Der Auto-Mensch
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Der Auto-Mensch

Ein mehrfach verunglückter Lebensentwurf des 20. Jahrhunderts und die frühen Anfänge eines ökologischen Zeitalters

  1. 240 Seiten
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Der Auto-Mensch

Ein mehrfach verunglückter Lebensentwurf des 20. Jahrhunderts und die frühen Anfänge eines ökologischen Zeitalters

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Über dieses Buch

Die Geschichte des Automobils wird in den Kontext zweier unterschiedlicher körperlicher Bewegungskulturen gestellt. Gerade in seinen Anfängen setzte sich das Auto mit sportlichen Mitteln, den Rennfahrten durch. Konkurrenz und Höchstleistung waren aber auch die Prinzipien des körperlichen Leistungssports. Am beginnenden 20. Jahrhundert trat aber auch eine ganz andere Bewegungskultur auf, die sich etwa in Gymnastik und Tanz zum Ausdruck brachte. Die Untersuchung gibt eine Anwort auf die Frage, durch welche Bedürfnisse und durch welche neue Wahrnehmungsweise es zur Verbindung von Auto und Mensch zum Auto-Menschen kam.

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Information

VIERTES KAPITEL
DIE NEUE BEWEGUNGSKULTUR
Abb. 23
Befreiungs-Bewegung
In Gleichzeitigkeit mit der Durchsetzung des Automobils tauchen neben dem technisch-industriellen Bereich Phänomene auf, die mit den herkömmlichen Verhaltensweisen nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Dazu gehört vor allem eine neue Bewegungskultur. Die Gymnastikbewegung des 20. Jahrhunderts knüpfte an einige Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts an, die zum Teil die neuen Prinzipien der Bewegung verwandten. Gewöhnlich sah man den Ursprung der neuen Gymnastik bei François Delsarte, der um 1850 in Paris eine Schule zur körperlichen Ausbildung von Schauspielern, Sängern und Rednern gründete. Eine Schülerin von Delsarte, die Amerikanerin Geneviève Stebbins, entwickelte ein eigenes System der Körperbildung, das sie „Harmonische Gymnastik“ nannte. Ihr System kam durch Hedwig Kallmeyer nach Deutschland und wurde hier zu einer bedeutenden Strömung in der Gymnastikbewegung. Sie gründete um 1910 in Berlin eine Schule für „Harmonische Körperkultur nach dem amerikanischen System Stebbins-KaNmeyer“. Eine zweite bedeutende Schülerin von Stebbins war Bess M. Mensendieck, die ihr System anatomisch-physiologisch begründete. Ihr Ziel war vor allem, durch Vermittlung von Kenntnissen über den Körperbau und die Gesetzmäßigkeit seiner Bewegungen die Frauen zu einer richtigen und gesunden Körperhaltung zu bringen. Die Linie von Hedwig Kallmeyer beziehungsweise Bess Mensendieck wurde später unter anderem fortgeführt oder weiterentwickelt vom „Hagemann-Mensendieck-Bund“, vom „Münchener Bund für angewandte und freie Bewegung“, von der Dora Menzler-Schule, von der Gymnastikschule Loheland in der Rhön. Eine zweite große Linie der neuen Bewegungskultur ging von dem Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze aus, der zunächst am Konservatorium in Genf, dann in Hellerau bei Dresden eine wirkungsvolle Tätigkeit entfaltete, die unter dem Namen „Rhythmische Gymnastik“ bekannt wurde. Rudolf Bode war eine Zeitlang in Hellerau als Lehrer tätig, wandte sich dann von Jaques-Dalcroze ab und entwickelte eine „Ausdrucksgymnastik“, die nicht mehr an der Musik, sondern ausschließlich an Bewegungsgesetzen des Körpers selbst orientiert sein sollte. Eine Verbindung von Gymnastik und künstlerischem Tanz schuf Rudolf von Laban mit einer Bewegungslehre, in der es vor allem um die Wahrnehmung des Raumes ging. 1926 gründete er in Würzburg ein „Choreographisches Institut“, in welchem die Grundlagen für sein Projekt der „Bewegungschöre“ erarbeitet werden sollten.
Die hier keineswegs vollständig aufgeführten Personen und Unternehmungen verschmolzen im Laufe der ersten 30 Jahre des 20. Jahrhunderts zu einer gesellschaftlichen Bewegung im eigentlichen Sinn. Erste Versuche, die Anliegen der neuen Bewegungskultur in die öffentliche Diskussion zu bringen, reichen bis auf die Kunsterziehungstage von Dresden (1901), Weimar (1903) und Hamburg (1905) zurück. Im Vordergrund stand damals das allgemeine Motiv, die Jugend vom Zwang starrer Methoden zu befreien, die ihr die Beschäftigung mit der Kunst und deren Ausdrucksmitteln im Deutschunterricht, im Zeichnen, Singen und in der Handarbeit mehr verleideten als zur Freude machten. Die pädagogischen Neuansätze, insbesondere der Bewegungskultur, fanden in dem 1915 gegründeten „Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht“ vor allem durch dessen Leiter Ludwig Pallat eine wichtige Unterstützung. Als öffentliche Stiftung führte es Tagungen und Lehrgänge durch, die der Verbreitung neuer pädagogischer Gedanken und Versuche in der Öffentlichkeit dienten. Eine solche Tagung war die für „Künstlerische Körperschulung“ vom Oktober 1922, die zum Ausgangspunkt einer breiten Welle der Gymnastikbewegung wurde. Der Gedanke an einen Zusammenschluss wurde konkreter. 1924 wurde eine „Zentralstelle für Gymnastik“ gegründet. Am 1. November 1925 schlossen sich die Schulen Bode, Gindler, Kallmeyer, Loheland, Laban und Mensendieck zum „Deutschen Gymnastik-Bund“ zusammen. Im Februar 1926 erschien die erste Nummer seiner Zeitschrift „Gymnastik“. Als Zweck des Bundes wurde definiert: „Förderung, Verbreitung und Schutz der Gymnastik, d.h. einer Körperschulung, welche den Körper in seinen konstruktiven und vitalen Kräften bildet und entwickelt und ihn so zum Träger nicht nur leiblicher, sondern auch seelischer und geistiger Werte macht“. (Gymnastik, 1926, S. 1)
Wie jede neue Epoche eine Methode der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden entwickeln muss, sind die Ansätze der zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstehenden neuen Bewegungskultur zwangsläufig vor allem mit der Vorherrschaft der Höchstleistungsbewegung konfrontiert. Deswegen lässt sich die neue Bewegungskultur zunächst an Hand ihrer Kritik an der alten beschreiben. Diese war natürlich in ihren Aspekten vielfältig, aber, soweit sie aus dem Lager der neuen Bewegungskultur kam, immer grundsätzlich. Deswegen kann sogleich die Kritik an den „Übertreibungen“ und „Auswüchsen“, an der „Rekordsucht“ und ähnlichem, wie sie aus dem Bereich des Sports selbst, z. B. von Carl Diem, geäußert wurde, ausgeschieden werden. Das Grundübel wurde vielmehr im Grundprinzip der Höchstleistung selbst geortet. Nach Rudolf von Laban handelt es sich bei den Rekorden um übermäßige Leistungen, die auch nur durch eine übermäßige Kraftanstrengung, also durch eine Verkrampfung oder Erstarrung erreicht werden können. „Es ist ja auch bekannt, dass eine ganze Reihe von Sportleistungen den Körper schädigen und zumindest die natürliche Bewegungsfähigkeit eindämmen. Ein Rekorddiskuswerfer wird unfähig sein, eine wirklich raumgesetzlich harmonische Armbewegung oder Armführung zu vollführen; es sind bei ihm bestimmte Muskelgruppen übertrainiert, andere vielleicht vernachlässigt, und das gesamte Zusammenspiel ist nicht mehr harmonisch, sondern disharmonisch grotesk, auf eine Sonderabart der Armbewegung eingestellt. Dies gilt für alle Spiel- und Sportbewegungen, die Rekordleistungen anstreben.“ (Laban, 1926, S. 21) Die natürliche Bewegungsfähigkeit sah man aber nicht nur beim Weltrekordler gestört und deformiert, sondern bei den meisten Menschen überhaupt. Denn wie die gängigen sportlichen Bewegungsabläufe ausschließlich körperliche Spannung voraussetzten, so treibe die erreichte Form der Zivilisation den Menschen in eine gefährliche Dauerspannung. Es beginne mit der Schule, die fast durchweg bewegungshemmend und völlig der Natur entfremdet sei. So komme es, dass die heutige Menschheit nicht mehr fähig sei, sich nach Art natürlicher Menschen zu bewegen. „Vielmehr bringt es die schreckliche Hetze der Großstadt und des modernen Arbeitsbetriebes mit sich, dass ein großer Teil der Menschheit in einem Dauerzustand von Spannung ist. Diesen allgemein als Nervosität bekannten Zustand, immer zu viel Energie bei der Arbeit zu vergeuden und nicht mehr nach jeder Anstrengung loslassen zu können, nennen wir ‚Verkrampfung‘.“ (Medau, 1926, S. 40f.) Wenn es Arbeitsbetrieb und die Großstadt sind, die den permanenten Spannungszustand bewirken, so liegt das Problem generell bei dem, was von außen auf den Körper eindringt, ihn einordnet und unterdrückt. Allerdings funktioniert diese Fremdbestimmung des Körpers nur durch eine Instanz im Menschen selbst: durch Verstand und Wille. Sie sind die Agenten der gesellschaftlichen Zwecke. „Aber wenn der gesellschaftliche Zweck um jeden Preis ausschlaggebend wird, muss das Gebot der Natur zurücktreten. Der Körper verliert seine vitale Kraft, indem er willfähriges Werkzeug für die Zielsetzungen des Verstandes wird.“ (Hilker, 1926a, S. 70) Die dauernde Verstandes- und Willensbeanspruchung hat zur Folge, dass wegen der unablässigen Anspannung der Muskeln die natürlichen Bewegungsabläufe verkümmern oder ganz verhindert werden. Dauernde Willensanspannung bedeutet dauernde Innervation der Muskeln, woraus ein unökonomischer Ablauf der Bewegung und unnötiger Energieverbrauch resultiert. Aber das Problem bleibt nicht allein auf den Körper beschränkt. Wenn man den erwachsenen Menschen von heute betrachte, so fragen Hedwig Kallmeyer-Simon und Friede Lauterbach, wo finde man entwickelten Sprachsinn, Ausdrucksfähigkeiten durch den ganzen Körper, durch den Ton, durch Zeichnen, Modellieren, Handfertigkeiten usw.? Stattdessen treffe man auf einen Menschen mit Schwächen und Hemmungen, mit inneren unerfüllten Wünschen oder gar innerem Tod. (Kallmeyer-Simon/Lauterbach, 1927, S. 176) Die Ausgangssituation stellte sich also für die neue Bewegungskultur folgendermaßen dar: Der gegenwärtige Mensch lebt tendenziell in einem permanenten Spannungszustand, in den die gesellschaftlichen Anforderungen des Kämpfens und Siegens, vermittelt durch Verstand und Willen, ihn treiben. In reiner Form manifestiert sich diese Spannung im Höchstleistungsprinzip des Sports. Folgen der Dauerspannung sind Verkrampfung in Haltung und Bewegung, unökonomischer Energieeinsatz, Unterdrückung der Eigenbewegung und inneren Anlagen des Menschen. Zum permanenten Spannungszustand führen die gesellschaftlichen Zwecke deswegen, weil sie sich nicht am Körper orientieren, sich nicht aus ihm ableiten und nicht mit ihm übereinstimmen, sondern unabhängig von ihm und gegen ihn entwickelt worden sind. Das ist der Grund dafür, dass sie als fremde Macht von außen an den Körper herantreten und zum Teil diktatorische Herrschaft über ihn ausüben.
Auf dem Hintergrund eines so kritisierten Status quo kann es für eine Bewegungskultur nur darum gehen, jegliche gesellschaftliche Zwecke aus dem Formgestaltungsprozess der Bewegung auszuschließen, d.h. quer zu den gesellschaftlichen Zwecken und unbeeinflusst von ihnen Bewegungsformen zu entwickeln. Mit dem bloßen Entschluss dazu ist es jedoch nicht getan. Denn die unter der Herrschaft der gesellschaftlichen Ziele geformten Bewegungsabläufe sind zur Gewohnheit und Selbstverständlichkeit geworden. In den körperlichen Bewegungsformen selbst sind die gesellschaftlichen Zwänge materialisiert. Daher ist die Befreiung von diesen gleichbedeutend mit der Befreiung der deformierten Bewegungsformen selbst. In ihrer „Künstlerischen Gymnastik“ aus dem Jahr 1910 hat Hade Kallmeyer wohl als eine der ersten darauf hingewiesen, dass fast alle Gymnastiksysteme das Anspannen der Muskulatur zur Kräftigung derselben ins Zentrum stellen, jedoch keine Rücksicht auf die richtige, zweckmäßige Wiederausspannung nehmen. Dass aber die Ruhe genauso wichtig sei wie die Arbeit, darauf weise das Beispiel arabischer Kaufleute hin, bei welchen es Sitte sei, beim Durchqueren der Wüste nach Erreichen einer Oase sich auf den Boden zu werfen und im Schatten der Palmen jeden Muskel erschlaffen zu lassen. Nachdem sie 20 bis 30 Minuten in dieser Lage verharrt hätten, seien sie so erfrischt, dass sie nochmal stundenweit ihre Reise fortsetzen könnten. Die Fähigkeit, die Muskeln wirklich erschlaffen zu lassen, sei dem Menschen der westlichen Zivilisation verloren gegangen. Das habe zur Folge, dass er ständig unnötige Muskelanspannungen ausführe, was Energievergeudung bedeute und alle Bewegungen ungraziös mache. Leichtigkeit und Anmut der Bewegungen aber sei nur möglich durch „ausschließliche Benutzung der wirklich in dem betreffenden Augenblick benötigten Muskeln“. (Kallmeyer, 1910, S. 51) Um diese Fähigkeit wiederzugewinnen, bedarf es eigens dafür entwickelter Bewegungsübungen, die damals von Kallmeyer noch „Schlaffmachübungen“ genannt wurden. Sie dienten dazu, die aufgrund von Dauerspannung in den einzelnen Körperteilen aufgespeicherten Energien aufzulösen. Wenn dies erreicht wird, kann der natürliche Wechsel von Muskelanstrengung und Schlaffmachen der Muskulatur wieder stattfinden. Hade Kallmeyer entwickelte dazu drei Arten von Bewegungsformen: Fallbewegungen, Pendelbewegungen und Schleuderbewegungen. Man kann etwa damit beginnen, dass man die Arme über den Kopf hebt und sie dann plötzlich schlaff herunterfallen lässt. Ohne jegliche Muskelanspannung kann der Arm, durch entsprechende Bewegung des Rumpfes, in eine Kreisbewegung versetzt werden. So soll gesondert aus den einzelnen Körperteilen, dem Kopf, den Armen, Händen, Beinen, Füßen, aus dem Rumpf alle Muskelspannung entfernt werden. Später setzte sich für das Schlaffmachen allgemein der Begriff „Entspannung“ durch.
Abb. 24 Schlaffmachen der Unterarme durch Schleuderbewegung
In Rudolf Bodes „Ausdrucksgymnastik“ von 1922 bilden die Entspannungsübungen das Fundament seiner Bewegungskonzeption. Ihr Sinn wäre jedoch völlig verkannt, unterstellte man ihnen den Zweck, Spannungen überhaupt zu beseitigen. Nur die falschen Spannungen sollen bekämpft werden. „Unter falschen Spannungen verstehen wir vergesellschaftete Spannungen, die nicht in einer organischen Abhängigkeit voneinander stehen, sondern künstlich infolge falscher Bewegungsgewohnheiten entstanden sind.“ (Bode, 1922, S. 38) Das Falsche am Bewegungsverhalten liegt nach Bode in einem Missverhältnis von Gliedmaßen und Rumpf beziehungsweise deren Beteiligung an der Bewegung. Denn die Hauptlast der gesellschaftlichen Anforderungen an den Körper hätten eindeutig die Gliedmaßen zu tragen. Folglich seien deren Muskeln einer nahezu permanenten Überforderung ausgesetzt. Dabei ist für Bode nicht in erster Linie die übermäßige Kraftanstrengung das Problem, sondern die fast lückenlose Abfolge der Impulse, die auf die Gliedmaßen wirken. „Denn Angriffsobjekte des Willens sind in unserem zivilisierten Leben die Gliedmaßen und nicht der Körper!“ (Bode, 1922, S. 29) Richteten sich die Willensakte auf Bewegungen des Rumpfes, würde deren zu große Häufigkeit von selbst unterbleiben. Der zivilisierte Mensch von heute aber arbeite und bewege sich „unter Ausschaltung seines Körpers“. Man müsse schon zu Handarbeitern und Bauern gehen, um noch richtige Arbeitsbewegungen zu sehen. Die Ausschaltung des Rumpfes müsse man sich so vorstellen, dass der Willensakt gleichsam über alle physiologischen Zwischenglieder hinweg sofort auf den betreffenden Gliedmaßenmuskel, also auf die Peripherie überspringt. Aus dieser Analyse zum Verhältnis von Gliedmaßen und Rumpf zieht Bode nun seine Schlussfolgerungen für die Entspannung. Wolle man die nervöse Daueranspannung beseitigen, so müsse man die Empfänglichkeit herabmindern, in welcher das zu bewegende Glied zum zentralen Willensakt stehe. Es müsste durch Übung der Ablauf des Innervationsvorganges so geändert werden, dass es nicht mehr zu einer Art Daueranspannung kommen könne. Generell bedeutet dies, dass der übersprungene und ausgeschaltete Rumpf wieder dazwischengeschaltet werden muss. Die Bewegung soll vom Rumpf aus in die Gliedmaßen weiterlaufen. Entsprechend hält Bode diejenigen für die wirksamsten Entspannungsübungen, bei denen die Bewegung der Gliedmaßen durch eine Bewegung des Zentralschwerpunktes ausgelöst wird. Allerdings sind diese auch am schwierigsten zu erlernen. Denn die einzelnen Körperglieder des zivilisierten Menschen, insbesondere seine Gliedmaßen, kennen und führen Bewegungen nur aus, wenn sie das entsprechende Kommando aus dem Gehirn erhalten. Deshalb muss auch jedes einzelne Glied die Realität einer Bewegung ohne Willenssteuerung aus dem Gehirn erst erlernen. Infolgedessen müssen, bevor die entspannte, natürliche Bewegung des ganzen Körpers stattfinden kann, die einzelnen Körperglieder lernen, entspannte, d.h. nicht willentlich gesteuerte und durch Muskelkraft erzeugte Bewegung zu machen. Bode beginnt daher mit Übungen, in welchen der Antrieb durch die Schwerkraft bewirkt wird. Dabei handelt es sich um Fallbewegungen, wie sie bereits von Kallmeyer praktiziert wurden. Dies gilt auch für die Übungen, in welchen der Antrieb durch einen Stoß von außen bewirkt wird. Kallmeyer sprach von Pendelbewegungen.
Abb. 25 Entspannungsübung für den Oberkörper nach vorwärts, Dora-Menzler-Schule, 1924
Grundsätzlich geht es also darum, die eingefahrene Gleichung „Bewegung = Willensimpuls + Muskelkraft“ außer Kraft zu setzen und an ihre Stelle die willens- und muskellose Bewegung zu setzen. Nur wenn sie gelernt ist, kann der notwendige Kontrast entstehen, der erst einen naturgemäßen Wechsel von An- und Abspannung wieder möglich macht. Alle die Störungen, welche in zu starker, zu früher oder zu später Muskelanspannung begründet sind, sind nur korrigierbar, wenn die Fähigkeit zur Bewegung ohne Willens- und Muskelanspannung erworben wird. Man kann daraus einerseits ersehen, dass die Entspannungsübungen zur Beseitigung von Schäden und Störungen im Bewegungsverhalten, also zu therapeutischem Zweck erfunden sind. Die „ausschließlich heilpädagogischen Zwecke“ der Entspannungsübungen formulierte Bode in seiner „Ausdrucksgymnastik“ von 1922 bereits deutlich: „Es sind nicht im eigentlichen Sinne Naturbewegungen, denn diese würden ja gerade das Fehlen von Verkrampfungen voraussetzen, sondern Kunstbewegungen, der Arznei in der ärztlichen Kunst vergleichbar, durch welche eine Störung beseitigt und der natürliche Ablauf im Organischen wiederhergestellt wird.“ (Bode, 1922, S. 31) Andererseits war die Entspannung in der Absetzung der neuen Bewegungskultur von der alten so fundamental, dass sich mit ihr das Wesen der Gymnastik definieren ließ: „Das Wesen der Gymnastik liegt in der Befreiung der den Körper aufbauenden und bewegenden Kräfte von allen Hemmungen, die äußerliche Zwecksetzungen oder übersteigerte willentliche Beanspruchung herbeiführen.“ (Hilker, 1926 b, S. 490) Ähnlich definierte der Vorkämpfer der proletarischen Körperkulturbewegung, Adolf Koch, die Aufgabe der Gymnastik: „Aufgabe der Gymnastik muss sein, den natürlichen und gesunden Körper als Grundlage betrachtend, alle Verkümmerungen, Verkrampfungen, Hemmungen, Schäden und Schwächen soweit zu beseitigen, dass wirklich alle gesunden Fähigkeiten entwickelt werden können.“ (Koch, 1929, S. 80) Bis hierher ist die neue Bewegungskultur eine Befreiungsbewegung, die den Körper aus der Unterdrückung durch die technisch-industrielle Zivilisation befreien will. Ist die alte Herrschaft aber abgeschüttelt und sind deren schädliche Auswirkungen abgebaut, muss die Befreiungsbewegung zur Aufbaubewegung werden.
Der Körper als Formprinzip der Bewegung
Das Aufkommen der neuen Bewegungskultur bedeutet die bewusste Weigerung, die gesellschaftlichen Ansprüche mit ihrem Höchstleistungsprinzip auf den eigenen Körper bewegungsformend wirken zu lassen. Wenn nun die von außen an den Körper herangetragenen Bewegungsschemata in ihrer Wirkung aufgehoben werden, bleibt als formbildender Faktor für die Bewegung nur der Körper selbst. Von diesem Grundgedanken sind alle Richtungen der Gymnastikbewegung au...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Urheberrechte
  3. Titelblatt
  4. Vorwort
  5. Dank
  6. Inhaltsverzeichnis
  7. Einleitung
  8. Erstes Kapitel: Der Widerstand Gegen Das „Monster“
  9. Zweites Kapitel: Der Weg Zur Durchsetzung Des Automobilismus
  10. Drittes Kapitel: Die Alte Bewegungskultur
  11. Viertes Kapitel: Die Neue Bewegungskultur
  12. Fünftes Kapitel: Die Automobilisierung Der Landschaft
  13. Literaturverzeichnis
  14. Nachwort – Eine aktualisierende Weiterführung
  15. Quellenangaben
  16. Abbildungsverzeichnis