Ich war ein Roboter
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Ich war ein Roboter

Electric Drummer bei Kraftwerk

  1. 350 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Ich war ein Roboter

Electric Drummer bei Kraftwerk

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Als Pioniere des Elektronischen Minimalismus waren Kraftwerk in den 70er und 80er Jahren Vorbild unzähliger Bands von Depeche Mode bis OMD, The Prodigy und Fat Boy Slim. Mit Stücken wie "Autobahn", "Wir sind die Roboter" oder "Das Model" haben sie die Grenzen dessen durchbrochen, was man damals im Allgemeinen als Pop bezeichnete. 1973 fanden die Kraftwerk-Gründer Florian Schneider-Esleben und Ralf Hütter in Wolfgang Flür einen perfekten Drummer, der bis 1986 bei der Gruppe blieb.In diesem Buch, das hier in überarbeiteter und erweiterter Fassung vorliegt, berichtet er von seiner bewegten Zeit in einer der weltweit innovativsten Bands und erzählt aus seinem Leben, nachdem er von den Robotern Abschied genommen hat.

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Information

Verlag
Fuego
Jahr
2013
ISBN
9783862870363
I
STATIONEN EINES MUSIKALISCHEN LEBENS
1
HÖCHSTE HEITERKEIT - ZUFÄLLE, DIE GIBT ES NICHT
Düsseldorf, 1. Januar 1999 +++ Was für eine magische Zahl dieses neue Jahr repräsentierte! Für mich war sie viel aufregender als die des nächsten mit den vielen Nullen, vor denen die Leute solch rätselhafte Panik haben. In der Silvesternacht hatte ich mich warm angezogen und im Düsseldorfer Norden einen langen besinnlichen Spaziergang entlang des Rheins gemacht, um die herannahende frische Zeit zu beschnuppern. Am späten Vormittag des Neujahrstages lag ich noch immer in meinem warmen Bett und döste köstlich vor mich hin, als ich plötzlich anfing, über den Sinn des Lebens nachzudenken - meines Lebens. Das tat ich nicht zum ersten Mal. Aber selten habe ich so klar gesehen. Ich dachte auch über die Arbeit an meinem neuen Yamo-Album nach, das ganz den Themen großer Heiterkeit gewidmet ist. Und ich erinnerte mich vergangener Jahre, von denen einige nach meinem freiwilligen Abgang bei Kraftwerk nicht unbedingt zu denen gehörten, die leicht zu bewältigen waren. Und genau das stimmte mich nachdenklich. War mir das Bewältigen etwas Unangenehmes? Bringe ich mein Leben überhaupt nur irgendwie hinter mich, oder empfinde ich dieses Bewältigen sogar als Glück? Was macht mich denn überhaupt glücklich? Viele suchen ihr Glück in einer bindenden Partnerschaft und halten sich darin aneinander fest, weil ihnen ihr Leben solche Angst macht, dass sie beim Bewältigen ständig jemanden zum Festhalten brauchen. Auch Kraftwerk war für mich einmal eine bindende Partnerschaft, in der ich mich gestützt fühlte, in die ich aber auch viel von mir investierte. Beinahe aber hätte ich mich selbst aus den Augen verloren, wenn die anderen es mir am Ende nicht - ohne dass es ihnen wohl bewusst war - leicht gemacht hätten, loszulassen und für die Zukunft ohne ihre ›Stützräder‹ meine eigene Ballance zu finden. Was für ein Gefühl der Erleichterung das heute für mich bedeutet, kann ich mit Worten gar nicht beschreiben. Ich arbeite nun mit unabhängigen jungen Künstlern, lebe lange allein, ohne mich einsam zu fühlen, und bin gar nicht unglücklich dabei, denn ich lebe sehr bewusst, genieße frische Freiheit, und lasse mich von den feinen Lebensgefühlen nicht abbringen.
Ich gehöre zwar auch zu den Menschen, die Extreme des Lichts und der prallen Farben lieben, aber gerade Pastelltöne und das Zwielicht, das den Tag nicht lassen möchte und die Nacht doch schon sucht, haben mich immer am meisten berauscht und inspiriert. Diese tägliche Wahrnehmung von Veränderung und der Übergang von Feinheit zur Sättigung und wieder zurück zur Blässe, gehen mir über alles. Das aufmerksame Empfinden, dieses köstliche Erkennen, das sich immer wieder in mir ausbreitet, ist alleine schon mein Leben wert. Es kann nur Freude daraus folgen, Freude am Erleben. Ich sehe mit fühlender Hand, mit Winden mach ich mich bekannt, früh schmecke ich die Zeit, hör in den Tag, mach mich bereit. Wie berührend ist eine liebevolle Begegnung! Sie bereitet höchste Heiterkeit überhaupt. Es ist ein kaum fassbares Glück, dass dies jeden Tag aufs Neue funktioniert, immer wieder anders und deshalb neu.
Es gibt Millionen von Menschen, die sich nach Unsterblichkeit sehnen - die aber nicht wissen, was sie an einem verregneten Sonntagnachmittag anfangen sollen.
(Maurice Chevalier)
Aber was hat das alles für einen Sinn, wenn ich so schnell wieder unsere schöne Erde verlassen muss? Wozu das Ganze? Eine sonderbare Spezies hat diesen Planeten wie eine Naturkatastrophe befallen und ich fürchte, so kontrovers und raubsüchtig wie sich der Wurm Mensch verhält, wird er auch nicht lange bleiben können. Ein kurzes Gastspiel vielleicht, dann wird bestimmt wieder etwas ganz anderes mit dieser liebenswerten, im Raum schwebenden blauen Kugel geschehen, die sich, aus der Ferne gar wunderlich betrachtet, von solch ulkigen Kreaturen betrampeln lässt, die sich ihren eigenen Namen geben, sich gegenseitig erkennen und so etwas skurriles haben können, wie Langeweile. Wesen, die auch Stimmungen haben, in denen sie sich halb totlachen. Welche, die singen, selbst gebaute Musikinstrumente spielen und sich ihre Sinne am liebsten von einer der unbegreiflichsten Sachen der Welt verdrehen lassen - Humor. Und welche, die Spaß daran haben, aus purem Unsinn gehörig viel Krach zu schlagen, ja, richtig schön unnütz zu sein. Wer will da nicht ‘ne zeitlang dabeisein?
Die gierige Menschheit will mehr als das Leben, sie will auch noch ins Paradies ...
Für mich ist es einfach aufregend, diese kontroversen Wesen zu beobachten und alles um mich herum wahrzunehmen. Ein Augenblick von dem, was gerade ist, von Licht und Klang im dunklen All. Zu neugierig hat er mich gemacht. Schönheit, Freude und Liebe sind das, was uns am Leben hält, was wir brauchen, was wir geben müssen. Die Wahrnehmung von Freude, die ich empfange und bereite, gibt dem Leben einen Wert. Ich gehöre einfach dazu – jetzt – denke gar nicht daran, meine Periode als Last zu empfinden, es einfach nur so zu bewältigen und mein Glück im Anschaffen von lästigem Eigentum zu suchen. Das gierige Habenwollen ist doch nur dumpfer Rausch. Wofür strengen sich da so viele so verkrampft an und wirken dennoch unzufrieden und mürrisch? Ich finde es erschreckend anzusehen, wie wenige meiner Artgenossen einfach glücklich sind über das pure Gefühl ihres Daseins. Ich jedenfalls freue mich täglich über meine Lebendigkeit und meine Empfindungen. Pures Leben ist mein Luxus, Fantasie mein Reichtum, und im Himmel bin ich schon jetzt, während ich lebe. Zum Genießen sind wir schließlich da, atmen doch ständig von der köstlichen Substanz Atmosphäre, die wir so gern als ›unser blauer Himmel‹ bezeichnen. Auf was sonst noch warten da so viele und klammern sich an unverschämte Versprechungen ihrer selbst auferlegten Religionen, die sie vom schweren Bewältigen ihres Alltags erlösen sollen? Die gierige Menschheit will mehr als das, sie will auch noch ins Paradies – ihr Supermarkt der Belohnung für Lebensbewältigung. Dass ich nicht lache! Man sollte ihnen am besten dort noch Rabattmarken in Aussicht stellen ...
Schnell ist die privilegierte Zeit der Wahrnehmung wieder vorbei und manche haben nicht mitbekommen, dass das Göttliche in ihrer eigenen Kreatürlichkeit ruht. Man muss sich erst einmal selbst entdecken, liebhaben und ernst nehmen. Und wenn man das dann kann, geht es auch besonders gut mit anderen.
Mein Glück zu zeigen, ist jedenfalls ganz normal für mich. Musik ist dabei ein beschwingtes Medium, mit dem ich mich ausdrücken und Freude vermitteln kann. Ich will es wenigstens versuchen, denn ich habe von Anfang an so viel davon.
Als meine Mutter noch lebte, erzählte sie mir einmal, dass ich als Fünfjähriger meinem Zwillingsbrüderchen beim Spielen folgende Frage gestellt haben soll:
»Winfried, bist du eigentlich froh, dass es dich gibt?«
Mein Bruder soll daraufhin lange nachgedacht und dann fast weise geantwortet haben:
»Ja, Wolfgang, ich bin eigentlich auch ganz froh, dass es mich gibt.«
Woraufhin ich ihm beigepflichtet hätte: »Ich nämlich auch.«
Schon früh habe ich wohl Gleichheit gesucht - dass andere neben mir ähnlich glücklich und zufrieden sind. Winfried hatte immerhin noch ein zögerliches ›eigentlich‹ in seine Antwort eingeflochten, war immer ein wenig nachdenklicher, war stiller als ich. Mein Bruder hat sein Leben den Menschen und ihrem Wohlergehen gewidmet. Heute ist er als Arzt bei seinen Patienten sehr beliebt. Wir können unseren Eltern nur dafür danken, dass sie uns reichlich Glücksgene und ein emphatisches Empfinden vererbt haben. Und wenn ich sterben muss, dann ist mein Paradies abgelaufen, dann werde ich traurig sein, dass ich keine Freude mehr schenken und nicht mehr wahrnehmen darf. Keine Farben mehr fühlen, kein Licht mehr schmecken, keinen Duft mehr greifen, keine Haut mehr streicheln, keine Stimmen mehr trinken, kein Lachen genießen, nicht Tränen mehr gießen – das stelle ich mir fürchterlich vor.
2
KHATCHATURIAN IM FIEBER - KLICKERN, KNISTERN, FLÜSTERN
Frankfurt am Main, 17. Juli 1951 +++ Im zarten Alter von vier Jahren begann mich alles zu faszinieren, was klingt und tönt. Ich tippte, klopfte und schnippte gegen sämtliche Materialien, die mir unter die Finger kamen, um deren Klang zu erforschen. Musikinstrumente wurden bei uns zu Hause nicht gespielt. Gesungen wurde nur gezwungen unter dem Weihnachtsbaum, also nur einmal im Jahr, und ich erinnere mich mit Unbehagen, dass das immer krampfig war.
Als Zwilling und dritter Sohn meiner Eltern Hildegard und Heribert 1947 im zerbombten Frankfurt am Main geboren, spielte ich mit meinen Brüdern und den Nachbarkindern am liebsten auf den umliegenden Trümmergrundstücken. Dabei konnte man allerlei Unbekanntes und Tönendes finden. Natürlich lag auch Gruseliges und Gefährliches unter den mit Unkraut und hohen Pflanzenstauden überwucherten Steinhaufen der zerbombten Wohnhäuser in unserer Straße. Gefährlich waren die Entdeckungsreisen in dunkle Keller allemal. Regelmäßig brachten wir Schürf- und Platzwunden an Armen und Beinen mit nach Hause. Gewagte Kraxeleien versetzten unsere armen Eltern oft genug in Angst und Schrecken.
Da es an der Zeit war, wieder alles aufzubauen, was unsere Eltern sich hatten zerstören lassen, gab es kaum Spielzeug. Die ruinierte Wirtschaft hatte nur wenig Ausstoß und wir Kinder mussten uns unsere Spiele selbst ausdenken. Der Fantasie waren dabei kaum Grenzen gesetzt. Die Sommer waren heiß und wir brauchten nicht viel. Jeder hatte so wenig wie die anderen und es gab deshalb auch nichts, was wir uns gegenseitig hätten neiden können. Außer Sandalen und den obligatorischen Lederhosen, die viel zu groß um unsere dünnen Leiber schlenkerten, hatten wir nichts auf dem Leib.
Wir hielten uns am liebsten auf den Straßen auf, wo wir gar zu gerne nachmittags auf den gelben Eiswagen warteten, der, von zwei Pferden gezogen, die Familien mit Kühleis versorgte. Für zehn Pfennig schlug der Fuhrmann gekonnt abgezirkelte Stücke von meterlangen gefrorenen Wasserbarren mit dem Hammer ab, und warf sie in die von uns bereitgestellten Zinkeimer. Kleine kalte Splitter flogen dabei glitzernd durch die warme Sommerluft und fielen auf den Boden. Sie waren unsere Beute. Gierig prügelten wir uns um sie und lutschten sie schnell weg. Das Knirschen und Knacken der kristallenen Eisstangen übte eine ungeheure Faszination auf mich aus.
Vater war im Krieg bei der Luftwaffe gewesen. Aus der Gefangenschaft in Belgien hatte er von den Amerikanern Swingmusik auf leicht zerbrechlichen Schellackscheiben mitgebracht – von Benny Goodman, Glenn Miller und Duke Ellington. Er spielte sie auf einem hölzernen Koffergrammophon in unserer Sachsenhauser Wohnung ab. Dazu musste er umständlich eine Stahlnadel in den Führungsschlitz des hohlen blechernen Tonarms stecken und sie mit einer Schraube an der Membran des Tonabnehmers festziehen. Dann drehte er an der Seite mit einer Kurbel und zog das Federwerk für den Laufmotor auf, um einige Minuten Drehzeit des mit schwarzem Filztuch belegten Plattentellers zu erreichen. Er öffnete nun im unteren Teil des Holzmöbels zwei kleine Türen, hinter denen sich ein gefaltetes Horn befand, das die Musik entließ. ›In The Mood‹ von Glenn Miller war damals der Hit, den man ständig auf AFN, dem Soldatensender der amerikanischen Besatzer hörte.
Der schwarze Musikkasten war aufregend für uns Kinder, aber es war uns strengstens verboten, das wertvollen Gerät anzufassen. Die krächzende Musik, die daraus hervorkam und die perfekte Mechanik des Uhrwerks faszinierte uns aber derart, dass wir uns oft über das Grammophon hermachten, sobald die Eltern einmal nicht da waren und vergessen hatten, das Wohnzimmer abzuschließen, in dem der Kasten repräsentativ aufgebaut stand. Meist wurde aber abgeschlossen. Mein Zwillingsbruder und ich waren gnadenlos neugierig und geschickt. Mit einem selbstgebastelten Dietrich bekamen wir immer wieder die Tür zum ›Schönzimmer‹ auf, in dessen Kredenz es auch ein Barfach mit Eierlikör gab. Ziemlich regelmäßig naschten wir von der süßen Creme und füllten danach den Schwund mit Milch auf. Ich war besonders gierig und konnte nicht genug davon bekommen. Ich verlängerte und verlängerte die süße Brühe, bis sie ganz blass aussah und völlig laff schmeckte. Irgendwann flog der ganze Schwindel auf und Vater legte mich heftigst übers Knie. Keinen Ton gab ich dabei von mir. Zu stolz war ich, dem Alten meinen Schmerz zu zeigen. Ich verachtete ihn für seine feige Tat, die er nur für seine Frau ausführte, um ihr den starken Mann zu mimen. Früh merkte ich, dass Vater ein schwacher Mensch war, der sich nicht gut durchsetzen konnte. Früh merkte ich auch, dass es ihm gar keinen Spaß machte, mich zu verhauen. Er tat es wohl mehr für meine Mutter, die Zucht durch ihn für mich erwartete. Mutter hatte auf jeden Fall die Hosen an in unserer Familie, und ich sehe sie immer noch in ihren eleganten Kleidern und beim Lackieren der Fingernägel vor mir. Heimlich beobachtete ich sie manchmal durchs Schlüsselloch beim Anziehen ihrer scharfen Unterwäsche, die ich auch schon mal selbst überstreifte, wenn sie fort war. Schön glatt und kühl fühlten sich die seidigen Fetzen auf meiner Haut an und ich drehte mich lustvoll von allen Seiten betrachtend vor dem Spiegel. Ja, ich hatte Spaß an mir.
Vor dem Schlafengehen holte uns die Urgroßmutter, die gemeinsam mit uns den zweiten Stock ihres Hauses in der Rubensstraße bewohnte, in ihr riesiges, mit Möbeln vollgestopftes Zimmer, setzte uns an den großen Esstisch mit der Samtdecke drauf und las uns unter ihrer riesigen Lupe aus Grimms Märchen vor. Dabei zog die alte Dame die Deckenlampe an der Schnur ganz tief über den Tisch herunter, damit es schön schummrig im Zimmer wurde. Lange, mit Glasperlen beknüpfte Fransen des pendelnden Lampenschirms warfen dabei gespenstische Schatten und bizarre Glitzerreflexe auf das weiche Tuch. In der Nähe des Erkerfensters stand der eiserne Kohleofen, auf dem die Uroma gern Äpfel schmorte. Das ganze Zimmer roch dann lecker nach Backobst und getrockneten Pflaumen, die mit Zahnstochern zu kleinen Männchen gesteckt auf der Kredenz aufgereiht waren. Dort stand auch der quadratische schwarze Volksempfänger, vor dem die wache Frau oft saß, um den Nachrichten und den Reden unsers ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer zu lauschen. Sie verehrte ihn über alle Maßen. »Der einzige gescheite Mann in Deutschland«, das war ihre feste Überzeugung. Die abendliche Atmosphäre war äußerst sinnlich und öffnete uns für die Geschichten, die wir zu hören bekamen. Man kann sich denken, was aus Kindern wird, denen in solch gemütlicher Atmosphäre die schönsten und gruseligsten Märchen zelebriert werden. Eine bessere Lehre für unsere Fantasie konnten wir nicht bekommen.
Unser Vater förderte noch diese sinnliche Ausbildung dadurch, dass er uns ständig fotografierte und kleine Filmchen mit uns drehte. Er war Mitglied in einem Frankfurter Filmclub, der regelmäßig Wettbewerbe veranstaltete, an denen er sich mit der ganzen Familie und mit Freunden beteiligte. Das waren immer die aufregendsten Stunden, wenn wir uns verkleiden durften und uns wie kleine Stars fühlten. Ich selbst war dann kaum zu bremsen und brachte oft alle zum Lachen oder zur Verzweiflung, weil ich kein Ende finden wollte.
Gelacht wurde überhaupt viel in unserer Familie. Meine Mutter war eine äußerst temperamentvolle und lebenslustige Frau, die mit ihrem Mann gern Freunde einlud und ausgelassene Feste feierte. Dabei lauschten wir Kinder abends in unseren Bettchen der rhythmischen Musik aus lateinamerikanischen Ländern. Samba, Rumba, Cha-Cha-Cha, Mambo und Foxtrott - ich habe ihre Lebendigkeit heute noch im Ohr. Am fröhlichsten war immer der Freitag. Das war unser Badetag. Wir Kinder wurden dann gleichzeitig in die Wanne gesteckt und von Vater abgeschrubbt. Das Wasser musste vorher umständlich in einem Badeofen mit Brikettfeuer erhitzt werden. Beim Waschen ging es natürlich auch nie ohne Theater ab. Schauspielern und die Selbstdarstellung waren überhaupt unsere Lieblingsbeschäftigungen.
Träumen und Trödeln war indes etwas, dem ich mich zum Leidwesen meiner Mutter zu oft und zu gerne hingab. Immer war ich mit meinen Gedanken irgendwo anders, aber bestimmt nicht bei den ›vernünftigen‹ Dingen, und musste deshalb meist hart in die Wirklichkeit zurückgerufen werden. Bei der Oma genossen wir aber alle Freiheiten. Ich konnte voller Entzücken am Piano sitzen und die Klaviersaiten bearbeiten. Es war jedoch kein richtiges Musizieren, eher ein ungestümes Draufloshämmern auf die geduldigen Tasten. Mein rhythmischer Krach muss ein Greuel für die ›Grossi‹ gewesen sein, denn sie floh dann meistens in ihre Küche und trank ein Piccolöchen für ihren Blutdruck.
Eine schwarze ›Adler‹ entdeckte ich auch bei ihr, eine riesige Schreibmaschine. Es machte mir den größten Spaß, auf der Tastatur herumzuhacken und beim Zeilenumbruch auf den erlösenden Klingelton zu warten. Toll sahen die Wortbildungen hinterher auf dem Papier aus, einfach grotesk. ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Über dieses Buch
  2. Vorwort - Mit den Robotern unter einer Decke
  3. I. STATIONEN EINES MUSIKALISCHEN LEBENS
  4. II. STAUB AUFGEWIRBELT
  5. III. DIE WIEGE DES KRAFTWERKSOUNDS
  6. Nachwort
  7. Danksagung
  8. Über den Autor
  9. Über Fuego
  10. Impressum
  11. Inhaltsverzeichnis