmächtigen zu Lob und zu Ehren und Jhr Liebd. und Kayserlicher Majestät zu freundlichem und brüderlichem Gefallen, auch des gnädigen, milden Willens und Vorhabens des Heil. Reiches Teutscher Nation, Unsers geliebten Vatterlands, Unser und des heiligen Reichs gemeiner Stände und Untertanen Nutz, Wolfahrt, Gedeyen und Aufnehmen zu befördern ...«; an anderer Stelle heißt es »im Reich Teutscher Nation«. Und wo ausnahmsweise von der »Teutsch Nation, unser(m) geliebt Vatterland« die Rede ist, liegt die gegen Conze sprechende Pointe genau darin, dass es im zu stiftenden Religionsfrieden darum geht, »Zertrennung und Untergang« einzelner Reichsteile zu verhüten«, also gerade nicht Teile des Reichsverbandes zu modernen, andere Gebiete ausschließenden »Nationen« zu machen.
Überhaupt musste Conze, dem Wissenschaftler, bewusst sein, was Conze, der Nationale, vergaß: Gens und natio können in mittelalterlichen Texten in einem einzigen Satz Familien, Adelsgeschlechter, regionale Gruppen und supragentile Verbände bezeichnen, aber nicht »Nationen« im modernen Sinne, woraus nüchterne Mediaevisten schon seit geraumer Zeit den notwendigen Schluss ziehen, »dass von diesen gentes kein gerader Weg zu den europäischen Nationen führt« (Horst Beumann 1986).
Das angeblich nationalstaatliche Jahrhundert
Nationen im modernen Sinne, Nationalismen und Nationalstaaten sind also eine europäische Erfindung – und eine späte obendrein. Sie entstehen, grob gesagt, erst mit der Zerstörung der agrarischlokal bestimmten Gesellschaften im Zuge der ökonomischen Modernisierung und Industrialisierung. »Der Tatbestand, eine Nation(alität) zu besitzen, ist kein inhärentes Attribut der Menschlichkeit, aber er hat diesen Anschein erworben« (Ernest Gellner). Es handelt sich, bei der meistens staatlich mitgestalteten und mitgetragenen nationalen Territorialisierung im Augenblick des realen Substanzverlusts der Differenz zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft um eine Form von »invented traditions« (Eric J. Hobsbawm): Hymnen, Feste, Folklore, Fahnen, Kasernendrill, Erziehungsrituale – Instrumente im nationalen Baukasten. Im großen Schatten des Nationalen lassen sich sehr vielseitige Geschä...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckel
  2. Titelblatt
  3. Urheberrecht
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. I. Historische Essays
  7. II. Porträts gegen das Vergessen
  8. III. Politische Kommentare
  9. IV. Glossen
  10. V. Verrisse
  11. VI. Texte in eigener Sache
  12. Nachweise