Vom Leben und Sterben im Alter
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Vom Leben und Sterben im Alter

Wie wir das Lebensende gestalten können

  1. 336 Seiten
  2. German
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Vom Leben und Sterben im Alter

Wie wir das Lebensende gestalten können

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

This book is concerned with people who are approaching the end of their lives, as well as with the personal and professional caregivers who accompany them during this last stage. It describes attitudes and coping techniques among seriously or terminally ill people, as well as the care, support and environmental conditions that can help them shape the end of life in the best way possible in accordance with their own ideas. The author=s aim in the book is to provide support for people in developing an accepting attitude towards the finiteness of life and in clearly articulating to their caregivers what their ideas of a good life are.?This is a major work that places all end-of-life issues in a kinder, more serious, and more confident light. Well worth reading for everyone in relation to their own life, and for doctors, nurses, pastoral caregivers, counselors and all those voluntarily involved in providing humane care for seriously ill, very elderly and dying people. A book that is a wonderful read.= Dr. Matthias Mettner, Director of Studies for?Palliative Care and Organizational Ethics & Interdisciplinary Continuing Education Switzerland=, and Program Director of the Health and Medicine Forum, Zurich.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783170405882
Auflage
1
Thema
Medizin

1

Sterbensängste, Todesängste: Welche Antworten können wir auf diese geben?

Aus der Perspektive chronisch kranker Patientinnen und Patienten beschreibt das Lebensende meist den Übergang von einer chronisch-progredienten Krankheit in ein präfinales und schließlich in ein finales Stadium. Gerade wenn wir auf das hohe Alter blicken, lassen sich derartige Übergänge beobachten, die mit einer kontinuierlich zunehmenden Schwächung der körperlichen, nicht selten auch der kognitiven Kräfte, mit einer immer weiter abnehmenden Selbstständigkeit, mit zunehmender körperlicher, vielfach auch emotionaler Erschöpfung, bisweilen mit Angst und Niedergeschlagenheit verbunden sind. Hinzu können Schmerzsymptome und zahlreiche weitere Körpersymptome treten, die ihrerseits die emotionale Verletzlichkeit noch einmal erhöhen. Das Lebensende ist für viele Patientinnen und Patienten, deren Bezugspersonen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des medizinisch-pflegerischen Versorgungssystems mit hohen Anforderungen verbunden – körperlichen, seelischen, sozialen, existenziellen. Diese Anforderungen nehmen möglicherweise noch einmal zu, wenn alte Menschen an einer der verschiedenen Demenzformen leiden oder im Vorfeld des Todes akute Zustände der Desorientierung, wenn nicht sogar der Verwirrtheit zeigen. Die hier in Kürze zusammengefassten, in diesem Buch ausführlich darzustellenden und zu erörternden Prozesse befürchten Menschen, wenn sie sagen, sie schrecke nicht der Tod, sie schrecke allein die Vorstellung, qualvoll sterben zu müssen.
Hier sei betont: Stationäre und ambulante Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in einem Maße entwickelt, dass es Ärzten, Pflegefachpersonen, Physiotherapeuten, Logopäden, Psychologen, Sozialarbeitern, Seelsorgern – um hier die wichtigsten Disziplinen in einem interdisziplinären palliativen Versorgungsteam zu nennen – zunehmend besser gelingt, die körperlichen und kognitiven Symptome erkennbar zu lindern, den Symptomverlauf zu kontrollieren, Ängste und Depressionen zu mildern, Phasen der Desorientierung und der Verwirrtheit ganz zu vermeiden oder wenigstens erheblich zu verkürzen und zudem in ihrer Symptomtiefe erkennbar zu verringern1. Dies sind große fachliche Erfolge, die sich in hohem Maße auch der Courage und dem Engagement von Menschen verdanken, die den Mut haben, sich auf das Sterben von Patientinnen und Patienten einzulassen (was ohne persönliches Berührt-Sein gar nicht möglich ist), ja, dabei auch dem Tod in die Augen zu schauen (Bausewein, 2015). Der weitere Ausbau stationärer und ambulanter palliativmedizinischer und -pflegerischer Versorgungsstrukturen wie auch stationärer und ambulanter Hospize ist in meinen Augen eine der wichtigsten Aufgaben, die sich unserem Gesundheitssystem stellen. Dies übrigens auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die familiäre Pflege alter Menschen in unserem Land – wie auch in unseren Nachbarländern – mehr und mehr zurückgehen wird: Der demografische Wandel mit einem veränderten Altersaufbau der Bevölkerung wie auch die deutlich erhöhte räumliche Mobilität der mittleren Generation sind bedeutende Ursachen für die zurückgehenden familiären Pflegeressourcen.
Mit den großen Erfolgen, die Palliativmedizin und Palliativpflege wie auch Hospizarbeit heute vorweisen können, ist aber nicht nur eine signifikante Linderung von körperlichen und psychischen Symptomen verbunden. Es kommt etwas hinzu, was in meinen Augen in den heutigen Diskussionen bisweilen vernachlässigt wird: Durch Symptomlinderung und -kontrolle kann dazu beigetragen werden, dass sich Patientinnen und Patienten sehr vielmehr auf das eigene Sterben einstellen, mithin die persönliche Situation sowie ihr soziales Nahumfeld – wenn auch nur eingeschränkt – mitgestalten können.
Damit ist eine psychologische und existenzielle Dimension des Sterbens angedeutet, die in diesem Buch besonders hervorgehoben werden soll. Das Sterben wird als natürlicher und für die Gesamtgestalt des Lebens bedeutsamer Prozess verstanden. Vielleicht ist das Sterben ein Übergang, wobei wir nicht wissen, auch nicht in Ansätzen angeben können, wohin dieser Übergang führt, mit welchen inneren Prozessen dieser verbunden ist.
Alles ist nur Übergang. Merke wohl die ernsten Worte:
Von der Stunde, von dem Orte treibt Dich eingepflanzter Drang.
Tod ist Leben, Sterben Pforte. Alles ist nur Übergang.
(Alte Brückeninschrift in Wien. Verfasser: unbekannt)
In diesem Buch möchte ich darlegen, wie wichtig es ist, dass Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit alles dafür tun, damit Menschen am Lebensende in die Lage versetzt werden, sich auf den herannahenden Tod innerlich einzustellen, diesem gefasst entgegenzugehen. Dieses Sich-Einstellen auf den Tod, dieses gefasste Entgegengehen ist dann unmöglich, wenn Patientinnen und Patienten an starken Schmerzen leiden und weitere Symptome zeigen, die sie als qualvoll erleben. In dem Maße, in dem Symptomlinderung und -kontrolle gelingen, wird die Grundlage für diese konzentrierte und gefasste Haltung gegenüber dem herannahenden Tod geschaffen. Diese Aussage treffe ich vor dem Hintergrund einer eigenen Studie zur hausärztlichen Sterbebegleitung, von der in diesem Buch noch ausführlich die Rede sein wird, vor allem aber vor dem Hintergrund zahlreicher Arbeiten auf dem Gebiet der Palliativmedizin, der Palliativpflege und der Hospizarbeit, auf die an späterer Stelle ausführlich Bezug genommen wird.
Es ist zu bedenken, dass man bei der Versorgung und Begleitung eines schwerkranken oder sterbenden Menschen wenigstens eine gewisse persönliche Vorstellung davon haben sollte, was im Prozess der schweren Krankheit und des Sterbens psychologisch und existenziell geschieht (von Scheliha, 2010; Roser, 2019): Nicht, um Patientinnen und Patienten Überzeugungen aufzudrängen, sondern um selbst eine Orientierung, einen Kompass zu besitzen, der das eigene psychologische und existenzielle Erleben und Handeln leitet, ohne dabei die Offenheit für alle Zeichen, Aussagen und Deutungen, die von den Patientinnen und Patienten ausgehen, zu verlieren. Es sei hier betont: Den Dreh- und Angelpunkt der Versorgung und Begleitung bilden neben fachlichen Standards die Werte, Überzeugungen und Bedürfnisse der Patientin bzw. des Patienten (Caspari, Lohne, Rehnsfeldt et al., 2014; Remmers, 2019).
Wenn Symptome gelindert und kontrolliert, wenn Werte, Überzeugungen und Bedürfnisse schwerkranker und sterbender Menschen verstanden und ausdrücklich aufgegriffen werden: Sind dann alle Ängste genommen? Hier möchte ich vor vorschnellen Annahmen und Vereinfachungen warnen. Nicht wenige Menschen neigen ja dazu, die Aussage zu treffen, sie hätten vor dem Sterben Angst, nicht aber vor dem Tod. Vielfach ist zu hören, dass man mit dem Tod »keine Probleme« habe – schließlich erlebe man diesen ja nicht an sich selbst –, wohl aber mit dem Sterben, da man Angst vor einem qualvollen Sterben habe. Ich stehe dieser Aussage skeptisch gegenüber. Das Leben aufzugeben, die engsten persönlichen Bezugspersonen zurückzulassen, von der Welt Abschied zu nehmen: Dies fällt zumindest jenem Menschen, der gerne lebt, der in und an der Welt Freude empfindet, der sich in der Welt und für die Welt engagiert, schwer. Es ist ein endgültiger Abschied. Diesen Abschied mag man Jahre vor dem Tod in seiner persönlichen Bedeutung diminuieren – der Abschiedsschmerz wird größer und größer, wenn man unmittelbar mit dem herannahenden Tod konfrontiert ist. Dies heißt nun nicht, dass der Mensch mitten im Leben niedergeschlagen oder verzweifelt sein und jegliche Initiative zur Selbst- und Weltgestaltung aufgeben müsste. Es heißt vielmehr, dass der Mensch »lernen« muss, sich auf das Faktum des eigenen Todes rechtzeitig einzustellen, dass er lernen muss, »anzusterben«, wie dies Michelangelo Buonarroti (1475–1564) in einem seiner 42 Sonette ausgedrückt hat.
Des Todes sicher, nicht der Stunde, wann.
Das Leben kurz, und wenig komm ich weiter;
den Sinnen zwar scheint diese Wohnung heiter,
der Seele nicht, sie bittet mich: stirb an.
Die Welt ist blind, auch Beispiel kam empor,
dem bessere Gebräuche unterlagen;
das Licht verlosch und mit ihm alles Wagen;
das Falsche frohlockt, Wahrheit dringt nicht vor.
Ach, wann, Herr, gibst du das, was die erhoffen,
die dir vertraun? Mehr Zögern ist verderblich,
es knickt die Hoffnung, macht die Seele sterblich.
Was hast du ihnen so viel Licht verheißen,
wenn doch der Tod kommt, um sie hinzureißen
in jenem Stand, in dem er sie betroffen.
(aus: Michelangelo Buonarroti, 2002, »Zweiundvierzig Sonette«;
übersetzt von Rainer Maria Rilke)
In diesem Sonett kommt die Bereitschaft zum Ausdruck, bereits viele Jahre vor Eintritt des Todes »anzusterben«, dies heißt, sich allmählich von der Welt zu lösen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass wir weder die uns umgebende Welt noch unser Leben als »unseren Besitz« auffassen dürfen. Im Gegenteil: Wir sind dazu aufgerufen, uns in das Loslassen und Hergeben einzuüben und damit die Welt und unser Leben im Sinne von Gegebenem, das wir irgendwann zurückgeben müssen, zu deuten2. Mit der Loslösung von der Welt – und dies heißt in den Worten Michelangelos: mit dem »Ansterben« – stellt sich der Mensch auf den eigenen Tod ein.
Auch die von Notker Poeta (deutsch: Notker der Dichter, Notker der Stammler) (ca. 840–912) stammende Antiphon: »Media in vita in morte sumus« (dt.: Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen) erinnert uns daran, rechtzeitig mit der Vorbereitung auf unseren Tod zu beginnen, uns in die abschiedliche Existenz einzuüben – was nicht bedeutet, dass sich der Mensch aus dem Leben zurückzöge, seine Möglichkeiten zur Selbstgestaltung und Weltgestaltung ungenutzt ließe.
Zurück zum Titel des Buches: »Vom Leben und Sterben im Alter«. Dieser Titel dient als Metapher für das herannahende Lebensende, welches hier aus der Perspektive des chronisch erkrankten Menschen betrachtet wird, vor allem aus der Perspektive des alten Menschen. Mit diesem Titel wird der Übergang von einer schweren chronischen Erkrankung zu einem präfinalen und finalen Zustand überschrieben – ein Übergang, der in aller Regel kontinuierlich zunehmend (progredient) verläuft, was sich nicht nur mit Blick auf die physische, sondern auch mit Blick auf die psychische, die soziale und die existenzielle Situation von Patientinnen und Patienten zeigt.

1.1 Die verschiedenen Bereiche der Person im Prozess des Sterbens

Der körperliche Bereich

Im körperlichen Bereich dominiert ein stetiger Rückgang der Widerstandsfähigkeit (gegen interne und äußere Stressoren) und der Restitutionsfähigkeit: Infektionen können immer schlechter abgewehrt werden, nach einer akuten Verschlechterung der Gesundheit wird deren Wiederherstellung immer unwahrscheinlicher, das nach optimaler Therapie und Rehabilitation erreichte Leistungsniveau unterschreitet jenes, das vor der akuten Verschlechterung der Gesundheit bestanden hat. Da akute Krankheitsepisoden mehr und mehr zunehmen, bedeutet dies langfristig einen deutlichen Rückgang der Leistungsfähigkeit des Organismus; möglicherweise bis hin zu einer vita minima. Eingetretene Einbußen in einzelnen Organfunktionen lassen sich immer weniger kompensieren. Diese Veränderungen münden schließlich in einem deutlich erhöhten Auftreten von körperlichen (und in deren Folge: von kognitiven) Symptomen und in einer verringerten Selbstständigkeit, die bis hin zu einer ausgeprägten Hilfsbedürftigkeit oder sogar Pflegebedürftigkeit führt (Burkhardt, 2019). Die Patientinnen und Patienten zeigen nicht selten stark ausgeprägte Erschöpfungssymptome, die auch die Teilnahme an aktivierenden oder rehabilitativen Maßnahmen erschweren.
Die längsschnittliche Abbildung dieses kontinuierlich zurückgehenden körperlichen Leistungsniveaus lässt sich mit dem in der Geriatrie entwickelten Frailty-Konzept vornehmen, das auch als eine phänotypische Annäherung an die zunehmende körperliche Verletzlichkeit des Menschen verstanden werden kann. Nach Linda Fried, auf die dieses Konzept zurückgeht, ist den folgenden fünf klinischen Merkmalen – die in ihrer Gesamtheit das Frailty-Konzept konstituieren – besondere Beachtung zu schenken (Fried et al. 2001):
1. dem ungewollten Gewichtsverlust (über fünf Kilogramm im vergangenen Jahr),
2. der subjektiv erlebten körperlichen Erschöpfung,
3. der körperlichen Schwäche (bestimmt mit der Messung der Handkraft),
4. dem verlangsamten Gang,
5. der geringen physischen Aktivität.
Wenn mindestens drei dieser klinischen Merkmale vorliegen, wird von Frailty gesprochen. Nun ist Frailty aber nicht per se mit der stark ausgeprägten Verletzlichkeit – man könnte in diesem Krankheitsstadium auch sagen: Gebrechlichkeit – des Menschen am Ende seines Lebens gleichzusetzen; vielmehr ist die Gebrechlichkeit eine stark ausgeprägte Form von Frailty. Und doch eignet sich das Frailty-Konzept auch zur Charakterisierung des organismischen Zustandes des Menschen am Ende seines Lebens, denn in allen (und eben nicht nur einzelnen) Merkmalen, die unter Frailty subsumiert werden, zeigen sich so stark ausgeprägte Leistungseinbußen und Restitutionsdefizite, dass deutlich wird: die verbliebenen physischen Ressourcen werden ausschließlich für die Aufrechterhaltung grundlegender Lebensfunktionen benötigt (Clegg et al., 2013). Dies aber gelingt dem Individuum immer weniger, sodass wiederholt abrupte Verschlechterungen des allgemeinen Gesundheitszustandes auftreten, die sich immer weniger kompensieren lassen. Daraus resultiert – betrachtet man den gesamten Krankheitsverlauf in der letzten Lebensphase – eine zunehmend geringere physiologische Leistungs- und Restitutionskapazität, die schließlich in einen Finalzustand mündet. Der Altersmediziner Cornel Sieber (2005) versteht Frailty als Folge von Einbußen in mehreren physiologischen Merkmalen, die gerade aufgrund ihrer Häufung ein »ausbalanciertes System gefährden« können; im Falle von Einbußen in zahlreichen physiologischen Merkmalen, so kann gefolgert werden, ist dieses ausbalancierte System nicht nur gefährdet, sondern bricht zusammen (»Desorganisation«) und kann zunächst nur noch in Ansätzen, bald aber gar nicht mehr wiederhergestellt werden.
Zur stark ausgeprägten Frailty tritt häufig die Sarkopenie (Abnahme von Muskelmasse und Muskelkraft) hinzu, die von alten Menschen als besondere körperliche und emotionale Belastung erfahren wird (Cruz-Jentoft, Bahat, Bauer et al., 2019). Die Sarkopenie lässt sich bei über 30 Prozent der ab 80-jährigen Frauen und Männer beobachten (Buess & Kressig, 2013). Der Gewichtsverlust ist dabei mit einem erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko verbunden (Sieber, 2014). Gerade bei schwerkranken oder sterbenden alten Menschen bildet die Sarkopenie – neben einer stark ausgeprägten Frailty – ein häufig anzutreffendes Syndrom, das in dieser Gruppe durchaus auch als ein Leitsyndrom eingestuft werden kann.
Was folgt aus diesen Aussagen?
Diese zeigen uns, dass sich im hohen Alter der gesundheitliche Zustand nicht plötzlich, abrupt, sondern vielmehr kontinuierlich fortschreitend verschlechtert, was sich auch mit dem subjektiven Empfinden von Patientinnen und Patienten deckt, die häufig davon sprechen, dass es immer weniger werde, dass sie sich einer letzten Grenze näherten, dass die Phasen der Erschöpfung in immer kürzeren Abständen aufträten und dabei immer länger anhielten. Patientinnen und Patienten erfahren unmittelbar das Leben zum Tode hin, ein Leben, das Möglichkeiten der Selbstgestaltung und Weltgestaltung immer weiter verringert. Damit machen auch die für die Denomination der Palliativmedizin und Palliativpflege konstitutiven Begriffe »Pallium« (Mantel) bzw. »palliare« (den Mantel umlegen) einmalmehr Sinn. Denn es geht ja in der Tat darum, körperlich hochgradig geschwächte Patientinnen und Patienten zu schützen – vor bestimmten Symptombildungen ebenso wie vor weiteren Erkrankungen.
In einer für die medizinisch-pflegerische Versorgung am Lebensende wichtigen Studie wurde zwischen drei Krankheitsverläufen (»trajectories«) in der letzten Lebensphase differenziert (Murray, Kendall, Boyd et al., 2005):
1. Tumorerkrankungen: diese sind zunächst durch eine relativ lange Zeit mit vergleichsweise geringen Einschränkungen im Alltag charakterisiert; innerhalb weniger Monate treten körperlicher Abbau, Funktionsverlust und Tod ein;
2. Herz-, Lungen- oder Nierenerkrankungen: diese erstrecken sich über mehrere Jahre mit mehr oder minder stark ausgeprägten Einschränkungen im Alltag; gelegentlich treten akute Verschlechterungen ein, die einen Krankenhausaufenthalt notwendig machen; die sich anschließende Erholung erreicht das frühere Funktions- und Leistungsniveau nicht mehr;
3. Frailty: vielfach assoziiert mit kognitiven Störungen und einem über mehrere Jahre bestehenden, kontinuierlich steigenden Niveau der Hilfsbedürftigkeit oder Pflegebedürftigkeit.
Wie die Autoren dieser Studie hervorheben, sind für den Tod alter Menschen nur in geringem Maße die Tumorerkrankungen verantwortlich und in sehr viel stärkerem Maße Herz-, Lungen- und Nierenerkrankungen oder eine stark ausgeprägte Frailty, verbunden mit Sarkopenie.
Dies zeigt noch einmal, wie wichtig das vertiefte Verständnis eines kontinuierlichen Übergangs von einer chronisch progredienten Erkrankung zu einem präfinalen und schließlich einem finalen Zustand für die fachlich und ethisch überzeugende therapeutische und pflegerische, aber auch für die psychologische, soziale und seelsorgerische Begleitung ist. Denn es geht um die Frage, wann therapeutisch-rehabilitative Ziele und Schritte zugunsten palliativer Ziele und Schritte verringert und schließlich ganz aufgegeben werden sollten. Darüber hinaus ist es bei vielen Patientinnen und Patienten geboten, trotz Einleitung palliativmedizi...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. 1 Sterbensängste, Todesängste: Welche Antworten können wir auf diese geben?
  7. 2 Die Vorbereitung des Menschen auf seinen Tod
  8. 3 Die Verarbeitung und Bewältigung einer schweren, zum Tode führenden Krankheit
  9. 4 Begleitung am Lebensende: Drei Gestaltungskontexte
  10. 5 Selbstverantwortung am Lebensende: Zehn Variationen über ein Thema
  11. 6 Leben und Sterben eines demenzkranken Menschen
  12. 7 Abschluss (Coda)
  13. Literatur