Blues
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Blues

Geschichte und Geschichten

  1. 270 Seiten
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Blues

Geschichte und Geschichten

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Über dieses Buch

Traurig und heiter im Sound, mitreißend und verführerisch im Rhythmus, ironisch, unsentimental und alltagsnah im Text - das war der Blues, als er von den Afroamerikanern erfunden wurde. Er wurde zur Basis für Jazz, Rock'n'Roll und alles, was später kam. Eine unterhaltsame und informative Geschichte des Blues, die es so selbst in seinem Mutterland noch nicht gibt.Der Legende nach schließt jeder wirkliche Blues-Musiker an einer ganz bestimmten Kreuzung im Mississippi-Delta einen Pakt mit dem Teufel. Sonst bleiben musikalische Kreativität und Erfolg im Geschäft und in der Liebe aus. Wer aber die Höllenhunde des Blues auf seinen Fersen hatte, wie der legendäre Robert Johnson, dem noch die Rolling Stones einen ihrer größten Hits, 'Love in Vain', verdanken, den konnte schließlich nur ein eifersüchtiger Ehemann mit vergiftetem Whisky stoppen. Von dieser "devil's music", die brave Gospel-Mädchen nicht singen durften und von der gläubige Mütter ihre Söhne - vergeblich - fernzuhalten versuchten, ist hier die Rede.Der Autor, ein profunder Kenner, versteht es, aus der Geschichte des Blues und seiner Interpreten von den Anfängen bis zu den jüngsten Revivalbewegungen mit all ihren Kreuz- und Querverbindungen heraus die subtile und sublime Qualität dieser Musik anschaulich zu machen und auch beim Lesen zum Klingen zu bringen.

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Information

Verlag
Fuego
Jahr
2015
ISBN
9783862871100

Kapitel 1: Die Anfänge

Geschichtsschreibung ist immer eine Konstruktion, den Umständen der Zeit verhaftet, abhängig von der Interessenlage der Historiker und von ihrer gesellschaftspolitischen Haltung. Eine feministisch orientierte Forscherin wie Angela Davis fixierte sich jüngst auf städtische Sängerinnen wie Bessie Smith, Ma Rainey und Billie Holiday und stellte sie in ihrem Buch Blues Legacies and Black Feminism (1998) als Protagonistinnen im Kampf gegen das weiße wie das schwarze Patriarchat dar. Ein liberaler Patriarch wie John A. Lomax war in seinen Adventures of a Ballade Hunter (1947) an der authentischen Folklore der »Neger«, wie er seine Informanten noch unbefangen nannte, mehr interessiert als an deren Vorstrafen und sonstigen Lebensumständen, die scheinbar offen und unbeschwert ausgelebte Sexualität einmal ausgenommen. Man muss beide Positionen zusammen sehen, beide Bücher – und noch ein paar andere – gelesen haben, bei beiden Autoren vom ideologischen Gehalt weitgehend absehen, um vielleicht einen halbwegs realistischen Eindruck von der Lebenswirklichkeit der Bluessänger zu erhalten. Recherche vor Ort hilft heutzutage nicht mehr viel. Der Blues ist in den Südstaaten zu einem touristischen Spektakel geworden, der zwar die schwache Ökonomie der kleinen und mittleren Deltastädte leidlich am Laufen hält, dies aber um den Preis einer musealen Nostalgie und eines Purismus der reinen Blueslehre, der erst von einer gerade nachwachsenden, mit dem Blues erfreulich respektlos experimentierenden Jugend überwunden werden wird.
Die beliebte Quizfrage nach dem historisch ersten Bluessong ist sinnlos. Von ihm existiert nämlich garantiert kein Tondokument. Die Frage nach der ersten Bluesaufnahme lässt sich hingegen stellen und irgendwann wohl auch beantworten. Sie hat aber schon im viel späteren Fall Doo Wop wenig gebracht: Der voreiligen Behauptung von Greil Marcus, es habe sich um »It's Too Soon to Know«, eine Aufnahme der Orioles gehandelt, wurde inzwischen oft und kompetent widersprochen, es wurden andere Kandidaten zuhauf ins Spiel gebracht, der letzte, allgemein einsichtige Beweis für ein Primat fehlt immer noch. Ganz ähnlich ist die Lage beim Blues. Kein seriöser Forscher wird sich auch nur auf ein genaues Datum seiner Entstehung festlegen wollen.
Immer weniger freilich ist man geneigt, die Fieldholler und Worksongs, der schwarzen Plantagensklaven im späten Achtzehnten und frühen Neunzehnten Jahrhundert als direkte Vorläufer des »echten« Blues darzustellen; sie gelten inzwischen als eigenständige Genres, die sich davor oder parallel dazu entwickelt haben. Immer fragwürdiger wird zudem die Ableitung aus einer einzigen Ursache, auch nicht aus einer nicht mehr gottergebenen, heidnisch-afrikanischen Widerstandshaltung der Unterdrückten, derenthalben man inzwischen gerne wieder synkretistisch den afrikanischen Bösewicht Légba statt des pferdefüßigen west-östlichen Teufels an der mythischen Kreuzung auftauchen lässt. Letztlich auch nicht haltbar ist eine Konzeption des Blues als Antigospelmesse, quasi als heidnischer Gegenpol schwarzen Christenglaubens, obwohl es für diese Interpretation immerhin einige Zeugnisse aus der schwarzen Mittel- und Unterschicht gibt. Die freilich entlarven sich bei genauerem Hinsehen als stinknormale Vorurteile, wie sie eben auch brave schwarze Bürger gegenüber dem Sittenverfall der Zeit hatten. Hält man sich an die wenigen Fakten, liest sich eine kurzgefasste Geschichte der schwarzen amerikanischen Musik etwa so:
Anfang des siebzehnten Jahrhunderts wurden die ersten schwarzen Sklaven nach Virginia verschifft. Unter zunehmend unmenschlichen Bedingungen entwickelte sich eine rigide Sklavenhalterökonomie in den südöstlichen Staaten Nordamerikas. Musik und Tanz waren ein in den meisten Fällen geduldetes Ventil, das zudem die gewünschte Reproduktion von Nachwuchs förderte. Zwar war in den nördlichen Staaten die Sklaverei schon 1807 offiziell abgeschafft worden, doch die Südstaaten hielten an ihr fest. 1831 kam es zum ersten Sklavenaufstand unter Nat Turner. 1843 fand die erste öffentliche Minstrelshow in Virginia statt. Minstrelshows waren eine Art derb-komischer Revue mit stark formalisierten Rollen, in der die Schwarzen meist von angemalten weißen Schauspielern dargestellt wurden. Aus den Minstrelshows stammten auch viele der spöttischen und abschätzigen Bezeichnungen für Schwarze wie Jim Crow – geschrieben 1828 als Jump Jim Crow von einem Schauspieler namens Rice, der Name wurde später Synonym für Rassenhass und Segregation – oder Pickaninny, Niggah, Abraham Lincum, Coon usw. Neben den Virginia Minstrels oder den Ethiopian Serenaders waren es vor allem die Christy Minstrels, die sich auch in England anhaltender Beliebtheit erfreuten. 1852 leitete Harriet Beecher-Stowes sentimentaler Roman Uncle Tom's Cabin eine Bewusstseinsveränderung in bürgerlichen Kreisen zugunsten der Schwarzen ein. Es bedurfte aber des Bürgerkriegs von 1861 bis 1865, bis von den siegreichen Nordstaatlern die Sklaverei offiziell abgeschafft wurde. Gleich im Jahr darauf wurde der Ku-Klux-Klan, die Organisation der unverbesserlichen Rassisten, gegründet, allerdings auch der erste weltberühmte schwarze Chor, die Fisk Jubilee Singers, dessen akademisch korrekter Gospelgesang ein etwas sehr keimfreies Bild schwarzamerikanischer Religiosität unter Auslassung jeglicher Ekstase vermittelte.
Über eine Tatsache kann es keine Diskussion geben: die Spirituals sind älter als die Blues. Schon 1867 erschien eine erste Sammlung in Buchform, betitelt: Slave Songs of the United States. 1890 stieg Columbia Records ins Geschäft ein, später verantwortlich für viele maßgebende Bluesaufnahmen. Aus dieser Zeit datieren auch die ersten schriftlichen Aufzeichnungen bluesähnlicher Songtexte, allerdings ohne Hinweise auf die Gesangsphrasierung oder die begleitende Musik.
1892 verwüstete erstmals der gefürchtete Baumwollschädling Boll-Weevil die Felder von Mexiko bis zum Mississippidelta. 1898 kam Hawaii zu den Vereinigten Staaten. Es brach eine Welle der Musikbegeisterung für die hawaiianischen Stahlsaitenzauberer aus. Die Steel-Guitar, 1889 erfunden, wurde von Musikern wie Joseph Kekuku meisterhaft traktiert. Der Anekdote nach soll er die Slide-Technik schon 1884 als junger Mann auf der Kamehameha Boys School erfunden haben, als ihm der Kamm aus dem Hemd und auf die Gitarre fiel. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die Slide-Technik auf diesem Weg in die Countrymusik und von da aus in den Blues gelangte. Ob es eine Sonderentwicklung im angeblich von äußeren Einflüssen abgeschnittenen Mississippidelta gegeben hat, wo man auf einsaitigen Instrumenten wie dem Diddley-Bow slidete, ist auch nach neuesten Untersuchungen, etwa von Gerhard Kubik, nicht sicher, wird aber Musikwissenschaftler und Ethnologen noch lange beschäftigen.
1899 kam mit dem Ragtime Scott Joplins die nächste Popwelle. Drei Jahre später entstanden Aufnahmen einer schwarzen Gesangsgruppe für die Firma Victor. Sie nannte sich The Dinwiddie Colored Quartet.
Schon lange vor der Jahrhundertwende, ab 1877, hatte in den Südstaaten, wo immerhin drei Viertel der schwarzen Bevölkerung lebte, der Prozess der Rediskriminierung begonnen und war durch die juristische Formel »separate but equal« (getrennt aber gleichgestellt) abgedeckt. Sie wurde unter dem Deckmantel des föderalen Systems – und ohne, dass der ohnehin desinteressiert gewordenen Norden eingegriffen hätte – so rabiat ausgelegt, dass sich in manchen Gegenden die Verhältnisse der Sklavenzeit in leicht modernisierter Form faktisch neu etablierten. Schwarze lebten meist als sogenannte Sharecroppers in halbfeudaler Abhängigkeit. Von dem Ertrag des gepachteten Landes durften sie gerade das Existenzminimum für sich behalten und waren ansonsten der paternalistischen Willkür der weißen Herren bis hin zu sexueller Gewalt und Lynchjustiz schutzlos ausgeliefert. Kein Wunder, dass sich unter diesen Verhältnissen der Blues machtvoll entwickelte.
Musikalische Talente sammelten sich nun in den ersten rein schwarzen Minstrel Shows wie den Georgia Minstrels, den Young Colored Minstrels oder den Mahara Minstrels, denen auch der junge Handy angehörte und deren Chef er später wurde.
1912 wurde zum Schlüsseljahr für den Blues. Innerhalb kurzer Zeit kamen drei gedruckte Bluestitel auf den Markt: »Memphis Blues« von W.C. Handy, »Nigger Blues« von Leroy White sowie »Dallas Blues« von Lloyd Garret & Hart A. Wand. Spitzfindige Tüftler wie zuletzt Francis Davis führen gelegentlich an, dass im Jahr davor schon der auch heute noch geläufige Hit »Oh You Beautiful Doll« erschienen war, dessen Anfang im zwölftaktigen Bluesschema steht. Wie dem auch sei, jedenfalls lösten der »Memphis Blues«, der eigentlich »Mr. Crump« hieß und anlässlich dessen Wahlkampfs um das Bürgermeisteramt in Memphis geschrieben worden war, sowie W.C. Handys »St. Louis Blues« von 1914 eine Tanzwutwelle sowohl in den Großstädten wie in den ländlichen Gebieten aus, die auch 1920 noch anhielt, als der »Crazy Blues« von Mamie Smith erschien. Es war dies übrigens das Jahr, in dem die Frauen das Wahlrecht erhielten. Die Musikindustrie reagierte auf den Erfolg von »Crazy Blues« mit der Einführung der sogenannten Race Records, Schallplatten, die speziell für die schwarze Bevölkerung produziert wurden. Die Erfindung des aufziehbaren Phonographen ermöglichte das Abspielen der Victrola-Platten auch in ländlichen Gebieten ohne Stromversorgung. Schwieriger waren die Tonaufnahmen selbst. Obwohl bald mehrere Verfahren zur Verfügung standen, setzte sich auch im heißen Süden das Mitschneiden auf Wachsplatten durch. Diese mussten dann in Kühlschränken gelagert werden. Viele Aufnahmen wurden durch die Hitze beschädigt. Man ging daher dazu über, alle wichtigen Stücke zweimal einspielen zu lassen. Ansonsten verfuhr die Musikindustrie wie auch heute noch: wahllos. Wer fünf eigene Blueskompositionen vorweisen oder zumindest behaupten konnte, wurde auf Verdacht aufgenommen. War es kein Hit, musste der Sänger wieder auf die Baumwollfelder zurück, denen er zu entkommen gehofft hatte.
Kein Wunder, dass Erfolgsmuster vielfach kopiert und gerade dadurch entwertet wurden. Papa Charlie Jackson hatte es 1924 noch gut. Sein »Lawdy Lawdy Blues« war einer der Ersten, die den Weg aufs Wachs fanden. Ebenfalls 1924 nahm Ed Andrews in Atlanta auf seiner zwölfsaitigen Gitarre seinen stilistisch einwandfreien »Barrelhouse Blues« auf. Zwei Jahre später folgte Blind Lemon Jeffersons »That Black Snake Moan«. Und danach war kein Halten mehr.
Bluesgeschichte, soweit wir sie kennen, ist vor allem die Geschichte der erhaltenen Aufnahmen. Sie sind die primären Quellen. Denn selbst hinter dem schlimmsten Rillenrauschen der einzigen noch vorhandenen Schellackplatte wird eine Person hörbar, die in ihrer Zeit gelebt und eben dieses Dokument produziert hat.
Die Frage der Authentizität ist damit freilich noch lange nicht beantwortet. Fast alle frühen Tondokumente waren bereits kommerziell orientierte, auf Verkauf an ein modebewusstes Publikum getrimmte Produkte. Und wie wir Woche für Woche aus den Hitparaden schmerzlich erfahren, ist es nicht immer die beste Musik, die es ganz nach oben schafft. Einen Überblick ergibt nur das Hören möglichst vieler Aufnahmen. Das ist aber erst seit ein paar Jahren wieder allgemein praktikabel geworden, seit im Zuge des CD-Booms viele Firmen ihre Archive durchforsteten und Labels wie Yazoo und Document Records sorgfältig zusammengestellte Sampler oder gar das Gesamtwerk vieler Interpreten durch digitale Bearbeitung in sehr akzeptabler Tonqualität neu hörbar machten.
Das nicht genug zu lobende Vorhaben von Document Records, einer Initiative des österreichischen Sammlers Johnny Parth, ist es gar, alle jemals erschienenen Bluesaufnahmen digital zu konservieren. Hunderte von Alben mit teilweise aberwitziger Musik liegen bereits vor und harren der Analyse durch die Fachleute, aber auch der Entdeckerfreude der Liebhaber, die über das Delta und Chicago hinaus zu hören in der Lage sind. Die Materiallage ist somit besser denn je, zumal endlich auch wieder Field-Recordings veröffentlicht werden, also Aufnahmen, die vor Ort in nichtkommerziellen Zusammenhängen entstanden.
Die Library of Congress etwa hatte seit den Dreißiger Jahren John A. Lomax beauftragt, mit Aufnahmegeräten in den Süden zu fahren und dort in Gefängnissen und in den kleinen Ortschaften Aufnahmen zu machen, sein Sohn Alan setzte dieses Praxis in den Fünfziger Jahren erfolgreich fort. Vater und Sohn Lomax entdeckten Bluesgrößen wie Lead Belly oder Fred McDowell und edierten reihenweise klassische Aufnahmen, die auch heute noch unverzichtbar sind. Serien wie Sounds of the South oder Southern Journey sollten mindestens ebenso freudig rezipiert werden wie die spektakuläre und gern überbewertete Anthology of American Folk Music von Harry Smith, die den Folkies der Sechziger Jahre einen eher beliebigen Hauch von Ahnung vermittelte, welche Schätze amerikanischer Musik es noch zu heben galt. Im Großen und Ganzen beruhigend ist die Beobachtung, dass sich die folkloristischen Bluesaufnahmen der Amateure und Nebenberufssänger stilistisch doch nicht allzu sehr von denen der – allerdings meist viel elaborierter und trickreicher spielenden – Professionellen unterscheiden. So ist es auch nicht nötig, heutzutage einen Scheinwiderspruch zwischen beiden Phänomenen zu installieren, wie es noch die Folkpuristen der Sechziger gerne taten. Mit dem Ergebnis übrigens, dass seinerzeit einige Sänger eine recht profitable Mimikry entwickelten. So trat das Schlitzohr Lightnin' Hopkins im Rollkragenpullover und mit Zupfgitarre in einen Hörsaal, um sich als Folknik mit Sonnenbrille abfilmen zu lassen. Zu sehen auf der DVD 502 von Yazoo.
Auch Big Bill Broonzy, der damals schon eine heftige Rhythm-&-Blues-Phase hinter sich hatte, stellte seine elektrische Gitarre hin, verbreitete die Behauptung, er sei der letzte echte Bluesmann, der die letzten vierzig Jahre auf den Baumwollfeldern verbracht habe, und wandelte sich stracks zum akustischen Edelzupfer. Sein Kollege Josh White hatte schon vorher mit Witz und Geschmack den Folkie gegeben und auch Brownie McGhee und Sonny Terry kamen aus ihren Theaterklamotten, die sie bei den umjubelten Tennessee-Williams-Aufführungen von Cat on a Hot Tin Roof am Broadway trugen, lebenslang nicht mehr heraus. Sogar der bekennende Elektriker John Lee Hooker lieferte ein paar Folkblues-Alben ab, nicht einmal seine schlechtesten. Auch Muddy Waters hatte noch 1960 ein Folksinger-Album aufgenommen, obwohl er längst ein ausgefuchster Elektrogitarrist war. Deswegen bleibt festzuhalten, dass auch im Blues eine gewisse Skepsis allem gegenüber geboten ist, was sich als »urig«, »ehrlich« und »bodenständig« verkauft.
Ein weiteres ideologisches Konstrukt dürfte übrigens auch die in den Sechziger Jahren so beliebte Bluessession gewesen sein. Bei weitem nicht jeder, der da im Studio oder auf offener Bühnen auf die anderen Anwesenden losgelassen wurde, mochte wirklich mit ihnen den Blues spielen. Wer Ohren hat, der hört das selbst noch in den Aufnahmen. Die Geschichte der medialen Inszenierung des Blues von den...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titelbild
  2. Über dieses Buch
  3. Einleitung: Blues – die Mutter (fast) aller Pop-Musik
  4. Kapitel 1: Die Anfänge
  5. Kapitel 2: Frühe Dokumente
  6. Kapitel 3: Die Zentren des Blues
  7. Kapitel 4: Die anderen Regionen des Blues
  8. Kapitel 5: Die ersten Stars
  9. Kapitel 6: Vorkriegs-Blues
  10. Kapitel 7: Feldforscher, Field Recordings, Produzenten
  11. Kapitel 8: Nachkriegs-Blues
  12. Kapitel 9: Blues Revivals
  13. Kapitel 10: Blues in Europa und überall
  14. Kapitel 11: Blues heute
  15. Kapitel 12: Crossroads to Nowhere
  16. Kapitel 13: Ten Years After
  17. Anhang
  18. Auswahl-Bibliografie
  19. Über den Autor
  20. Über Fuego
  21. Impressum