Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!
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Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!

Über die Zukunft der Musik- und Medienindustrie

  1. 300 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!

Über die Zukunft der Musik- und Medienindustrie

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Über dieses Buch

Als Tim Renner sich 1986 bei der Plattenfirma Polydor bewarb, wollte er eine Enthüllungsstory über die Musikindustrie schreiben. Doch es kam anders, und er machte Karriere. Für achtzehn Jahre verschmolz seine Biografie mit der Entwicklung der Musikbranche, er brachte Bands wie Element of Crime, Rammstein, Tocotronic und Philip Boa zum Erfolg und stieg immer weiter auf, bis er schließlich an der Spitze von Universal Music Deutschland stand. Doch er erlebte auch, wie der Druck des Marktes musikalische Entwicklungen bremste, wie sich Pop und Kommerz immer mehr verzahnten und nicht zuletzt, wie die alten Strukturen der Branche sich durch Digitalisierung und Globalisierung in rasantem Tempo auflösten. Die schwerfälligen Riesenlabels verschlossen jedoch die Augen vor dieser Entwicklung, und schließlich stieg Renner aus. Nach seinem Abschied von Universal 2004 schilderte er die Irrwege und Herausforderungen der Popmusik aus seiner Sicht."Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm" ist eine kluge Analyse von Kultur und Musik in Zeiten der Digitalisierung und getragen von der Vision, dass Kreativität, Konsum und Kapital einander nicht ausschließen müssen.Zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung des Buches liest sich manches schon wie in einem Geschichtsbuch aus einer längst vergangenen Zeit, einige Abschnitte deuten schon Entwicklungen an, die sich heute erst richtig entfalten und noch immer ist alles in Bewegung. Das Buch zeigt die Veränderung einer ganzen Branche und die Anfänge einer Gesellschaft auf dem Weg in die Digitale Zukunft.(Ebook nach der 2. überarbeiteten und aktualisierten Ausgabe).

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Information

Verlag
Fuego
Jahr
2013
ISBN
9783862871087
Die Vertreibung aus dem Paradies
Zukunftswerkstatt – das ist Kommunismus
»Nahe den Wolken. Facelifting im Wind. Fern der Horizont. Visionäre Weite. Es ist, als löse man sich ein bisschen von der Erde und sei vereint mit all den anderen, die in all den Zeiten gleiches fühlten. Auf diesem Felsen, auf dieser großen, wahrhaft wehrhaften Burg, die ein Schloss ist.«
So klingt die Selbstdarstellung des Hotels Schloss Waldeck auf ihrer Webpage, es hätte aber auch die Formulierung des Selbstverständnisses sein können, mit dem das Management der PolyGram 1993 zwölf Nachwuchskräfte in die »Zukunftswerkstatt« berief. Man war Marktführer, sah sich als dynamisches Unternehmen in einem Wachstumsmarkt und wollte sich selbstbewusst hinterfragen. Noch verspürte die PolyGram keinen Druck zu handeln. Man war gerade dabei, die positiven Folgen der Wiedervereinigung zu verdauen. 16 Millionen neue Bundesbürger hatten ihre Musiksammlungen auf CD umgestellt.
Ein halbes Jahr Zeit gab man den jungen Hoffnungsträgern, um ein eigenes Bild der Zukunft zu entwerfen. Der genaue Auftrag: Wir sollten uns überlegen, wie das Geschäft in circa zehn Jahren aussehen würde und was das Unternehmen tun müsste, um in diesem Szenario erfolgreich bestehen zu können. Im November würde dann während einer Klausurtagung mit allen PolyGram-Geschäftsführern auf dem hessischen Schloss Waldeck das Ergebnis vorgetragen und diskutiert werden.
Wir waren keine Ansammlung von Genies, sondern ein Dutzend junger Abteilungsleiter mit Abitur. Doch bereits auf der ersten Seite nach dem Inhaltsverzeichnis konnte der erlauchte Kreis in unserem Papier nachlesen, wie wir die technologischen Voraussetzungen unseres Geschäfts einschätzten:
1. Die zukünftige Distribution der PolyGram-Produkte findet über »Data-Superhighways« statt.
2. PolyGram als Entertainment-Company bietet seine Produkte (z.B. Musik) über mit dem Wettbewerb betriebene Data-Distribution-Center an.
3. Diese kaufen sich bei Netzwerkbetreibern (zzt. Deutsche Telekom) das Recht für die Nutzung der Leitungen.
4. Über dieses Netz werden Data-Distribution-Center und Konsument verbunden. Interaktiver Datentransfer ist möglich.
5. Alle vorstellbaren Anwendungsmöglichkeiten bleiben nicht nur auf Home-Terminals beschränkt. Die vom Konsumenten entnommene Leistung, an welcher Datenstation auch immer, wird abgerechnet (z.B. mit Berechtigungs-/Clubkarte).
Man ersetze »Data-Superhighways« durch Breitbandkabel, »Data-Distribution-Center« durch Apple iTunes oder PhonoLine, subsumiere Mobiltelefone unter »Datenstation« und tausche »Berechtigungs-/Clubkarte« gegen Kredit- oder Prepaid-Karte – und schon entsteht ein Bild davon, was heute bereits die Realität der Entertainmentindustrie sein sollte. In erster Linie haben sich Bezeichnungen geändert, die Wege und die Mechanik blieben die gleichen. Die prognostizierte Zukunft holte uns spätestens zehn Jahre später ein.
Da anzunehmen ist, dass nicht nur wir damals diese Vision hatten und mit Sicherheit in anderen Musikunternehmen ähnliches gedacht und dokumentiert wurde, stellt sich die Frage, wieso man sich in all den Jahren so wenig auf ein vorhersehbares Szenario vorbereitet hat. Wir schlossen damals unseren 35-seitigen Bericht mit einem dramatischen Appell: »Es bleibt Ihnen nicht mehr viel Zeit, Ihre Vorbereitungen zu vollenden, wenn Sie an der Neuverteilung des Fells des Bären überhaupt beteiligt sein wollen.«
Als These zog sich durch das ganze Papier, dass sich der Konzern weniger als klassische Tonträgerfirma denn als Entertainmentanbieter verstehen müsse, um in einer Welt der Medienkonvergenz bestehen zu können. Seine Größe müsse er bewältigen, indem er sich in viele kleine Units aufteilt, die sich auf die jeweiligen Bedürfnisgruppen und Szenen konzentrieren. Als Netzwerk von einzelnen Labels sollten diese von Dienstleistungsfirmen des Konzerns administrative Unterstützung kaufen. Das System sollte so flexibel und transparent wie nur irgend möglich gehalten werden, um eine radikale Transformation in einem sich schnell verändernden Medienmarkt zu jedem Zeitpunkt vollziehen zu können. Das sollte so weit gehen, dass die Chefs der einzelnen Bereiche, die wir nur noch Coaches und nicht mehr Geschäftsführer nannten, per Wahl durch die Beschäftigten ermittelt werden sollten.
Als wir all das auf Schloss Waldeck vortrugen, blieben die meisten Mitglieder des PolyGram-Deutschland-Managements auffällig ruhig. Der Chefjurist starrte die ganze Zeit gebeugt auf einen Fernseher, der auf dem Boden stand und eine für den Anlass programmierte Animation zeigte. Aus der PolyGram entwichen in Form von Blasen immer wieder neue Einheiten und Geschäftsfelder, wuchsen, schrumpften oder zerplatzten gar. Schließlich platzte ihm der Kragen, und er rief ziemlich unvermittelt und laut in die Runde: »Das ist Kommunismus!« Auf diese Steilvorlage konnte ich gelassen antworten: »Nein, das ist Demokratie, mein Herr.« Doch er hatte mit seiner Einlassung den Ton für die nachfolgende Diskussion bestimmt. Als ich im Januar 2004 meinen Abschied von Universal verkündete, war ich der Letzte der zwölf Hoffnungsträger aus der Zukunftswerkstatt, der das Haus verließ.
An manchen Punkten mögen wir überzogen haben, vielfach nicht die richtigen Worte und Formen gefunden haben. Doch wir ließen in unserer Zukunftseuphorie nichts unversucht, Chancen, aber auch Gefahren zu thematisieren. Die PolyGram hatten wir in unserem Schaubild als Burg dargestellt, auf der die Flaggen von A&R, Rechten und Marketing wehten. Würden wir aus der Burg heraus keine neuen Absatzwege finden, könnten wir zukünftig unsere Rechte noch so gut verteidigen, der Konsument würde den alten Kasten belagern und wir mit unseren Kernkompetenzen verhungern. Nahe den Wolken, fern dem Horizont, auf dieser großen, wahrhaft wehrhaften Burg, die ein Schloss ist.
World Wide Web – Smells Like Teen Spirit
Andere Kinder spielen Fußball, Tim Berners-Lee baute sich aus Pappschachteln einen Computer. Das ist umso ungewöhnlicher, wenn man bedenkt, dass er 1955 geboren wurde, zu einer Zeit, da Computer noch eine unheimliche Angelegenheit waren, die man bestenfalls in staatlichen Institutionen fand und an deren großen Spulen meist promovierte Menschen in weißen Kitteln standen. Die Ausnahme war der Ferrati Mark 1, der an der Universität von Manchester in England entwickelt worden war. 1951 kam er als erster, für jedermann käufliche Computer auf den Weltmarkt. Er sollte den Weg der Großrechner in die private Wirtschaft ebnen. Bei seiner Entwicklung hatten sich Conway Berners-Lee und Mary Lee Woods kennengelernt, die Eltern des kleinen Tim.
Am Frühstückstisch im Hause Berners-Lee waren Diskussionen über höhere Mathematik und Probleme der Ingenieurtechnik genauso selbstverständlich wie anderswo Cornflakes und Kaffee. Das Studium der Physik war, wie Tim Berners-Lee später zu Protokoll gab, die logische Konsequenz daraus. Überrascht da noch, dass der Junge mit dem hohen Haaransatz während seines Studiums in den siebziger Jahren am Queen’s College der ehrwürdigen Oxford University aus einem Lötkolben, einem M6800-Prozessor, ein paar Bauteilen eines Fernschreibers und einem alten Fernseher seinen ersten eigenen Computer zusammengebaut hat? Ungewöhnlich bei dieser Biografie waren eher seine begeisterte Schauspielerei als Mitglied von Amateurtheatergruppen und sein lausiges, aber engagiertes Klavierspiel.
Als Berners-Lee 1980 als Softwareingenieur das erste Mal mit CERN, dem europäischen Laboratorium für Teilchenphysik in Genf in Berührung kam, war er schon bald genervt von der zähen und unergiebigen Arbeitsweise der international versprengten Forscherteams. Viele Erkenntnisse gingen in der Menge dessen, was erforscht wurde, einfach unter. Er nahm sich von Juni bis Dezember 1980 eine sechsmonatige Auszeit, um ein Computerprogramm zu schreiben, mit dem ein einfacherer Austausch zwischen den Wissenschaftlern und vor allem eine intelligentere Informationsspeicherung möglich sein sollte. Das Programm nannte er »Enquire«. Er nutzte es innerhalb des Instituts, kam aber nicht einmal auf den Gedanken, es zu veröffentlichen. Anfang der achtziger Jahre stellten Computer für den größten Teil der Gesellschaft noch ein merkwürdiges Paralleluniversum dar.
Ein Markt für Computerprogramme entstand erst langsam, ebenso allmählich verlief die Verbreitung des Personalcomputers; genau genommen den Nachfahren des Ferrati Mark 1. Erst im November 1983 startete der nur ein paar Monate nach Berners-Lee geborene Bill Gates mit Microsoft den Verkauf des Betriebsprogramms Windows. Doch das »Enquire«-Programm arbeitete im Kopf von Berners-Lee weiter und bekam knapp zehn Jahre später noch einmal Bedeutung: als konzeptionelle Grundlage für seine nächste, viel bedeutendere Entwicklung – das World Wide Web.
1989 präsentierte Tim Berners-Lee erstmals seinen Ansatz eines globalen Hypertext-Projektes. In der Projektbeschreibung ans CERN beschreibt er »ein neues System, das allen existenten Systemen ermöglichen muss, sich miteinander zu verbinden, ohne dass es Kontrolle oder Koordination bedarf«. Er programmierte einen Browser, entwickelte das Konzept der Web-Adresse URL, des Transportes von Information per HTTP und eine Programmiersprache für Websites namens HTML. Die Idee von Tim Berners-Lee war ebenso einfach wie revolutionär: Er gab dem Internet eine Oberfläche.
Bereits im Jahr 1972 war das Netz in den USA entstanden. Ursprünglich wurde es als militärisches Projekt während des Kalten Krieges gestartet. Um die Kommunikation selbst bei einem möglichen Atomschlag aufrechterhalten zu können, verband man Computer zu einem gewaltigen dezentralen Netzwerk. Selbst wenn ein paar Rechner ausfallen sollten, blieb das Netzwerk weiterhin aktiv. Das frühe Internet nannte sich ARPAnet und wurde vom Verteidigungsministerium und einer Handvoll Forschungszentren genutzt. Nachdem das Militär 1983 begann, ein eigenes Netzwerk namens MILnet aufzubauen, war das Internet lange Zeit ein Tummelplatz für Wissenschaftler und ein paar Computerexperten, die an Hochleistungsrechnern arbeiteten und sich mit komplexen Programmbefehlen unterhalten konnten. Erst mit dem World Wide Web von Tim Berners-Lee wurde aus dem Netz der Spezialisten eine digitale Heimat für jedermann. Er machte das Internet dank der neuen Oberfläche für Laien verständlich und nutzbar, nahm der komplexen Technologie die Kälte, ließ sie konkret und greifbar werden.
Die erste Website der Welt startete er im Jahr 1990. Auf http://info.cern.ch fand der Nutzer eine Beschreibung dessen, was aus seiner Sicht das Internet sein sollte, wie man an einen Webbrowser herankommt und wie sich ein Webserver aufsetzen lässt. Im selben Jahr heiratete Tim Berners-Lee eine Informatikerin, die er beim Schauspielern in Genf kennengelernt hatte und beschloss, seine Idee nicht zum Patent anzumelden, sondern frei an jedermann weiterzugeben. Von da an war die Welt eine andere, die Internetrevolution, die das Leben von Millionen Menschen nicht weniger als die industrielle Revolution verändern sollte, konnte beginnen.
Die Kraft des virtuellen Netzes begann sich rasend schnell zu entfalten. Die Forscher des CERN nutzten es von Anfang an mit großer Begeisterung als Arbeitsmittel und banden darüber ihre externen Kollegen ein. 1991 hatte das Internet bereits den Sprung aus dem wissenschaftlichen Sektor geschafft. Immer mehr Adressen kamen hinzu, immer mehr WWW-Seiten, Chaträume und Foren zu den abwegigsten Themen entstanden. Natürlich drängten auch jede Menge kommerzielle Anbieter ins Web, die mit der neuen Form von Öffentlichkeit und der direkten Interaktion mit den Kunden ein Geschäft machen wollten. Eine faszinierende Welt hatte sich aufgetan: anonym und gleichzeitig hochemotional, global vernetzt und zugleich verdichtet auf kleinste Nischenthemen.
Tim Berners-Lee profitierte davon nicht – zumindest nicht ökonomisch. Im Gegenteil: Er sorgte dafür, dass seine Ethik im weltweiten Netz nicht verloren ging. Das von ihm gegründete W3 Konsortium, dem alle in der neuen Kommunikationswelt relevanten Firmen von Apple, Microsoft, IBM bis Daimler Chrysler angehören, sorgt als diskrete, in Boston, Paris und Tokyo beheimatete Regierung des Internets dafür, dass es im Netz nur patentfreie Standards gibt. Immer wieder führt das zu Konflikten mit den industriellen Mitgliedsfirmen, aber Tim Berners-Lee blieb bislang eisern. »Informatiker tragen nicht nur eine technische, sondern auch eine moralische Verantwortung«, lautet sein Credo. Dafür wurde er von der englischen Queen im Jahr 2003 zum Ritter geschlagen.
Die idealistische Haltung von Tim Berners-Lee ist natürlich eine perfekte Basis für die Entwicklung des Internets als ultimative Shareware-Plattform. Hier gibt es alles – und fast alles umsonst. Jeder kann seine eigene Seite ins Netz stellen und darauf tun und lassen, was er will. Wahnsinnige und Visionäre sind plötzlich nur einen Mausklick entfernt. Im Internet herrscht die große Freiheit: Es gibt keine Zensur, keine Kontrollen, in unglaublicher Geschwindigkeit kommen ständig neue Angebote dazu, fallen alte weg. Diesem Tempo war die Old Economy zunächst nicht gewachsen. Der völlig freie Konsument und diese Form der ungebremsten Kommunikation, das sah ihr Geschäftsmodell schlichtweg nicht vor. Ihre Manager arbeiteten wohlstrukturiert, auf gute Planung fixiert, die Anarchie des Netzes war nicht ihre Welt, sondern eher ein Schreckensbild. Selbst der Computer war ihnen fremd, gehörte ins Sekretariat, aber bitte nicht auf den Tisch des Chefs.
Als mein Vorgänger dem gesamten PolyGram-Management 1994 persönliche PCs samt Internetzugang schenkte, war bei manchen die Enttäuschung entsprechend groß. Auf der Weihnachtsfeier erwartete man damals als Geschäftsführer eines Labels praktischere Gaben wie eine Rolex oder einen Motorroller. Einige verkauften heimlich den Kasten, den sie zu Hause nicht haben wollten.
Das Netz wurde als Spielplatz abgetan und das tat ihm, wie jeder anderen Undergroundbewegung, auch anfänglich gut. So konnte sich, unbeeinflusst von Industrie und Mainstream, eine gewaltige, global vernetzte Kultur von Millionen Menschen mit eigenen Regeln, eigenen Sprachcodes und eigenen Helden wie etwa Tim Berners-Lee bilden.
Das World Wide Web entwickelte sich in kürzester Zeit zu einer ausdifferenzierten und jederzeit aktiven Gemeinschaft – und darin steckte natürlich auch immer die Chance auf ein Geschäft. Der Kapitalmarkt, stets expansionshungrig, entdeckte sie zuerst und zwang die Old Economy zur Auseinandersetzung mit den neuen Firmen, die sich innerhalb der Netzkultur gebildet hatten. Denn diese Unternehmen wuchsen in ungeheuren Sprüngen. Der Schreck über die verpasste Zeit und die entgangenen Möglichkeiten war in der alten Industrie groß. Alles stürzte sich auf den neuen Markt. Ein Hype setzte ein, der Preise verdirbt und Szenen überhitzt, genauso wie man es beim verspäteten Eintritt der Musikindustrie in die Neue Deutsche Welle und Techno erlebt hatte. Wer sich im Web bewährt hatte, bekam so viel Geld und Goodwill an den Börsen, dass plötzlich eine nur wenige Jahre alte Firma ganze Konzerne samt ihrer Geschichte, ihren unzähligen Entwicklungen, Patenten und Mitarbeitern schlucken konnte:
Als AOL im Jahr 2000 den Medienkonzern TimeWarner übernahm, schien das Rennen gelaufen zu sein. Die Programmierer und Internetunternehmer waren in den getäfelten Büros der Old Economy angekommen. Bei der Pressekonferenz erschien der 60-jährige TimeWarner-Chairman Gerald Levin so, wie er sich die New Economy vorstellte: im alten Sakko, ohne Krawatte, aber mit halb offenem Hemd. AOLs junger Chef Steve Case machte es genau umgekehrt und wirkte in seinem schwarzen Anzug samt Krawatte umso mehr wie der strahlende Gewinner neben dem grau gekleideten Mann von Time Warner, der offensichtlich nicht nur sein Outfit verloren hatte.
Eine ganze Generation von Managern ab Mitte fünfzig musste Platz machen, und mit unverhohlener Schadenfreude rückten die jungen Gewinnler der New Economy nach. Auch ich habe von diesem Schwung der Veränderung profitiert, dadurch jede Menge mediale Aufmerksamkeit erhalten und Selbstbewusstsein gezogen. Die Zukunft war scheinbar unter 35, über 50 längst tot und alles dazwischen hatte irgendwie Pech gehabt. Tim Berners-Lee, der zu diesem Zeitpunkt auch schon über 40 war, hatte mit dem World Wide Web fast einer ganzen Managergeneration den Garaus gemacht. Duzen wurde in den Chefetagen vieler Konzerne zur Pflicht. Zu den Klängen von Nirvana und Co hackten die neuen, legeren Herren der Wirtschaft in ihre Tastaturen. Smells Like Teen Spirit war der Soundtrack blutjunger Venture-Millionäre. Mit der von Grunge und Alternative Rock entliehenen Außenseiterattitüde ließ sich der alte Muff wegblasen. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Internetrevolutionäre ein gutes Geschäft witterten. Sie erkannten, dass sich Musik nicht nur als Motivation für durchprogrammierte Nächte, sondern auch als Ware im Web nutzen ließ. Das Geheimnis hieß MP3.
MP3 – Do you know that you will destroy the music industrie?
»Das ist unmöglich. Die Technik wird es niemals zulassen«, meinte der Patentprüfer zu wissen, als er die Idee von Professor Dieter Seitzer ablehnte. Es war das Jahr 1977, gerade machte die Kommunikationstechnologie durch ISDN einen Riesensprung, und Seitzer wollte Musik via Telefonleitungen übertragen, oder wie er es nannte, »Farbfernsehen fürs Telefon« machen. Die Ablehnung durch das Patentamt forderte den Professor heraus. Er gründete eine Arbeitsgruppe und gab seinem Doktoranden Karlheinz Brandenburg den Auftrag, einen Standard zur Datenreduzierung von Musik zu entwickeln. Brandenburg begann mit Grundlagenforschung, denn es gab kein Material, auf das er hätte aufbauen können. Anfänglich war es die Mondscheinsonate, später benutzte er ruhige Poptitel wie Tom’s Diner von Suzanne Vega, um Fehler in der Datenkompression besser entdecken zu können. Ziel war es, einen Zustand der Minimierung von Musikdaten zu finden, ohne dass sich der Klang für das menschliche Ohr wahrnehmbar verschlechterte. Brandenburg brauchte fast zehn Jahre, bis er 1986 einen ersten Durchbruch feiern konnte. Er arbeitete damals schon am Fraunhofer Institut in Erlangen, einem der anerkanntesten deutschen Forschungszentren. In die Forschung einbezogen hatte er die Firma Thomson. Der französische Konzern, der heute die Techniksparten von RCA und Telefunken in sich vereinigt, war nicht nur durch eigene Erfahrungen in der Datenkompression als Partner interessant, sondern auch aufgrund der starken Patentrechtsabteilung, die schon das TV-Format PAL durchgesetzt hatte.
1989 meldeten Thomson und das Fraunhofer Institut gemeinsam das neue Verfahren zum Patent an. Den Namen MP3, den das Kind erst ab dem 14. Juli 1995 bekam, schützte man nicht, das war bei PAL auch nicht nötig gewesen. Von vornherein dachten die Partner an eine industrielle Verwertung, planten deshalb hohe Lizenzgebühren für Encoder, also die Software zur Kompression von Musik, und vergleichsweise kleine Summen für den Decoder, der das verdichtete Soundfile dann wieder im Endgerät hörbar macht. Die MP3-Entwickler spekulierten, dass die Musikkomprimierung für die Distribution übers Netz die Aufgabe kommerzieller Anbieter sein würde, die das Kapital für teure Software problemlos aufbringen könnten. Der Konsument sollte beim Genuss der erworbenen Musik günstig davonkommen. Der Vermarktungsauftrag ging an O...

Inhaltsverzeichnis

  1. Über dieses Buch
  2. Vorwort
  3. Einleitung
  4. TEIL EINS:
  5. Das Paradies
  6. Interview: Jan Timmer
  7. Der Sündenfall
  8. Mail Interview mit Haim Saban
  9. Die Vertreibung aus dem Paradies
  10. Interview: Dr. Thomas Middelhoff
  11. TEIL ZWEI:
  12. Inhalt – Kapital – Verantwortung
  13. Die Wiederauferstehung
  14. DANKSAGUNGEN
  15. Über den Autor
  16. Über Fuego
  17. Impressum