Tripolis
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Tripolis

Der Nahe Osten im Spiegelbild einer Stadt

  1. 320 Seiten
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Tripolis

Der Nahe Osten im Spiegelbild einer Stadt

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Über dieses Buch

Tripolis ist uralt und jung zugleich, eine Stadt mit Geschichte und ein Ort, an dem sich viele Lebenskonzepte kreuzen. Und die Stadt in Libanon gibt Antworten auf Fragen, die den Nahen Osten generell betreffen.Was ist aus den Hoffnungen des arabischen Frühlings geworden? Wie instrumentalisieren Geopolitik, Geheimdienste und zynisches Machtkalkül den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten? Welche neuen Perspektiven eröffnen die gegenwärtigen Proteste, um Korruption und Wirtschaftsmisere zu überwinden? Monika Bolliger erzählt am Beispiel von Tripolis über die schmerzhaften Transformationen, die der Nahe Osten mit dem Einbruch der Moderne durchlief. Sie hat Gespräche mit Bewohnerinnen und Bewohnern geführt – mit einer Soziologin, die sich dem Patriarchat widersetzt, Salafisten, die Heil in der Frömmigkeit suchen, einem pensionierten Kommunisten, der der vergangenen Blütezeit der arabischen Linken nachhängt, jungen Frauen, die sich für ein pluralistisches Tripolis engagieren. So entsteht das vielfältige Porträt einer Stadt, das neue Perspektiven eröffnet, und gleichzeitig eines des Nahen Ostens mit all seiner Tragik, all seinen Problemen und all seinen Reichtümern.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783858699350

Tripolis heute – nahöstlicher Mikrokosmos?

Es gibt da, am Ostrand des Mittelmeers, eine
Stadt, Tripolis im Libanon. Sie hat, mal leise,
mal schrecklich laut, all die Strömungen
aufgenommen, die über die gesamte Region
hinwegspülten.
Khaled Ziadé

Mafiöse Strukturen und fehlende Rechenschaft

Die Sehnsucht nach einer Vaterfigur

Am 14. Februar 2005 jagte eine massive Explosion den Konvoi des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri in die Luft, als dieser in die Beiruter Küstenstraße einbog. Die gepanzerten Fahrzeuge gingen in Flammen auf, und die Explosion riss einen zehn Meter weiten Krater in die Straße, während die Scheiben der umliegenden Hotels und Wohnhäuser zersprangen. Noch heute erinnert die rußgeschwärzte rosafarbene Fassade des legendären Saint-George-Hotels an die Explosion. Neben Hariri starben 21 weitere Personen, unter ihnen Leibwächter des Politikers und Tycoons, sowie ein früherer Wirtschaftsminister. Über zweihundert Personen wurden verletzt, viele von ihnen schwer.
Das Attentat auf Hariri läutete für Libanon eine neue Ära ein, das Ende der syrischen Militärbesetzung. Syrische Sicherheitskräfte waren 1990 nach dem Krieg im Land geblieben, zunächst als Garanten des Friedensabkommens, mit dem Gütesiegel der Staatenwelt. Die syrischen Truppen blieben dann viel länger als vorgesehen. Hariri gehörte zum Lager der Gegner Syriens in Libanon und stand Frankreich und Saudi-Arabien nahe. Der syrische Geheimdienst war deshalb der erste Verdächtige nach dem Attentat. Hariri hatte sich zusammen mit anderen Gegnern Syriens gegen eine Verlängerung der Amtszeit des prosyrischen Präsidenten Émile Lahoud eingesetzt und soll darauf vom syrischen Präsidenten Asad persönlich bedroht worden sein. Kurz vor dem Attentat hatte eine von Frankreich und den Vereinigten Staaten initiierte Uno-Resolution den Abzug der syrischen Truppen aus Libanon gefordert.
Unter der libanesischen Bevölkerung kam es nach dem Mord an Hariri zu einer seltenen Einheit. Hunderttausende gingen auf die Straßen, schwenkten libanesische Flaggen und forderten den Abzug der syrischen Truppen. Im März 2005 schließlich zogen tatsächlich die syrischen Truppen unter dem Druck der Straße und der Staatenwelt ab. Die Uno errichtete ein Sondertribunal zur Aufklärung des Attentats auf Hariri, das erst fünfzehn Jahre später, im August 2020, nach zahlreichen Verzögerungen ein Verdikt verkündete. Das Tribunal verurteilte einen von vier Angeklagten in Abwesenheit, das Hizbullah-Mitglied Salim Ayyash. Das Tribunal erklärte weiter, es gebe vielleicht politische Motive, aber keine Beweise dafür, dass Syrien oder die Führung des Hizbullah bei der Planung und Durchführung des Attentats beteiligt gewesen seien. Die Beweismittel gegen die drei anderen Angeklagten würden für eine Verurteilung nicht ausreichen. Einer der Angeklagten war Mustafa Badreddine, ein Topkommandant des Hizbullah, der jedoch 2016 in Syrien ums Leben kam. Während der Ermittlungen hatte der Hizbullah mit einem Bürgerkrieg gedroht, und es kam zu Erpressungen und Gewalt gegen Mitarbeitende der Untersuchung. Ein libanesischer Ermittler des Sondertribunals war 2008 in einem Attentat ermordet worden.
Unter der Anhängerschaft Hariris und anderen Kritikern des Hizbullah herrschte Enttäuschung; für sie steht außer Frage, dass so ein Attentat nur auf Anordnung von oberster Stelle möglich war, dass die Führung des Hizbullah wie auch dessen Verbündete in Damaskus verantwortlich sind. Diese stellten das Tribunal als Verschwörung der westlich-saudischen Achse dar, die den Einfluss Syriens und des Hizbullah beschneiden will. Und so bleibt eine erfolgreiche Aufklärung dieses Attentats – wie so vieler anderer politischer Morde in Libanon – weiterhin illusorisch.
Heute erinnern sich Libanesinnen, egal, welchem politischen Lager sie angehören, mit wenig Sympathie an die Zeit der syrischen Besetzung und die Allgegenwart des Mukhabarat, des berüchtigten syrischen Geheimdienstes. Und in Tripolis hat man den syrischen Militärapparat in besonders schlechter Erinnerung. In der Stadt, die sich als syrisch und panarabisch identifizierte, empfand man es zu Beginn des Bürgerkrieges als großen Affront, dass ausgerechnet der syrische Machthaber Hafez al-Asad, Anführer der panarabischen und sozialistischen Baath-Partei, 1976 aus geopolitischem Kalkül gegen die Palästinenser und die panarabische Linke intervenierte. Dann geschah unter syrischer Aufsicht jenes Massaker in Bab al-Tebbeneh, bei dem Hunderte getötet wurden. Nach dem Krieg war im Nordlibanon die syrische Besetzung am stärksten zu spüren. Syriens Präsident Asad hatte nicht zuletzt wegen der engen geografischen und sozialen Verbindung der Region von Tripolis mit Syrien ein besonderes Interesse, im rebellischen Nordlibanon seine Machtposition durchzusetzen.
Teile von Südlibanon waren wiederum bis 2000 von israelischen Truppen besetzt, ehe der mit Syrien verbündete Hizbullah nach Jahrzehnten gewaltsamer Widerstandsakte gegen die Israeli diese zum endgültigen Abzug zwang und selbst den Süden zu seinem Einflussgebiet machte. In Beirut übernahm in den neunziger Jahren eine neue Wirtschaftselite im Verbund mit rehabilitierten ehemaligen Warlords das Zepter.
Als 2005 die syrischen Truppen abzogen, begann der Hizbullah, das von Syrien hinterlassene Vakuum zu füllen. Die schiitische Organisation war die einzige Partei, die 1990 nach dem Ende des Bürgerkriegs die Waffen hatte behalten dürfen; das war mit der anhaltenden Besetzung des Südens durch Israel begründet worden. Nach dem israelischen Abzug 2000 übergab der Hizbullah seine Waffen jedoch nicht, und zwar mit der Erklärung, dass Israel mit den umstrittenen Shebaa-Farmen immer noch ein Stück libanesisches Gebiet besetze, das es zu befreien gelte. Völkerrechtlich spricht einiges dafür, dass die Shebaa-Farmen eigentlich zu Syrien gehören, aber Libanon beansprucht sie für sich. Dem Hizbullah dient das Gebiet bis heute als willkommene Legitimation dafür, seine Waffen und damit auch seine Rolle als Staat im Staat nicht aufzugeben. Generell rechtfertigt der Hizbullah seine Waffenarsenale mit der Notwendigkeit der Abschreckung von Israel, dessen Armee die libanesischen Streitkräfte niemals gewachsen wären.
Im Sommer 2006 wütete ein einmonatiger Krieg zwischen Israel und dem Hizbullah in Libanon. 1200 Libanesinnen und Libanesen kamen ums Leben, während die israelische Luftwaffe weite Teile der libanesischen Infrastruktur zerstörte. Insbesondere Südlibanon lag danach in Trümmern, aber die israelische Luftwaffe zerbombte auch Teile von Beirut sowie Brücken und Straßen im ganzen Land. Israel verzeichnete gut hundertsechzig Todesopfer. Auslöser des Krieges war die Entführung von zwei israelischen Soldaten durch den Hizbullah nahe der Grenze, um von Israel die Freilassung libanesischer Gefangener zu fordern.
Eine israelische Untersuchung kritisierte später, dass der Krieg ohne einen klaren militärischen Sieg endete. Eine paramilitärische Organisation von einigen Tausend Mann habe sich während Wochen der stärksten Armee im Nahen Osten widersetzt, stellte der Bericht fest. Für den Hizbullah war das genug, um sich zum Sieger zu erklären. Die Miliz ging gestärkt aus dem Krieg hervor und wurde in der ganzen arabischen Welt gefeiert. Endlich hatte jemand Israel die Stirn geboten, fanden damals viele.
Libanesinnen, welche die Rolle des Hizbullah in Libanon als problematisch empfinden, hatten eine ambivalentere Haltung. Die Bombardierungen der übermächtigen israelischen Armee waren einerseits für die Menschen in allen politischen Lagern traumatisch, für manche von ihnen tödlich und für die Infrastruktur zerstörerisch. Entsprechend freuten sie sich über jeden Gegenschlag. Andererseits waren nicht alle glücklich darüber, dass der Hizbullah nach dem Krieg immer selbstbewusster auftrat und eine stärkere politische Repräsentation zu fordern begann. Es kam zu Sitzblockaden und bewaffneten Zusammenstößen. 2008 besetzten Milizen des Hizbullah Westbeirut.
Die Krise wurde 2008 mit dem Doha-Abkommen beendet, das der damals vom Hizbullah angeführten Opposition im Parlament ein Vetorecht verschaffte und das Wahlrecht zugunsten der Opposition anpasste. Davon sollte der Hizbullah bei den Wahlen von 2009 profitieren. Inzwischen hat der Hizbullah zusammen mit seinen Verbündeten im libanesischen Parlament eine Mehrheit erlangt.
Während die schiitische Partei und Miliz zur stärksten Kraft innerhalb Libanons aufstieg, war unter den Sunniten Libanons nach der Ermordung Hariris ein Machtvakuum entstanden. Hariris Sohn Saad erbte das Amt von seinem Vater, weil im klientelistischen System Libanons die Macht immer noch in Dynastien weitergegeben wird; manche sprechen deshalb von einem »politischen Feudalismus«. Saad al-Hariri trat Anfang 2011 von seinem Posten als Ministerpräsident zurück, als die Regierung am Streit um das Hariri-Tribunal zerbrochen war. In der Folge weilte er zeitweise in Paris im Exil. Der zu Hariris Nachfolger ernannte schwerreiche Geschäftsmann Najib Mikati wurde gerade in seiner Heimatstadt Tripolis heftig kritisiert, weil er dem prosyrischen Bündnis um den Hizbullah entgegenkam.
2016 wurde Saad al-Hariri wieder Ministerpräsident, doch das Gefühl, der sunnitischen Gemeinde fehle es an einem starken Führer, blieb. Viele blickten voller Neid auf den gut organisierten Hizbullah mit seinem charismatischen Generalsekretär Hassan Nasrallah. In den mehrheitlich schiitischen Gebieten Libanons im Süden, in der Bekaa-Ebene und in den südlichen Vororten Beiruts hat der Hizbullah ein effizientes Fürsorgenetzwerk für seine Klientel aufgebaut. Der daneben oft eher unbeholfen wirkende Saad al-Hariri gilt als wenig geeignet für die Rolle des sunnitischen Anführers.
Zudem hat das Verhältnis von Saad al-Hariri zu seinen saudischen Financiers Risse bekommen, weil die saudische Führung verärgert ist, dass er der Macht des mit Iran verbündeten Hizbullah im Land wenig entgegensetzt. Der ambitionierte junge Kronprinz Mohammed bin Salman, der in Saudi-Arabien seit 2015 sukzessive die Macht in seinen Händen bündelt, schreckte nicht davor zurück, seinen libanesischen Verbündeten vor aller Welt zu blamieren. Als Hariri 2017 nach Saudi-Arabien reiste, zwang ihn sein Gastgeber überraschend zu einer Rücktrittserklärung im Fernsehen – die Hariri nach seiner Rückkehr nach Libanon und mit Unterstützung Frankreichs wieder zurücknahm. An der Vormachtstellung des Hizbullah in Libanon änderte sich durch all das nichts, und Saudi-Arabien wirkte einmal mehr ungeschickt in seinen Versuchen, den Vormarsch seiner iranischen Rivalen in der Region zu bremsen.
Die Sehnsucht nach einer starken Vaterfigur, einem Patron und Beschützer, ist innerhalb eines patriarchalen Klientelsystems erwartbar. Da der libanesische Staat kaum für seine Bürgerinnen sorgt, sind die Menschen auf die Anführer ihrer Religionsgruppen angewiesen. In der sunnitischen Gemeinde Libanons fehlte nach dem Tod Rafiq al-Hariris eine starke Führungsfigur. Tripolis fühlte sich allerdings schon von ihm nicht richtig vertreten, da er sich in seiner Heimatstadt Saida (Sidon) seine Machtbasis aufbaute. Der Hariri-Clan ist dort und in Beirut stärker präsent als in der größten mehrheitlich sunnitischen Stadt im Norden des Landes. Viele werfen zudem dem syrischen Regime vor, Hariri davon abgehalten zu haben, sich im Norden zu engagieren, indem es die wirtschaftliche Entwicklung in Tripolis während der langjährigen Militärbesetzung blockierte.
Rafiq al-Hariri gehörte zu den neureichen Geschäftsleuten, die nach dem Krieg zusammen mit rehabilitierten Warlords und in Kooperation mit Teilen der alten Aristokratie zur Macht aufstiegen und in verschiedenen Landesteilen profitable Wiederaufbauprojekte betrieben. So entstand eine Parallelstruktur zu den jeweiligen Lokalregierungen, denen es nach dem Krieg an Ressourcen und Verbindungen zur Landesregierung in Beirut fehlte. In Tripolis war insbesondere der Tycoon Mikati zu Reichtum gekommen, der in Syrien und in Libanon dank guter Beziehungen zum Regime Asad lukrative Telekomunternehmen aufgebaut hatte. Sein Reinvermögen wird auf 2,7 Milliarden US-Dollar geschätzt. Er war zweimal Ministerpräsident und wurde im Juli 2021 erneut mit einer Regierungsbildung beauftragt. Doch als Fürsprecher für seine Heimatstadt erwies er sich als ungeeignet.
Die neuen und alten Eliten arbeiteten nach dem Krieg darauf hin, ihren Einfluss in den Institutionen und Gremien der Lokalregierungen zu konsolidieren und diese so zu untergraben. So entstanden auf lokaler Ebene Quasiregierungen mit klientelistischen Strukturen und Verbindungen zur Hauptstadt. In Beirut laufen die Fäden zusammen, und Lokalregierungen haben wenig Spielraum ohne die Zusammenarbeit mit der Hauptstadt.
Wenn die Menschen an einem Ort wagen, jemand anderen als die etablierten Parteien zu wählen, blockieren die Eliten in Beirut ohne Begründung lokale Entwicklungsprojekte. So hatten sich 2016 mehrere rivalisierende Politiker und Geschäftsmänner auf einen Kandidaten für die Lokalwahl in Tripolis geeinigt. Unerwartet gewann Ashraf Rifi, General und ehemaliger Justizminister, der sich gegen das Establishment positioniert hatte, die Wahl. Er war in sunnitischen Kreisen populär geworden, nachdem er im selben Jahr »aus Protest gegen die Dominanz des Hizbullah« von seinem Ministerposten zurückgetreten war. Die Eliten in Beirut begannen, wo sie konnten, Rifi Steine in den Weg zu legen, ließen Bewilligungen für alle möglichen Projekte endlos liegen. Rifis Stern fiel so rasch, wie er aufgestiegen war. Bei den Parlamentswahlen von 2018 scheiterte er kläglich bei seinem Versuch, Hariri als sunnitischer Anführer auf Landesebene herauszufordern; die Wählerschaft von Tripolis verweigerte ihm die Unterstützung. Während in repressiven Polizeistaaten die Sicherheitsapparate die Wählerinnen einschüchtern und Parteien verbieten können, bedienen sich die libanesischen Eliten der Blockadetaktik, um sich an der Macht zu halten.
In Tripolis war es zudem nach dem Krieg keiner Partei gelungen, sich allein durchzusetzen. Verschiedene Patrons oder zu’ama’ (Plural von za’im) rivalisieren miteinander, Hariri, Mikati die Karamis und so weiter. Von den Geldern für den Wiederaufbau sah die Stadt wenig. So ist die Situation in Bezug auf Dienstleistungen und Infrastruktur in Tripolis noch chaotischer und prekärer als in anderen Landesteilen. »Libanon ist extrem zentralistisch organisiert. Dennoch haben alle anderen Regionen Anführer, die sich um sie kümmern. Einzig Tripolis hat keinen Vater«, bemerkt die Soziologin Nahla Chahal.
Ein lokal engagierter Scheich, Nabil Rahim, erklärt, in Tripolis gebe es 45’000 Sozialhilfe Beziehende und acht Beamte für ebendiese. Im benachbarten, mehrheitlich maronitischen Zgharta seien es fünftausend Sozialhilfe Beziehende auf dreißig Beamte. Es kursieren unterschiedliche Zahlen hierzu, aber die Aussage ist im Kern dieselbe: Tripolis wird marginalisiert, ungerecht behandelt.
Die Eliten in Beirut haben sich in der Tat selten um eine Aufwertung von Tripolis bemüht, im Gegenteil. Die Politforscherin Zeina al-Helou ereiferte sich in einem Fernsehinterview im April 2019 über die Verteilung von Geldern in einem Plan der Regierung für Investitionen in die libanesische Infrastruktur im Umfang von über zwanzig Milliarden. Beirut hatte dafür elf Milliarden US-Dollar von der Cèdre-Konferenz, einer internationalen Geberkonferenz in Paris, unter strikten Korruptionsbekämpfungsauflagen zugesprochen bekommen. Nach dem Investitionsplan sollten nur 1,6 Prozent der gesamten Investitionssumme in Projekte für Tripolis gehen, die zweitgrößte und ärmste Stadt des Landes, wo etwa fünfzehn Prozent der Bevölkerung leben.
Für Beirut war hingegen etwa das Dreifache der Gelder vorgesehen. Projekte für die wirtschaftlich besser situierte, an Beirut angrenzende Metn-Region umfassten fast zwei Milliarden oder knapp 10 Prozent des Gesamtbetrages. Solche Zahlen sind der Grund für die Wahrnehmung in Tripolis, dass die Stadt von der Landesführung in Beirut links liegen gelassen, ja, bewusst diskriminiert wird. Die Gelder von Cèdre bleiben aber ohnehin eingefroren, weil die Landesführung sich selbst dann noch nicht zu wirtschaftlichen Reformen und Korruptionsbekämpfungsmaßnahmen durchringen konnte, als sich bereits der Staatsbankrott abzeichnete.
Viele Gesprächspartner haben das Gefühl, dass Tripolis das Opfer einer Verschwörung sei, dass die Eliten in Beirut sich bis heute vor der Konkurrenz mit der zweitgrößten Stadt mit dem einst wichtigsten Hafen fürchteten und deshalb alles täten, um ein solches Szenario zu verhinde...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. Tripolis – eine Verortung
  7. Tripolis und die Geschichte der Levante
  8. Tripolis heute – nahöstlicher Mikrokosmos?
  9. Die Ordnung bröckelt
  10. Anhang