Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3
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Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3

Historische Essays, Porträts, politische Kommentare, Glossen, Verrisse

  1. 247 Seiten
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Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3

Historische Essays, Porträts, politische Kommentare, Glossen, Verrisse

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Über dieses Buch

Wie die beiden Vorgänger enthält auch Band 3 historische Essays (Schwerpunkt französische Zustände), Porträts gegen das Vergessen (von Adorno über Guy Debord bis hin zum Abbé de Saint-Pierre), ins Grundsätzliche gehende politische Kommentare jenseits des tagespolitischen Handgemenges sowie Verrisse von Sachbüchern - eine Sammlung aus der 18-jährigen Tätigkeit des Autors als Publizist, Kolumnist und Sachbuch-Kritiker. Der Titel ist auch dieses Mal geblieben, einen besseren gibt es für Walthers Methode nicht: "Aufgreifen, begreifen, angreifen". Nicht um der bloßen Kritik willen, sondern um durch Aufklärung zu mehr Humanität zu gelangen.

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Information

I Historische Essays
1 Von den Autobahn-Legenden bis zur Auto-Theologie
König Sisyphos von Korinth war berühmt für seine Schlauheit und berüchtigt für allerlei Verbrechen. Für beides straften ihn die Götter, und er musste im Hades einen riesigen Stein den Berg hochwälzen. Oben angekommen, rollte der Stein wieder den Berg hinunter.
Dem Sisyphos der Moderne bescherten die Götter das Automobil – »die uns schufen, sind Götter«. Der Automobiljournalist Martin Beheim-Schwarzbach meinte damit 1953 die »Volkswagen«. Deren Geschichte fällt zusammen mit dem Beginn des Autobahnbaus unter dem Hitler-Regime. Geschichte einer schönen Bescherung.
Der Traum, mit dem Auto die Mobilität ins Unendliche zu steigern, war ausgeträumt, bevor die Autowelle richtig Schwung kriegte. Seit 1936 steht in der Nähe des Hermsdorferkreuzes in Thüringen eine betonharte Strafe der Götter – die Teufelstalbrücke, vierspurig und 56 Meter über dem Erdboden. Für den Verkehr wurde sie nie freigegeben, und jetzt soll sie abgerissen oder als »bautechnische Spitzenleistung der Nazidiktatur (…) in letzter Sekunde« (FAZ 29.8.99) gerettet werden. Je dichter das Autobahnnetz wurde, desto mehr wuchs sich der automobile Traum zum Alptraum aus. Die freie Fahrt des freien Bürgers endet immer regelmäßiger im stockenden Verkehr oder im Stau. Deshalb bedürfen Autobahnbau und Autos wie keine anderen Einrichtungen der technischen Zivilisation fortlaufend neuer Legenden und Mythen.
Der Ursprung der Autobahnen ist umstritten. Je nach Definition liegt er in den USA, in Deutschland oder in Italien. In den USA ließen sich reiche Leute 1906 einen Parcours (»Motor Parkway«) für das Rennen um den »Vanderbilt Challenge Cup« bauen. Bis 1910 wuchs die Strecke bis auf rund 80 Kilometer, diente aber nicht als öffentliche Straße. Die erste kreuzungsfreie Straße mit getrennten Fahrspuren entstand zwischen 1913 und 1921 in Berlin. Die nichtöffentliche Rennstrecke AVUS (Automobilverkehrs- und Übungsstraße) führte über rund 10 Kilometer von Nikolassee bis Charlottenburg. Als Konrad Adenauer 1932 die öffentliche Autostraße Köln-Bonn eröffnete, nannte er diese anheimelnd »Kraftwagenbahn« – der Ausdruck passt wie zwanzig Jahre später der von der Atombombe als »verbesserter Artillerie«. Am 21.9.1924 schließlich wurde die erste richtige Autobahn Mailand-Varese eingeweiht, für die sich der »Straßenkönig« und Freund Mussolinis – Piero Puricelli – eingesetzt hatte.
In den zwanziger Jahren hatten dann überall die Projektemacher ihre große Zeit, aber verwirklicht wurden ihre Pläne nirgends. Besonders rührig waren die Deutschen. Die »Studiengesellschaft für Automobilstraßenbau« (STUFA) legte 1927 einen Plan für ein Fernstraßennetz von 22 500 Kilometern vor. Das heute bestehende Autobahnnetz umfasst etwa die halbe Länge! Zum Teil bis zur Projektreife gediehen waren die Pläne der HAFRABA-Gesellschaft (Hamburg-Frankfurt-Basel). Einen wichtigen Anstoß erhielten diese Projekte durch das Internationale Arbeitsamt in Genf und ihren Direktor Albert Thomas, der mit dem Plan eines europäischen Straßennetzes einen Beitrag sowohl zur Völkerverständigung als auch zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit leisten wollte. Alle diese Projekte hingen finanziell buchstäblich in der Luft.
Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, begannen Autobahnbau und Legendenbildung auf großer Stufenleiter. Hitler war vor 1933 kein Anhänger von Autobahnen. Mit dem Ökonomen Werner Sombart glaubte er, solche Straßen dienten »höchstens einer Steigerung der Bequemlichkeit oder der Befriedigung eines Luxusbedürfnisses«. Davon distanzierte sich Hitler, als er merkte, wie sich der Autobahnbau propagandistisch ausschlachten ließ. Autobahnen sind unübersehbare »Errungenschaften«. Der Legende nach verringerte der Autobahnbau die Zahl der Arbeitslosen. Tatsächlich waren dabei vor Kriegsbeginn nie mehr als 130 000 Mann beschäftigt. Ganze vier bis fünf Prozent der Arbeitslosen bekamen durch den Autobahnbau eine Stelle. Der konjunkturelle Aufschwung in anderen Branchen und die Wiederaufrüstung spielten eine beträchtlich größere Rolle. Aber die Legende der Goebbels-Trommler, der Autobahnbau beseitige die Arbeitslosigkeit, hält sich, seit das erste Teilstück am 19.5.1935 mit viel Pomp eröffnet wurde, bis heute.
Von den geplanten 9000 Kilometern Autobahnen waren bei Kriegsbeginn knapp 2200 fertig und genau 40 840 000 Quadratmeter Boden zubetoniert. Eine Mischung aus Keynesianismus und räuberischer Zweckentfremdung sorgte für die Finanzierung. Drei Viertel der Kosten von etwa fünf Milliarden wurden über die »Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung« – also über die Beiträge der Versicherten – finanziert, der Rest durch Kredite.
Der eigentliche Vater des faktischen wie des propagandistischen Erfolgs war der am 5.7.1933 zum »Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen« ernannte Fritz Todt, der »einen freundlichen Kreis gleichstrebender, hervorragender Männer«, die fast alle aus der Reichsbahnverwaltung stammten, »mit straffer Hand (…) zu einer Höchstleistung« trieb, wie es 1964 im »Handbuch des Betonstraßenbaus« heißt. Außer einer straffen Hand verfügte Todt über Hitlers Vertrauen und mit dem »Gesetz über die Errichtung des Unternehmens Reichsautobahnen« über fast grenzenlose Vollmachten. Die Veteranen des Autobahnbaus behielten ihren männerbündlerischen Stolz über 1945 hinaus und bastelten an ihrer Lebenslüge weiter. Die Festschrift des Bauamts Nürnberg bescheinigte 1959 »allen Beteiligten (…) Idealismus, Liebe und Zähigkeit« und feierte die 25 Jahre Autobahnbau als »einen vollgültigen Ausdruck unseres Zeit- und Lebensgefühls«. Was der verquollene Satz genau bedeutet, geht aus der Bilanz eines Veteranen aus dem Jahre 1987 hervor: »Für die Autobahnleitungen gab es keinen Krieg (…) Weiterhin wurde trassiert und projektiert wie im tiefsten Frieden«, obwohl der Autobahnbau mit Kriegsbeginn praktisch eingestellt worden war.
Niemand dachte zunächst daran, den Güterfernverkehr auf die Straße zu verlagern (heute sind es 53 Prozent aller Waren, der Eisenbahn blieben ganze 16 Prozent). Außer wirtschaftlichen verfolgte der Autobahnbau von Anfang an auch militärische Ziele. Die Wehrkreiskommandos waren in die Planung über die Streckenführung einbezogen, und die Wehrmachtsführung bedrängte Todt, die Strecke Berlin-Breslau unbedingt bis zum September 1939 fertigstellen zu lassen. Der Automobil-Fan Bertolt Brecht ahnte die militärischen Motive 1938: »Knietiefer Beton, bestimmt für schwere Tanks«.
Aber ebenso wichtig waren die Autobahnen für die Propaganda und die Autoideologie. 1936 erfand die Zeitung »Die Straße« dafür das Wort »Autowandern« und geriet richtig ins Schwärmen: »Das Wandern mit dem Kraftwagen ist Verbindung von Autofahrt und Kultur, von Natur und Technik – ist ein Erlebnis der Natur durch die Technik, eine glückliche Zeitlosigkeit und ein glückliches Sichleitenlassen von der Landschaft, von der Sonne, von der Natur«. Die Geburtsstunde der Autoideologie, wie sie bis heute die Autowerbung prägt.
Vom Ende der 50er Jahre an ging der Autobahnausbau in der Bundesrepublik zügig weiter, und der Verkehrsbericht von Georg Leber (SPD) versprach 1970, dass 85 Prozent der Bevölkerung bis 1985 »von dort, wo sie dann wohnen werden, maximal 10 Kilometer bis zur nächsten Autobahn zurückzulegen haben werden.« Zeitlich und finanziell wurde der Plan zwar nicht eingehalten, aber bis heute baute man fast jeden der damals geplanten Autobahnkilometer, obwohl immer deutlicher wurde, in welche Sackgasse man sich hineinbetonierte. Die Klage über die »Springflut der Motorisierung« (Georg Leber) ist jene eines Zauberlehrlings. Bereits Fritz Todt wusste, dass – außer dem materiellen Wohlstand breiter Massen – einzig ein vergrößertes Straßennetz die Motorisierung dauerhaft befördert: »Erst durch den Bau der Reichsautobahnen wurden daher die Voraussetzungen für einen wirklichen Erfolg der Motorisierung geschaffen« (1937).
Kaum waren die ersten bundesrepublikanischen Pläne fertig, kam es zu den abenteuerlichsten Forderungen. Der Generaldirektor der belgischen Straßenverwaltung vertrat auf einer Bonner Tagung die These, der Bau von »Stadtautobahnen« sei »dringender als derjenige der Überland-Autobahnen«. Das Vorhaben, die Pariser Champs Elysée durch den Bau einer Hochstraße »leistungsfähiger« zu machen, kommentierte der WDR-Moderator Alexander von Cube in einer Sendung über die »automobile Gesellschaft« 1972 mit dem lapidaren Satz: »Ach, man kann sich daran gewöhnen.« Der Deutsche Städtetag schwang schon einige Jahre zuvor die Flagge für »die autogerechte Stadt«: Dessen Broschüre zeigte auf dem Deckblatt einen innerstädtischen Verkehrsknotenpunkt in Boston – eine Autobahnlandschaft mit zwölf Fahrspuren. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Mit einer Reihe sentimentaler Autobahngeschichten unter dem Titel »Gib Gas« sollte die Jugend »road-minded« gemacht werden und nebenher lernen, wie »Prof. Porsche die geniale Drehstabfederung« erfunden hat.
Die Verkehrspolitik entglitt schon dem Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (CDU, 1949-1966) und geriet in die Hände der Interessenverbände. Seebohm sah die Motorisierung als »gesellschaftsbildenden Faktor« im »Abwehrkampf gegen eine Vermassung« und gegen den Kommunismus. Als er den zunehmenden Güter- bzw. Lastwagenverkehr als »Irrweg der Motorisierung« erkannte, waren die kampagnefähigen Organisationen von Boulevardpresse und ADAC schon so mächtig, dass es allen Verkehrsministern bis heute nicht einmal mehr in den Sinn kommt, dem alltäglichen Wahnsinn gegenzusteuern – zum Beispiel den Folgen der 1960 (mit Hilfe von SPD und FDP) eingeführten Zweckbindung der Mineralölsteuer oder der seit 1955 geltenden Kilometerpauschale, mit der die tägliche Autofahrt zum Arbeitsplatz steuerlich gefördert wird. Dies allein führte dazu, dass der leistungsfähige Werkverkehr von Ford-Köln, der bis dahin mit ganzen 37 Bussen täglich 2000 Personen auf 2900 Straßenkilometern zur Arbeit und wieder nach Hause transportiert hatte, schlagartig verschwand.
Die Folgen des Geschehens »in einer Welt, in der die Menschen sich mit dem Motor bewaffnet in der Gesellschaft begegnen« (Georg Leber), wurden wissenschaftlich kleingerechnet. Aus der Tatsache, dass auf Bundesstraßen bzw. im Stadtverkehr mehr Menschen umkommen als auf Autobahnen, drechselte das Beratungsgewerbe für die Autoindustrie und das Transportgewerbe ein schlichtes Buchhalterargument: »Hätte man alle 1982 auf den Autobahnen erbrachten Fahrleistungen auf Bundesstraßen abgewickelt, so wären 1982 etwa 2000 Tote mehr zu beklagen.« Ein schwacher Trost für rund eine Million Unfallopfer innerhalb von 15 Jahren in den 15 EU-Staaten. Wo es nichts zu rechnen gibt, bleibt immer noch der Sprachschleier: Eine Studie verpackte den Krieg auf der Straße zu »Aufprallkontakten« zwischen Autos und Fußgängern. Nach wie vor sterben jährlich Tausende von Menschen bei solchen »Kontakten«. Die Zahlen werden schöngerechnet, indem man sie auf das enorm gestiegene Verkehrsaufkommen bezieht. Für solche statistischen Realitäten und Spielchen interessieren sich allerdings nur noch Autoproduzenten, Autonarren und andere Zyniker.
Statistisch gesehen hat jeder Bundesbürger die Chance, 6570 Stunden seines Lebens im stehenden Auto zu verbringen – etwa acht Monate also. Eine BMW-Studie bezifferte 1995 den volkswirtschaftlichen Verlust durch Staus im Straßenverkehr auf jährlich 200 Milliarden oder 6000 Mark pro Arbeitnehmer. Üblich ist eine so offene Sprache nicht. In den Registern vieler Autobahnbücher kommt das Wort »Stau« gar nicht vor. Mit dem Euphemismus von der »mobilitätsinduzierten Immobilität« und dem gutgemeinten Appell des Philosophen zur »Pflicht zu wissen«, was Autofahren an »negativen Folgen« (Walther Ch. Zimmerli) nach sich ziehe, wird sich »die Lust am Auto«, von der der Forschungsleiter bei Mercedes schwärmt, nicht zügeln lassen. Eine wissenschaftliche Studie zu einer »wissensbasierten Diagnose« von Verkehrsstaus kommt zum wenig trostreichen Schluss, dass »es noch keine wissensbasierte Lösungsmethode« gebe. Ins Hochdeutsche übersetzt: Wir wissen, wie man in den Stau hinein-, aber nicht, wie man wieder hinauskommt. Der Expertenverstand getraut sich gar nicht mehr, Alternativen zu denken, geschweige denn vorzuschlagen.
In vielen Studien verflüchtigt sich der Stau zu »Störungen im Verkehrsablauf«, so als ob es den stockungs- und staufreien Verkehrsfluss als Normalfall noch in nennenswertem Umfang gäbe. Die richtigen Enthusiasten der Autobahnerlebnisgesellschaft ficht derlei nicht an. Sie empfinden »die Zeit im Wagen (…) zunehmend nicht mehr als verloren. Immerhin wird sie ganz ähnlich genutzt wie zu Hause im Sessel: mit Medien-Konsum. Radio, Recorder oder CD-Player unterhalten, informieren oder bilden (…) Kühlbox und Telefon machen den Wagen vollends zum Lebensraum.« Der Stau am Sonntagnachmittag bereitete den beiden Journalisten Hermann Engl und Frank Lämmel erst kürzlich »wenigstens das Erlebnis einer mehr oder weniger bewegenden Eigentümerversammlung direkt auf deren Groß-Immobilie.«
Zum Auto und zum Autobahnbau gehören solche ideologischen Überhöhungen wie die notorisch falschen Prognosen. Ein »Landesplanerisches Gutachten zur Autobahn Nord-Süd« rechnete 1950 damit, »dass, wenn überhaupt ein Weiterbau von Autobahnen in Betracht kommt aufgrund der Verarmung Deutschlands, nur noch eine Nord-Süd-Linie in Niedersachsen Aussicht auf Verwirklichung hat.« Bis 1984 wurden weitere 6000 Kilometer Autobahn hinzugebaut, was freilich einen Franz Josef Strauß nicht beeindruckte: »Von einem Straßennetz kann noch lange keine Rede sein.« Drohte der ADAC 1971 der sozialliberalen Regierung noch damit, wer »des Bundesbürgers liebstes Kind vergraule«, bekäme dafür »bei der nächsten Wahl die Quittung«, gab er sich jetzt moderat angesichts der Pläne, bis zur Jahrtausendwende 3000 Kilometer Autobahnen ins Land zu setzen. Dem ADAC hätten 2000 Kilometer genügt, tatsächlich wurden bis heute 4000 dazugebaut. 1996 waren es rund 12 000 Kilometer.
1985 prognostizierte eine Shell-Studie für das Jahr 2000 30 Millionen Kraftfahrzeuge in der Bundesrepublik. Die Zahl wurde bereits 1990 überschritten, 1995 gab es bereits 38 Millionen, man wird sich am Ende dieses Jahres »nur« um etwa 40% verrechnet haben. Solche Prognosen ignorieren die schlichte Tatsache, dass mehr Straßen sicher nur eines garantieren – mehr Verkehr, und die Prognosen kaschieren ihre Chaosblindheit mit hemmungslosem Fortschrittstaumel oder forschen Forderungen. Auf dem »Stuttgarter Straßentag« 1964 verkündete der mit dem Zug angereiste ADAC-Präsident Hans Bretz, »dass wir heute (…) sehen können, wie dieses 20. Jahrhundert daran geht, alle Menschheitsträume in technischer Hinsicht zu vollenden.« Entsprechend zackig trat ein weniger prominenter Redner auf: »Eine Straße, die den Namen Autobahn verdienen will, ist heute nur mit drei Fahrspuren und einer Abstellspur in jeder Fahrtrichtung denkbar.« Es war die Zeit, als in der Schweiz, wo der Autobahnbau später begonnen hatte, Wohnungsinserate erschienen, in denen Käufer mit dem Hinweis »freier Blick auf die Autobahn« angelockt wurden.
Zwischen 1986 und 1994 wurden 1,4 Milliarden DM allein für das Forschungsprogramm »Prometheus« (wörtlich: der Vorausdenkende) aufgebracht; ein Programm, mit dem man »das Auto und die Straße intelligent« machen und »per Bordcomputer am Stau vorbei« leiten möchte. Der Appell an den unverschämten Feuerdieb, dessen Name für »Program of an European Traffic with Highest Efficiency and Unpreadented Safety« steht, wirkt wie ein Schrei aus dem stockdunklen Wald, in den man mittlerweile geraten ist. Nun soll es der Titan in letzter Minute richten. Mit branchentypischem Schwung meldet die Auto-Lobby schon einmal einen Investitionsbedarf von 190 Milliarden Mark bis ins Jahr 2010 an.
Wo sich Prognosen über die Verkehrsentwicklung und Hausmittel zur Abhilfe gegen »Verkehrsstockungen« gleichermaßen diskreditiert haben, müssen Ideologie und Propaganda aushelfen. Die Zeitschrift »Motorwelt« drohte der Bundesregierung schon 1950 – als die wenigsten Menschen ein Auto besaßen und der ADAC 60 000 Mitglieder hatte (sehr viele ohne eigenes Auto!) – mit einer »blutigen Revolution« im Namen des »kraftfahrfreundlichen deutschen Volkes«, wenn die Regierung weiterhin »die nichtdeutsche Erfindung der Schienenbahn« gegenüber dem Straßenverkehr bevorzuge. Während des Kalten Krieges rückten Autobahn und Motorisierung zu Synonymen für Unabhängigkeit und Freiheit auf, bei Werner Mackenroth, einem Vorstandsmitglied der »Deutschen Straßenliga«, wuchsen sie zu »elementaren Naturgewalten. Selbst in Notzeiten, wenn Menschen nicht mehr Wein, sondern Wasser trinken und statt Kuchen Brot essen, werden sie Automobil fahren.« Für die ADAC-»Motorwelt« war »unser Automobil« schon 1948 »ein kleines Haus auf Rädern, (…) ein Heim, in dem wir uns viele Stunden des Tages aufhalten«. Eugen Diesel, ein Sohn des Erfinders des Diesel-Motors, ging 1956 ins Grundsätzliche: »Wir sind nun einmal – sehen wir es getrost biologisch – durch eine Symbiose mit dem Automobil zu Lebewesen geworden, die auf Räder gesetzt sind.« Prälat Caspar Schulte war 1958 »als Christ unterwegs« auf deutschen Autobahnen und bog ab ins Theologische: Er erklärte »Auto und Motor« zu »Helfern des großen Menschseins«, die Christen obendrein zu »Optimisten des Autos«. Jeder Tote auf der Autobahn, hupt ein anderer frommer Autor der automobilen Gemeinde ins Ohr, ist auch »ein Glockenklingen aus der Ewigkeit«. Amen. An diese »Bruderschaft der Straße« dürfte wohl auch der ehemalige Verkehrsminister Matthias Wissmann (CDU) gedacht haben, als er 1995 von der Pächterin einer Raststätte als der »Mutter der Autobahn« in der »Autobahnfamilie« sprach. Das Ende der Bescherung?
2 1902: Beginn der Trennung von Kirche und Staat in Frankreich
Im Februar 1906 herrschten im nördlichen und nordwestlichen Frankreich bürgerkriegsähnliche Zustände, in deren Verlauf im flandrischen Städtchen Boeschèpe ein Mensch ums Leben kam. Die Bauern und kleinen Leute griffen zu Gabeln, Sensen, Pickeln und ähnlichem Gerät, um »ihre« Kirche vor den staatlichen Steuereinnehmern zu schützen. Diese sollten die Kirchengüter inventarisieren, um sie danach zu sozialisieren. Genau genommen tobten damals zwei Kriege gleichzeitig: jener gegen die Erfassung der Kunstwerke und »die Öffnung der Tabernakel«, der Schreine, in denen die Hostie aufbewahrt wurde, sowie jener »zwischen Priestern und Lehrern«, die um die Seelen und Köpfe der Kinder fochten. Das Land erlebte die dramatische Endphase der Trennung von Kirche und Staat – eines unerbittlichen Kampfes, der im 18. Jahrhundert mit Voltaire und der Aufklärung begann, und im Mai 1902 mit der von Émile Combes (1835-1921) geführten Regierung dem Höhepunkt zutrieb. Das Jahr 1902 war das Schlüsseljahr, das direkt auf die rechtliche Trennung von Kirche und Staat drei Jahre später vorauswies.
Die Gegner von Combes Regierung bezeichneten diese als Herrschaft des »Antiklerikalismus«. Dieser Neologismus schloss sich an das 1852 erstmals nachgewiesene Adjektiv »antiklerikal« an. Combes selbst und seine Leute verstanden sich als Laizisten und ihr Programm war die laizistische Republik. Mit der Revolution von 1789 und ihrem Laizismus bekam die Religion den Status einer Privatsache. Das Individuum konnte sich aus vielerlei traditionalen Bindungen – darunter jene an die Religion – befreien. Naserümpfend halten hierzulande viele Laizismus für einen Anachronismus, doch an der Pariser Sorbonne existiert auch heute noch ein Lehrstuhl für »Geschichte und Soziologie der Laizität«.
Mit seinem zornigen »écrasez l’infame superstition!« (»rottet den niederträchtigen Aberglauben aus!«) reagierte schon Voltaire auf die Gängelung der Menschen durch die staatliche Zensur unter dem Ancien Régime, klagte aber auch die Institution Kirche an. Diese hatte zum Beispiel einen maßgeblichen Anteil daran, dass Jean François La Barre so lange gefoltert wurde, bis er gestand, gottlose Lieder gesungen, ein Kruzifix zerstört und bei einer Prozession den Hut aufbehalten zu haben. Zur Strafe für diese »Albernheiten« (Denis Diderot) schnitt man ihm am 28.2.1766 zuerst die Zunge und dann den Kopf ab, bevor der Restkörper verbrannt wurde.
Die Exzesse währe...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelblatt
  3. Urheberrecht
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. I: Historische Essays
  7. II: Porträts gegen das Vergessen
  8. III: Politische Kommentare
  9. IV: Glossen
  10. V: Verrisse
  11. VI: In eigener Sache
  12. Nachweise